Читать книгу Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad - Страница 39
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Die Schule wird nun also umziehen. Er ist mit dem Rad zu dem neuen Gebäude gefahren, das im Gebüsch oben bei Hovseter liegt, und hat versucht, die Gründe für alle Veränderungen im Leben zu verstehen. Warum suchen wir sie, und was wollen wir damit? Auch Mads ist unsicher. Der Freund ist ein ebenso großer Zweifler wie sein Vater. Weil er Fragen stellt, untergräbt er das Bestehende. Er kann sich nicht am allgemeinen Jubel darüber beteiligen, dass Oberstleutnant John H. Glenn dreimal den Erdball umrundet und eine Höhe von 260 Kilometern über der Erdoberfläche erreicht hat. Wieso denn jubeln? German Titow ist das doch schon siebzehn Mal gelungen. Aber die Amerikaner schaffen es, aus Glenns Raumfahrt ein Ereignis zu machen, einfach weil er Amerikaner ist. In den Nachrichten ist es eine größere Sensation, dass ein Amerikaner es dreimal um die Erde schafft, als dass ein Russe viele Monate vorher siebzehn Mal um denselben Planeten geflogen ist.
»Wir müssen die USA weiterhin kritisch sehen«, sagt Mads, als wir das letzte Mal an der Straßenbahnhaltestelle Smestad stehen, ehe die Schule nach Hovseter verlegt wird und wir widerwillig unsere Arena für die Diskussionen weltpolitischer Gegebenheiten verlegen müssen.
»Warum?«, frage ich, während ich meinen Teil des frischgekauften Weißbrotes auskratze, ehe ich endlich in der Straßenbahn nach Hause die Zähne in die knusprige braune Kruste schlage.
»Die belügen uns«, sagt Mads. »Bei Laika hat Chruschtschow uns die Wahrheit gesagt. Wir haben erfahren, wie schrecklich das alles war. Sie werden für sie ein Denkmal aufstellen. Aber was haben die Amerikaner mit Enos und Ham gemacht? So getan, als wären das hochqualifizierte Generäle?«
Die Melancholie steigt langsam in ihm auf. Beim bloßen Gedanken an den Schimpansen Ham, das erste menschenähnliche Wesen, das ein Jahr zuvor ins All geschossen wurde. Bilder von Ham, wie er mit dem NASA-Helm auf dem Kopf auf dem kleinen Schleudersitz hockt. Die vielen Schläuche, die in seinen Körper hinein- und aus seinem Körper herausführen. Die Leitungen. Die Riemen. Vater war außer sich gewesen, Mutter noch mehr, als sie las, wie das kleine Tier abgerichtet worden war, um auf einfache Herausforderungen zu reagieren. Wenn Ham die Wünsche der Menschen erfüllte, bekam er Bananenpellets. Wenn er versagte, bekamen seine Füße kleine Elektroschocks verpasst. Monatelang waren sechs Schimpansen abgerichtet worden, um die Belastungen einer Raumfahrt zu ertragen. Dennoch wurde Ham bei seinem Flug 14,7 G ausgesetzt, 3 G mehr als geplant. Die Rakete beschleunigte zu stark und brachte das Mercury-Redstone-Fahrzeug auf eine Geschwindigkeit von 5857 Meilen in der Stunde, mehr als 1400 Meilen schneller als berechnet. Dort oben, allein im Weltraum, musste Ham einfache Operationen durchführen, die durch weiße und blaue Warnlämpchen angekündigt wurden. Er hatte das jetzt im Blut. Wenn er etwas falschmachte, kamen unweigerlich die Elektroschocks.
Aber Ham machte nichts falsch. Er kehrte auf die Erde zurück, er lag auf seinem Schleudersitz und drückte dem Kapitän des Bergungsschiffes die Hand. Dann wanderte er an Deck umher und begrüßte alle. Lächelte mit seinen liebenswürdigsten Grimassen. Dankte ihnen für alles, was sie für ihn getan hatten, dafür, dass er noch am Leben war. Er konnte ja nicht sprechen.
Das konnte Enos auch nicht, als er mit der Mercury-Atlas 5 in eine Umlaufbahn geschossen wurde, nur wenige Wochen vor Glenns Triumphzug. Ich hatte nachts von ihnen geträumt, war in diesen Raumkapseln, als die Trägerrakete gezündet wurde. Die gewaltige Flamme, die unter den Motoren hochschoss. Die Erschütterung auf dem Weg in den Weltraum. Die total Stille dort oben. Den Menschen auf diese Weise ausgeliefert zu sein. Nicht sprechen, seine Gefühle nicht äußern zu können.
»Uns ausgeliefert«, sagte Mads.
Die Bilder von Glenn, auf denen er im offenen Wagen zum Capitol in Washington fährt, während die Menschen am Straßenrand jubeln und winken. Das Siegeserlebnis. Das Gefühl der Überlegenheit. Aus einem zweiten einen ersten Platz zu machen. So zu tun, als führten die USA im Wettlauf um das All. Gottes auserwähltes Volk.
Ich glaube, ich kann Abel lachen hören, wie er da auf unserem Sofa sitzt und sich mit Schokolade vollstopft.
Ich dagegen spiele noch immer den Rechtshänder.
Es ist der letzte Besuch bei Fräulein Ätschbätsch. Wenn die Schule am 26. März umzieht, kann niemand von mir verlangen, mit der Straßenbahn zum Haus im Wald zu fahren. Niemand weiß, was sie nun machen wird. Sie haben in dem neuen großzügigen Gebäude offenbar nicht einmal eine kleine Kammer für sie reserviert.
