Читать книгу Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad - Страница 34
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Alles wurde so traurig. Auch der Sommer wurde traurig. Die Hütte bei Sandefjord war schön. Aber auch dieses Plumpsklo war voll von alter Kacke. Es gab Fliegen und Bremsen. Und jeden Nachmittag, nach den üblichen Regenschauern, wenn alles nass war, bestand Vater darauf, zum Angeln hinauszurudern. Dann musste er sein Hörgerät an Land lassen. Normalerweise dachte ich nur selten daran, dass Vater nicht nur hinkte, sondern auch taub war, wenn er nicht sein großes Hilfsmittel benutzte, das Knäckebrot, wie wir das nannten, was er in der Brusttasche seines Hemdes befestigte. Dieses Hilfsmittel hatte eine Leitung zum Ohr hoch, die er auf allerlei Weisen zu verstecken versuchte, was aber nie gelang. Vater war ein tapferer Mann. Als ihm aufging, dass er taub und lahm war, war ihm auch klar, dass er sich einen Beruf suchen musste, der möglichst wenig Kommunikation mit anderen verlangte.
Chemieingenieur.
Aber dann bekam er das Hörgerät doch in den Griff und musste sich viel mehr anhören, als er sich je hatte träumen lassen. Und nun wurde er wieder aufgeschlossener anderen gegenüber, zu Mutters großer Erleichterung.
Aber noch immer kann ihn etwas von der alten Abwesenheit überkommen. Vor allem, wenn er vor sich hinrudert. Woran denkt er? An die Atombombe, die kommen und uns alle umbringen wird? Oder denkt er an seine Mutter, die gestorben ist und ihn und alle vier Kinder zurückließ, als er zwei Jahre alt war? Ab und zu holt er Bilder von ihr hervor und zeigt sie uns. Ob sie ihm wohl fehlt? Weint er um sie, wenn er glaubt, dass wir es nicht sehen? Wir haben ein wenig ein schlechtes Gewissen, wenn wir uns die Bilder seiner eigentlichen Mutter ansehen, während wir an die Großmutter denken, die also nicht die echte ist, aber doch so echt, dass sie ihn großgezogen hat. Es fällt uns schwer, uns Vater als Kind vorzustellen. Er ist doch so groß. Und Mutter sagt, dass er immer schon so war. Deshalb heißt er Bjørnstad. Mutter heißt eigentlich Martinsen. Aber sie ist doch nicht die Tochter von Martin, sondern von einem Mann, über den sie nie sprechen, obwohl er viele Jahre lang in Stummfilmen, die in den Kinos von Fredrikstad gezeigt wurden, Geige gespielt hat. Die Großmutter spielte dazu Klavier. Das alles sind Geschichten, die in einen undurchdringlichen Schleier aus Vergangenheit gehüllt sind. Ich kann sie dort nur mit Mühe erkennen, in einer Zeit, die mehr und mehr Licht verliert, während die Tage vergehen. Wer soll sich daran erinnern, wenn ich eines Tages anfange, sie zu vergessen? Und das denke ich, obwohl Mutters Mutter ja noch gar nicht tot ist. Sie kommt mir nur so alt vor, wie sie da in ihrer kleinen Wohnung in Gressvik sitzt, wenn wir zu Besuch kommen, und nach Luft schnappt, während sie alle zehn Minuten ein kleines Spray hervornimmt und sich den Mund damit duscht. »Asthma«, sagt Mutter.
Es ist der Sommer, in dem ich an einem Seil hinter dem Boot herschwimmen darf. Vater rudert und rudert. Tormod hält Ausschau nach Quallen. »Ein bisschen rechts! Ein bisschen links!«
Ich liege mitten im Kielwasser. Vater rudert mit rhythmischen Bewegungen. Die ganze Zeit trage ich den Schwimmgürtel. Warum ein Leben ohne Schwimmgürtel leben? Wenn alle Schwimmgürtel benutzten, würde niemand ertrinken. Ich habe Vater gegenüber diese Theorie erwähnt, und er versuchte, ein ernstes Gesicht zu machen, während er nachdenklich nickte. Ich bin trotzdem nicht sicher, was er wirklich meint.
Wenn wir zur Angelschäre kommen, senken wir die Angelschnüre ins Wasser. Es dauert nie sehr lange, bis ein Fisch anbeißt. Aber meistens ist es die falsche Sorte. Streifenlippfisch. Hornhecht. Petermännchen.
Igitt! Spitze und giftige Flossen. Schleimige Haut. Und danach sollen wir einige von diesen armen Geschöpfen auch noch essen. Liegt es daran, dass ich Linkshänder bin, dass wir dauernd unnormale Fische an der Angel haben?
