Читать книгу Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad - Страница 29

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In der Nacht träume ich von Laika. Aber ehe ich träume, denke ich an Chruschtschow, der in einer Rede gesagt hat: »Gagarin ist durch das All geflogen, aber er hat dort keinen Gott gesehen.« Das erschreckt mich eigentlich nicht. Es passt zu dem, was Vater denkt, auch wenn er an eine »höhere Intelligenz« glaubt, wie er sagt. Dennoch ist es so einsam, sich den Sternenhimmel als leeren Raum vorzustellen. Nur Kälte und Frost oder gewaltige Hitze. Laikas Leiche, die in dem kleinen Raumfahrzeug ihre Runden dreht. Was hat sie gedacht, als sie dort in der Kapsel lag, ganz allein, und das gewaltige Gebrüll der Trägerrakete hörte, die Beschleunigung, die Erschütterungen, und danach die große Stille draußen in dem dunklen Raum? Ich lebe mich in diese Situation hinein, genauso, wie ich mich in die Gaskammer in San Quentin hineingelebt habe, wieder und wieder. Ich sitze angeschnallt auf dem Stuhl und höre das leise Tropfen der tödlichen Zyanidkapseln, die in den Säurebehälter unten am Stuhl tropfen. Das Blausäuregas steigt auf und hüllt mich in einen unsichtbaren Nebel. Aber ich sterbe nicht! Ich sitze nur da! So, wie Laika dagelegen haben muss, stundenlang, während sie versuchte, aufzustehen. Was ihr nicht gelang, wegen der Riemen. Wo waren die Kinder, mit denen sie einige Tage zuvor gespielt hatte? Wo waren die Menschen, die, früher oder später, die Kapsel öffnen und sie herausholen würden, wie sie das bisher immer getan hatten? Während ich in der Gaskammer sitze, bin ich schon tief in meinem Traum, und zugleich unendlich weit draußen im Weltraum. Nun sehe ich, wie Gagarin vorüberkommt, langsam, in seiner eigenen Kapsel. Sein Gesicht im Raumanzug. Der riesige Helm. Die Mikrofone auf jeder Seite des Mundes. Er versucht zu lächeln. Aber gleich hinter ihm kommen meine Eltern. Erst Mutter in ihrer eigenen Kapsel. Und sie lächelt nicht. Sie starrt vor sich hin. Ich rufe: »Mutter! Mutter! Ich bin auch hier! Siehst du mich nicht? Sieh mich an! Schau nach links, Mutter!« Und dann kommt Vater, ebenfalls in einer eigenen Kapsel. Und er sieht mich. Er sieht durch mich hindurch. Er ist tot! So tot wie Laika! Schon nach wenigen Sekunden ist er in der unendlichen Dunkelheit verschwunden. Aber dann kommt Tormod. Er sitzt ebenfalls in einer kleinen Kapsel. Er hat einen Raumanzug und Mikrofone, und er lebt! Er sagt etwas zu mir. Er versucht zu erklären. Klopft an das Fenster. Erzählt er mir, wie ich hinauskommen kann? Aber ist es nicht lebensgefährlich, die Luke zu öffnen? Ist das nicht der sichere Tod? Er schüttelt den Kopf. Da sehe ich seine Hände. Auch er will die Luke öffnen. Wir müssen das gemeinsam machen, signalisiert er. Na gut, dann tun wir das! Gemeinsam! So, wie wir in diesem Leben vieles gemeinsam machen! Natürlich. Tormod und ich werden überleben. Ich öffne die Luke. Ich krieche aus der kleinen Kapsel. Werde ich jetzt schweben? Mit Tormod zusammen schweben? Werden wir zurechtkommen, obwohl Vater tot ist und Mutter wie versteinert um den Erdball kreist, wieder und wieder? Vielleicht können wir auch ihre Kapsel öffnen. Sie hinaus in die Freiheit holen, in den großen Raum, wo uns niemand erreichen kann.

