Читать книгу Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad - Страница 32

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Ich bewundere Präsident Kennedy inzwischen heimlich, vor allem wegen seiner Frau. Sie hat einwandfrei Audrey Hepburn-Qualitäten. Aber das sage ich niemandem. Verdammt. Er hat aber auch etwas an sich. Dieses verführerische Lächeln, das zu einem gewissen Punkt in Erinnerungen an Onkel Kjell übergeht. Und ich mag Onkel Kjell, den rauchenden Pianisten, der mit einem Orchester Rhapsody in Blue gespielt hat. Außerdem ist da etwas in seinem Blick, das mich an guten Tagen an unseren Lehrer denken lässt, an Sam Ledsaak. Der Blick ist so offen. So direkt. So freundlich und vertrauensvoll. Nicht alle Menschen haben so einen Blick. Ich weiß noch nicht, dass es Präsident Kennedy wirklich gelingen wird, die ersten Menschen auf den Mond zu bringen, ehe das Jahrzehnt, das wir beide die sechziger Jahre nennen, zu Ende geht. Aber das klappt nur haarscharf, mit einer Frist von fünf Monaten. Dann »weilt er nicht mehr unter uns«, wie Tante Svanhild sagen würde. Dann ist er schon seit sechs Jahren tot.

Aber jetzt schreiben wir 1961. Er lebt noch. Und hat Probleme in seinem eigenen Land. Gottes auserwähltes Volk. USA. Amerika. Die Vereinigten Staaten. Aber dort leben sehr unterschiedliche Volksgruppen. Die Schwarzen und die Weißen sind zwei davon. Welche von ihnen ist auserwählt?

Abel kommt auf dem Motorrad angesaust. Leah sitzt hinten. Sie ist gewachsen. Ist schlanker. Attraktiver. Das versetzt mir einen Stich. Sie trägt eine kurze Hose und ihre Oberschenkel sind braun. Ihre schwarzen Locken glänzen in der Maisonne. Sonntag in Røa. Sie starrt mich an mit diesem neckenden Blick, als wolle sie sagen: »Jetzt komm schon!« Ich werde sofort rot. Wir sitzen draußen im Garten und trinken Stachelbeersaft von Oma aus Sarpsborg, die eigentlich keine richtige Oma ist, sondern eine Stiefoma. Aber wir tun so, als wüssten wir das nicht, denn wir wollen sie nicht verletzen. Der Saft schmeckt gut, auch wenn nicht genug Zucker drin ist. Aber Zucker bekommen wir durch die Schokolade. Riesige Mengen. Abel ist bester Laune. Er hat am Vortag drei Filme im Kino gesehen und erzählt lebhaft von den schlimmsten Szenen, in denen Menschen Treppen hinunterfallen, ertrinken, aus Wolkenkratzern stürzen, mit dem Flugzeug verunglücken, als sie eigentlich auf dem Weg zur Beerdigung ihrer Mutter sind, oder von ihrem eigenen Vater ins Gesicht geschossen werden. Aber an diesem Tag erzählt er etwas Neues aus den USA und von »Gottes auserwähltem Volk«, wie er noch immer sagt. Und dabei lacht er herzlich. Denn die Juden halten sich doch auch für »Gottes auserwähltes Volk«. »Aber das ist ja alles nur Unsinn«, sagt er. Deshalb weiß ich, dass Abel ironisch ist. Aber oft ist er ernst. Diesmal geht es um die Freedom Rides, Aktionen von Bürgerrechtlern, die die Rassentrennung in Bussen nicht hinnehmen wollen. Darüber haben Vater und Abel in letzter Zeit oft gesprochen. Und Vater und Ulf auch. Ich habe Ausdrücke gehört wie »Ein Appell für die Menschenrechte«. Die Sit-ins legen das Fundament für die gewaltsamen Rassenunruhen in Alabamas Hauptstadt Montgomery, wo weiße Rassenfanatiker versuchen, eine Kirche zu stürmen, in der Pastor Martin Luther King predigen wird. Der Gouverneur verhängt den Ausnahmezustand. Während Kennedy verspricht, dass die Amerikaner innerhalb von zehn Jahren auf dem Mond landen werden, setzen sich schwarze Studenten in Mensen, in Parks, an Strände, in Bibliotheken, in Theater, Museen und andere öffentliche Orte, wo sie sich eigentlich nicht aufhalten dürfen. Ende Mai treffen sie in Jackson, Mississippi ein, benutzen den Wartesaal »nur für Weiße« und setzen sich an die Essenstische in den Kantinen. Ross Barnett, der Gouverneur von Mississippi, sagt, ein »Neger ist anders, weil Gott ihn anders gemacht hat, um ihn zu strafen.«

»Und in diesem Land ist Kennedy Präsident«, sagt Abel und beißt in die Milchschokolade.