Das versetzt mir einen Stich. Werde ich sie denn wirklich vermissen? All die idiotischen Versuche, aus mir einen besseren Menschen zu machen. Ihre verfehlten pädagogischen Methoden, die trotzdem dazu geführt haben, dass ich ihre Hände liebgewonnen habe, wenn sie mich festhielten. Ihre Wärme. Ihre Milde und ihr unbeschreibliches Alter. Sie war nicht mehr meine Lehrerin. Ich war ihr Schüler, und ich fühle mich bei diesem letzten Mal verantwortlich dafür, ihr ein Gefühl von Erfolg zu geben, ein Gefühl, dass das Leben einen Sinn hat, sogar mitten in allem Unsinn. Sie steht in der Tür und wartet schon auf mich. Umarmt mich, als wäre ich ihr Sohn.
»Sind wir wirklich am Ende des Weges angekommen?«, fragt sie mit einem müden Lächeln.
»Das sind wir wohl«, sage ich.
»Dann schreib für mich«, sagt sie. »Du bist der beste Schüler, den ich jemals hatte.«
Zum letzten Mal in meinem Leben schreibe ich mit der rechten Hand. Ich schreibe so schön, wie ich nur kann. Es ist, als ob sich in mir etwas umstülpt bei jedem einzelnen Buchstaben. Aber ich schreibe. Ich schreibe. Und ich weiß, wenn ich mich entscheiden müsste, entweder mit der rechten Hand zu schreiben oder gar nicht, dann würde ich Letzteres wählen. Denn das Gefühl dabei ist so entsetzlich, dass ich es nur damit vergleichen könnte, durch den Mund zu scheißen und mit dem Hintern Würstchen zu essen. Aber ich mache weder das eine noch das andere, und mit der rechten Hand will ich auch nicht schreiben. So sehr hasse ich es. Mir stehen Tränen in den Augen, aber Fräulein Ätschbätsch sieht es nicht, denn sie weint ebenfalls. Aber es sind Freudentränen.
»Dass du das wirklich geschafft hast, mein Junge!«
Ja, dass ich das wirklich geschafft habe, denke ich, ohne begriffen zu haben, dass dieses Gefühl keine einzigartige Erfahrung ist. Es wird sich wieder und wieder einstellen, später im Leben. Es wird die Lüge nach einem misslungenen Konzert sein, einem vergeudeten Arbeitstag, einer Eroberung, zu der ich kein Recht hatte.
Sich tüchtig zu lügen.
Ja, gerade da, beim letzten Mal im Haus im Wald, war ich der tüchtigste Junge der Klasse. Da schrieb ich mit der rechten Hand. Da gab ich vor, alle Aufgaben zu meistern. Sie hatte es sich so sehr gewünscht, zwei lange Jahre hindurch.
Dem Vater grauset’s, er reitet geschwind, Er hält in den Armen das ächzende Kind, Erreicht den Hof mit Müh’ und Not, in seinen Armen das Kind war tot.
Ich schrieb Goethes gesamten Erlkönig auf Deutsch ab. Dieser entsetzliche Todesritt. Der Vater, der das, was sein Sohn sieht und hört, nicht sehen und hören kann, während er das kranke Kind auf dem Weg zum Schloss in den Armen hält. Die Unwissenheit des Vaters. Die Ohnmacht. Die starken Arme, die ihm keine Hilfe sind. Er hält den Sohn in den Armen, kann aber dessen Gedanken nicht aufhalten. Seine Sinne. Seine Gefühle. Als das Kind endlich tot war, stand ich auf und zeigte Fräulein Ätschbätsch mein Werk. Sie schlug die Hände zusammen, überwältigt von der Schönschrift, ausgeführt mit den passenden Derwent-Buntstiften. Jeder einzelne Buchstabe hatte seine Farbe bekommen, nicht die von Fräulein Ätschbätsch, sondern meine eigenen. Das meeresblaue A. Das braune B. Das weiße C. Das gelbe D. Das E, noch weißer. Das graubraune F und das stahlblaue G. Das rote A. Das kupferfarbene H. Erlkönig.
»Das ist ja prachtvoll«, sagte sie.
»Ja, es ist ganz hübsch geworden«, gab ich zu.
Alles, was sie nicht wusste. Ich würde jetzt ihre Welt verlassen. Aber anders als das kranke Kind in Goethes Gedicht würde ich weiterleben. Nur alles, was sie mir so energisch beigebracht hatte in diesen beiden Jahren würde ich begraben.
Der Stolz in ihren Augen. »Ja, du warst ein ungewöhnlich tüchtiger Schüler«, sagt sie. »Möge es dir im Leben gut ergehen.« Jetzt wein nicht wieder, denke ich. Wein jetzt bloß nicht. Du hast doch eben erst geweint.
Aber wir weinen nicht, weder sie noch ich. Stattdessen umarmen wir einander. Sie ist so alt und müde. Einen Moment lang denke ich, dass ich im Schatten des Todes stehe.
Dann verlasse ich das Haus im Wald. Sie steht in der Tür und ist die Hexe aus dem Märchen. Erst jetzt, da ich weiß, dass ich sie niemals wiedersehen werde, geht mir auf, dass sie unersetzlich ist. Denn wo gibt es ein Märchen ohne Hexe? Wo gibt es ein Leben ohne Widerstand oder Gegenpole? Wo gibt es eine Gesellschaft ohne Personen, die lehren und helfen wollen? Und wo gibt es Menschen, die sich nicht nach etwas oder jemandem sehnen, um sich davon zu befreien?