Wir gleiten aus der Kapsel, Tormod und ich. Ich strecke die Arme aus, mache mich bereit zum Fliegen. Tormod tut es mir nach. Es ist wie bei der Eurythmie in unserer Schule. Die großen, unförmigen Körper. Jetzt sind wir noch größer, das verdanken wir den Raumanzügen. Aber wir sind doch nicht schwerelos! Wir sind betrogen worden. Wir fallen und fallen. Hilflos sind wir. Ach und weh! Wir fallen zur Erde. Auf das große blaue Meer zu. Es kitzelt in meinem Bauch. Ich versuche es mit Brustschwimmen, aber keine Bewegung hilft.

In der Schule steht Ledsaak bereit, um uns von Luzifer zu erzählen, der dort oben im Himmel saß, zusammen mit Gott und dem Erzengel Michael. Luzifer war nicht schlecht, sagt Ledsaak. Er war in vieler Hinsicht sympathisch, aber er war von sich eingenommen und stolz. Er wollte sich an Gottes Stelle setzen. Er konnte nicht begreifen, warum seine Kenntnisse und Fähigkeiten nicht so sehr geschätzt wurden, dass alle in ihm den wahren Anführer erkannten. Er wollte der Beste sein und diese Verantwortung übernehmen. Deshalb forderte er Gott heraus, und es kam zum Krieg im Himmel.

Der Erzengel Michael bekämpfte Luzifer. Danach setzte er sich an Luzifers Platz.

Luzifer selbst stürzt in die Finsternis und wird von nun an seine vielen Talente und seine reizende Persönlichkeit einsetzen, um die Hölle zu organisieren mit hilfreicher Unterstützung von Mammon und Beelzebub.

Wir hören Ledsaak zu, wie er dort steht und mit großer Anteilnahme von den Engeln erzählt. Etwas an der Art, wie er redet, bringt mich dazu, Luzifer zu mögen. Jedenfalls bekomme ich eine Gänsehaut, als ich dort mit einem blanken weißen Blatt sitze und mit Wasserfarben Luzifers Sturz in die Hölle malen soll.

Soll Gott dann Kennedy sein? Oder Chruschtschow?

Aber an dieser Schule sollen wir nicht so konkret sein. Deshalb male ich einen Engel mit schwarzen Flügeln. Er ähnelt niemandem besonders. Er stürzt in brodelnde Lava.

Beim Malen betritt ein weiterer Lehrer das Zimmer.

Er ist strenger als Ledsaak. Zusammen mit Ledsaak hat sich die Klasse gefunden. Es gibt viel Spaß und Vergnügen. Aber jetzt wird es still. Der Lehrer soll Ledsaak etwas ausrichten, aber während die beiden miteinander tuscheln, schaut der andere Lehrer zu meinem Tisch herüber.

Er sieht, dass ich mit der linken Hand male.

Ich versuche zu wechseln. Blitzschnell. Aber es ist zu spät. Er kommt auf mich zu. »Hab keine Angst«, sagt er.

»Ich habe keine Angst«, sage ich.

Dann steht er da, ohne etwas zu sagen. Ich versuche, mit der rechten Hand zu malen. Das geht nicht gut. Alles verschwimmt. Luzifer ist ruiniert. Gott ebenfalls. Das ganze Bild ist zerstört. Der Lehrer geht zu Ledsaak zurück. Sie sprechen leise miteinander.

Zwei Stunden später gehe ich wieder über den Platz zum Haus im Wald. Fräulein Ätschbätsch wartet schon auf mich. Sie hat offenbar mit jemandem geredet. Sie packt meine linke Hand. »Das ist Luzifer«, sagt sie.

»Ach so«, sage ich.

Dann packte sie die andere Hand. »Und das ist der Erzengel Michael.«

Langsam begreife ich. Es gibt das Gute und das Böse, auch in meinem eigenen Körper. Jetzt muss ich gegen das Böse kämpfen, sonst wird es mir schlecht ergehen.

Fräulein Ätschbätsch beugt sich über mich. Packt meine rechte Hand, während ich schreibe. Macht mit großen Bewegungen Buchstaben, sodass die Fingerknöchel weiß werden: »Wieder und wieder. Wieder und wieder. Sprich mir nach, rhythmisch und kraftvoll. Luzifer und Michael. Luzifer und Michael. Wieder und wieder. Wieder und wieder.«

Die Welt, die meine war

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