Die Schwarzen werden ins Gefängnis gesteckt. Sie werden in kleine, verdreckte Zellen gepfercht. Sie werden zusammengeschlagen. Sie müssen in gleißendem Sonnenschein schuften. Das Gefängnis Mississippi State Penitentiary bei Parchman gehört zu den Schlimmsten. Das Essen für die Häftlinge wird zu stark gesalzen. Die Matratzen werden aus ihren Betten entfernt. Die Fenster werden an besonders heißen Tagen geschlossen, um den Häftlingen das Atmen zu erschweren.

Nicht sitzen dürfen, wo man will? Norwegen wird vielleicht eigene Räume für Linkshänder und Übergewichtige einrichten? Vielleicht müssen wir dann in besondere Straßenbahnwagen steigen? Vielleicht gibt es in Randklev dann einen Ladeneingang nur für uns?

Nicht einmal in der Schule kann man sich noch sicher fühlen. Irgendwann im nächsten Schuljahr wird die neue Schule in Hovseter fertig sein. Ich bin mit dem Rad hingefahren und habe mir oft die Gebäude angesehen. Die Hebekräne und die Bagger. Fräulein Ätschbätsch wird sicher ihre eigene Abteilung erhalten, und dann kommt Lindholm zurück, und auch wenn er uns Kinder gut behandelt, ist er nicht so lustig wie Ledsaak, der uns in den letzten Wochen von Reineke Fuchs und dessen vielen Streichen erzählt hat. Wir haben über die vielen Einfälle des Fuchses gelacht und wurden noch ungezogener, aber Ledsaak hat sich davon nicht aus der Ruhe bringen lassen. Noch ein Jahr wird er bei uns bleiben. Zum ersten Mal denke ich, dass ein Jahr schnell vergeht.

Die Gedanken fliegen, dort draußen im Garten. Leah zupft an einer Wundkruste herum. Sie ist so schön, wenn sie ernst ist. Die dunklen Locken. In diesem Licht schimmern sie plötzlich bläulich, als ob sich hundert Schmeißfliegen auf Leahs Kopfhaut versammelt hätten. Aber das ist ein widerlicher Gedanke. Tormod sitzt neben ihr und zeichnet ihr Profil. Niemand außer Mutter übertrifft Tormod, wenn es um solche Zeichnungen geht. Er hat dieses Talent von ihr geerbt. Mir kribbelt es im Bauch, wenn ich an die Rolle mit Kohlezeichnungen denke, die in ihrem Abstellschrank stehen. Es sind Examensaufgaben von der Kunstschule. Akt-Zeichnungen. Nackte Frauenkörper. Einer ist schwarz. Mutter sagt, an dem Tag hätten noch dreizehn andere im selben Raum gezeichnet. Alle zeichneten dieselben Körper. Die Modelle stellten sich eins nach dem anderen auf. »Warum tun sie sowas?«, habe ich einmal gefragt. »Sie brauchen Geld«, war Mutters Antwort.

Die Haare dort unten. Ich habe in Wirklichkeit noch nie eine nackte Frau gesehen. In unserer Familie sind wir zurückhaltend. Wir schließen die Tür ab, wenn wir ins Badezimmer gehen. Wir stolzieren nicht nackt von einem Zimmer ins andere. Deshalb ist es so unerträglich, zappelnd über Vaters Knien zu liegen, wenn ich Würmer im Po habe.

Ich sehe Mutter an. Wo ist sie mit ihren Gedanken? Sie denkt die ganze Zeit. Legt den Arm um mich, wenn sie merkt, dass ich sie ansehe. Drückt mich an sich. Auch sie hat Locken. Aber ihre sind rot. Außerdem hat sie Sommersprossen. Millionen von Sommersprossen. Ich liebe jede einzelne. Als ich kleiner war, habe ich versucht, jeder einen Namen zu geben. Ich nannte sie Dulle und Krulle und Nipsi und Stipsi. Aber ich kam immer nur bis zur Nummer sieben, dann hatte ich den Namen der ersten schon wieder vergessen.

Eine Familie sein können, denkt er. Die schwarzen Gefangenen in den USA erinnern ihn an den Aufenthalt im Krankenhaus. An die unerträgliche Einsamkeit im Zimmer, wo er mit den anderen Jungen zusammen war. Seine Eltern, die so weit weg waren. Gerade jetzt, im Garten in Røa, denkt er, dass er glücklich ist. Er erinnert sich daran, dass er gerade neun geworden ist. Kein schlechtes Alter. Das Geburtstagsfest zu Hause im Melumvei liegt nur wenige Tage zurück. Sie hatten es gut gemeint, aber er hasst Geburtstagsfeste. Wiegenfest, wie sie sagen. Er ist unsicher, was die Gäste angeht, ob die ihn wirklich leiden mögen. Er hasst Ballons und Krepppapier. Die lächerlichen Hüte mit dem Gummi unterm Kinn. Er mag nicht einmal Kuchen. Was soll er mit Sahne, wenn es doch Butter gibt? Selbst Limonade kann ihn traurig stimmen. Das Allerschlimmste sind die Spiele. Wenn sich alle organisieren und nacheinander dasselbe machen müssen. Sechzigmeter läuft er aus purem Trotz. Die albernen runden Pappmedaillen, die die Mutter für diesen Tag gezeichnet hatte. So tief durfte sie doch nicht sinken. Geburtstagsfeste hatten etwas zutiefst Unheimliches. Nur zwei Wochen vorher hatte es ein Fest bei Willen unten im Fådvei gegeben. Zuerst hatte er sich gefreut, denn Willen war etwas Besonderes. Ledsaak hatte einmal Willen und ihn an die Tafel gerufen. Sie sollten ein Spiel üben, oder was das nun eigentlich sein sollte. Ledsaak hatte ihn aufgefordert, den Arm um sie zu legen. Aber er hatte noch nie den Arm um eine Gleichaltrige gelegt. Er wurde »weich in den Knien«, wie Tante Svanhild sagen würde. Es fiel ihm wirklich schwer, sich auf den Beinen zu halten. Sie stand so dicht neben ihm. War so zierlich. So schön. Das größte Wunder war, dass sie es ihm erlaubt hatte. Sie hatte ihn sogar angelächelt, ehe sie losgekichert hatte.

Unvergesslich.

Deshalb kam er mit dem Gefühl, fast ein Auserwählter zu sein, auf das Fest. Willen hatte ihn nie verspottet. Das hier würde gutgehen. Aber dann ging es einfach nur schief. Sie sollten Jagd nach einer verschwundenen Tafel Kvikk Lunsj machen. Die befand sich ganz hinten in einem langen Tunnel, den Willens kreative Eltern angelegt hatten, vom Garten in den Keller, und von dort weiter zur hinteren Toilette. Dorthin sollte man kriechen und die Schokolade dem wütenden Troll entreißen, der offenbar dort unten saß. Er stellte sich an der Warteschlange an und sah, wie die, die vor ihm an die Reihe kamen, im Tunnel verschwanden und wieder auftauchten, verängstigt und schreiend, aber mit einer Tafel Kvikk Lunsj in der Hand.

Dann war er an der Reihe.

Er kroch durch die Dunkelheit, während ihn die anderen draußen im Garten anfeuerten. Sein Herz hämmerte, und er war nicht so mutig, wie er erwartet hatte. Warum hatten die anderen alle so verängstigt ausgesehen, als sie wieder zum Vorschein gekommen waren? Was erwartete ihn am Ende des Tunnels?

Eine geschlossene Tür. Dahinter war die Kvikk Lunsj. Das bedeutete, dass er die Tür öffnen musste, obwohl er dahinter einige bedrohliche Geräusche hörte.

Das hier war das Kellerklo des Hauses. Er mochte Kellerklos nicht. Bei den Großeltern in Sarpsborg stand das Klo in einem kalten Raum, in dem es immer nach Schimmel roch. Außerdem hing der Spülkasten ganz oben an der Wand und er musste an einer Schnur ziehen. Scheußlich. Aber egal. Ihm war jedenfalls klar, dass er die Tür öffnen musste, wie alle anderen es auch getan hatten.

Aber als er die Klinke packt und die Tür aufmacht, sieht er dahinter eine erwachsene Person auf dem Klo sitzen. Es ist dieselbe widerliche Konstruktion wie in Sarpsborg, mit dem Spülkasten ganz oben an der Wand. Und das Monster auf dem Klositz ist rot angezogen. Es ist der gemeinste Weihnachtsmann, den er je gesehen hat. Und der sitzt da und bewacht die Kvikk Lunsj-Tafeln, die zwischen seinen Beinen liegen, und schreit, nein brüllt, als er ihn sieht. Ein Ungeheuer! Eine schrecklich beängstigende Person! Ein böses, grauenhaftes Lachen. Der widerliche Bart aus Stahlwolle. Nie im Leben wird er es wagen, die Hand auszustrecken und sich eine Kvikk Lunsj vom Boden zu nehmen. Er schwebt hier in Lebensgefahr. Er macht kehrt und stürzt davon.

Als er ins Licht entkommt, warten schon alle auf ihn. »Wo ist denn deine Kvikk Lunsj?«

Er kann keine Antwort geben. Fleht sie mit Blicken an, nicht zu lachen.

Aber sie lachen. Natürlich lachen sie, alle. »Bist du wirklich so ein Angsthase? Das ist doch bloß Willens Papa.«

Als ob er aus einem Traum aufwacht. Warum hat er daran gedacht? Noch sitzen Abel und Leah im Garten. Noch liegt der Arm der Mutter um seine Schultern. Noch scheint die Sonne. Noch zeichnet Tormod das Profil dieses Mädchens, das für sie beide fast wie eine Schwester ist. Ist er in sie verliebt? Warum nicht? Zwölfjährige haben offenbar starke Gefühle. Er sehnt sich nicht danach, älter zu werden. Er will da sein, wo er gerade jetzt im Leben steht. Auf den großen Flächen, die nur seine Arena sind. An den Orten, die er mit dem Rad erreichen kann, oben in Richtung Brunkollen. Das Gestrüpp, in dem er sich verstecken kann.

Und als er das gerade denkt, hört er den Hubschrauberlärm.

An einem Sonntag, staunt er. Ist das nicht der Ruhetag? Hubschrauber sind nichts für normale Menschen. Sie sind für Generäle und Soldaten. Hubschrauber fliegen fast nie über ihre Gegend. Sie sind böse, sie haben Bomben. Atombomben diesmal?

Seltsamerweise fürchten sich weder Leah noch Tormod. Sie sitzen da wie früher, in Positionen, die wie ein Bild sind, das er selbst von seinem Bruder malen könnte, während der Leah zeichnet. Abel schaut auf. Also kommt da nicht irgendein beliebiger Vogel angeflogen.

Schmeißfliegen.

Da ist wieder diese Assoziation. Er hat doch eben erst an sie gedacht. Ob das eine Vorahnung war? Seine Mutter hat dauernd Vorahnungen. Und sie verabscheut Requien in der Musik. Immer, wenn sie eins gehört hat, ob nun von Verdi oder von Mozart, stirbt gleich danach jemand, behauptet sie.

Nur, weil sie zugehört hat?

Nun kommen also, nur weil er an Schmeißfliegen gedacht hat, Hubschrauber am Himmel angeflogen?

Dieses schreckliche monotone Dröhnen. Das langsame Crescendo. Und jetzt sieht er sie. Ungefähr über Fossumbakkene. Es sind drei. Eine Formation. Sein Magen krampft sich zusammen, seine Mutter merkt es und drückt ihn fester an sich.

»Keine Angst, Ketil. Das sind doch nur Hubschrauber.«

»Die werden genau über uns wegfliegen. Die nehmen uns mit, Mama!«

Mama?, denkt er, sowie er das gesagt hat. Er sagt doch immer Mutter. »Aber Ketil, die sind nicht gefährlich.«

Er hört die Stimme des Vaters. Aber der Lärm der Hubschrauber ist jetzt ohrenbetäubend. Nichts, wo man sich verstecken kann. Die Mutter und die Großmutter im Krieg. Sie liefen über ein Feld. Hatten nichts, wo sie sich verstecken konnten. Die deutschen Jagdflieger kamen im Tiefflug und schossen auf sie. Deshalb hasst sie die Deutschen noch heute. Die Mutter ist nachtragend. Auch wenn sie der liebste Mensch auf der Welt ist. Sie vergisst nicht so schnell.

Er vergisst auch nicht, worüber der Vater mit Ulf gesprochen hat, oben auf dem Dachboden in der Bygdøy allé. Ein Tag wird kommen. Ja, genau das haben sie gesagt. Und vielleicht ist heute dieser Tag!

Er kann nicht mehr. Auch wenn er sie alle liebt und mit ihnen zusammen sterben will, will er auch leben. Noch ein bisschen jedenfalls. Er springt auf und rennt davon. Die Hubschrauber sind jetzt genau über dem Grinidam. Jetzt geht es um Sekunden.

Er reißt die Kellertür auf. Dort unten ist es unheimlich, aber jetzt lässt er es darauf ankommen. Es ist zu weit zum nächsten Luftschutzraum, oben bei der Haltestelle Røa. Er kann nur hoffen, dass die anderen hinterher kommen. Ohne die Mutter ist das Leben nicht lebenswert. Die Mauern beben. Jetzt sind sie genau über ihm. Jetzt können sie schießen.

Er legt beschützend die Arme über den Kopf. Er kneift die Augen zusammen und denkt an Pilze. An den großen Pilz. Den Atompilz. Der allem das Leben nimmt.

Dann wird alles weiß.

Die Welt, die meine war

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