Nur ausnahmsweise kommt ein Seelachs oder Kabeljau, aber nie der Wittling, von dem Vater träumt, den er in seiner Jugend in Skjebergkilen gefangen hat. Das waren noch Zeiten. Da biss der Fisch nach zwei Sekunden!
Was hat der Sommer an sich, das mich so misstrauisch macht? Wenn ich hier hinter dem Ruderboot hertreibe, denke ich, dass sie einen Außenbordmotor haben könnten, und der würde stehenbleiben, ganz plötzlich, ich aber würde auf meinem Fett weiterschwimmen und mit dem Kopf gegen den Propeller knallen. Ich weiß nicht, dass der amerikanische Astronaut Virgil Grissom fast gleichzeitig vor Cape Canaveral fast im Meer ertrunken wäre. Ich weiß auch nicht, dass Grissom einige Jahre später in der Apollo I verbrennen wird. Feuer, Erde, Wasser, Luft. Manche haben Glück. Andere sind vom Pech verfolgt. Grissom, der am 21. Juli in die Höhe schoss, nachdem der Start zweimal verschoben worden war. Auch diesmal gibt es Probleme. Es stellt sich heraus, dass einer der Bolzen im Kapselverschluss der Mercury-Redstone 4 nicht richtig sitzt. Aber da es neunundsechzig solcher Bolzen gibt, beschließen die Ingenieure von McDonnel und NASA, trotzdem grünes Licht zu geben. Beim Start ist Grissom nervös. Die ersten Sekunden können fatal sein. Als Grissom merkt, dass die Rakete Tempo gewinnt, wird er ruhiger.
Grissom soll 187 Kilometer Höhe erreichen, ehe er wieder zur Erde zurückfällt. Er spürt die Vibrationen und spricht mit seinem Kollegen Shepard unten auf der Erde, der das alles schon erlebt hat. Das Raumschiff rotiert, aber später übernimmt Grissom manuell die Kontrolle über die Kapsel. Er sieht den Horizont der Erde. Er sieht den blauschwarzen Himmel. Er sagt zu Shepard, es sei schwer, sich zu konzentrieren. Das Universum sei so schön.
Sechzehn Minuten später landet die Kapsel vor Florida im Meer. Die Liberty Bell treibt im Meer und hat stark Schlagseite nach links.
Grissom hat das Gefühl, das Raumschiff schwimme auf dem Kopf. Große Hubschrauber, die das Landegebiet umkreist haben, nähern sich der Kapsel. Plötzlich löst sich eine Luke. Das Wasser strömt herein. Grissom kann im letzten Augenblick entkommen und fängt an, um sein Leben zu schwimmen. Er trägt ja nicht gerade eine leichte Badehose.
Ein Schwimmgürtel, denke ich, als ich später in Aftenposten über diese Aktion lese. Ein Schwimmgürtel wäre ihm eine große Hilfe gewesen.
Ich habe eine Theorie, so, wie Vater seine Theorien hat. Auch Mutter hat manchmal Theorien. Aber dann lese ich auch, dass Grissom, anders als vor ihm Shepard, nicht zu Kennedy ins Weiße Haus eingeladen wird. Kennedy kann Verlierer nicht leiden, denke ich. Natürlich hätte Nixon Präsident werden sollen.
Allein mit Tante Svanhild im Sommer-Oslo. Alle anderen sind noch in den Ferien. Tormod ist mit seinen Freunden zusammen. Vater und Mutter sind bei der Arbeit. Der Traum von Frogner. Tante Svanhild und ich könnten ein perfektes Paar sein. Wir sehen gern zusammen fern. Die vielen Nachrichten. Die nervöse Stimmung. Es ist so viel die Rede von UdSSR und USA.
»Warum nur diese Länder?«, frage ich. »Das sind die größten«, sagt sie.
»Was ist mit Afrika? Was ist mit China? Was ist mit Indien?«
Sie weiß keine Antwort. Aber ich sehe, dass sie überlegt. »Manchmal ist es einfach so«, sagt sie. »Die Sieger nehmen alles.« Aber sind sie Sieger?
Wir sehen eine Sendung über den sowjetischen Balletttänzer Rudolf Nurejew. Wir sehen uns sein Bild an. Er sieht russisch aus. Da ist irgendetwas mit seinem Aussehen. Er wird niemals amerikanische Steaks mit Ketchup essen oder Mitzi Gaynor in einer romantischen Musical-Szene küssen, denke ich. Die Zeiten sind nicht so. Obwohl Chruschtschow und Kennedy gelächelt hatten, bis sie fast einen Kieferkrampf bekamen, als sie sich in Wien trafen, kann ich an diese Jovialität nicht glauben. Das Fernsehen zeigt Bilder von einem Flugplatz. Der Kommentator erklärt, das sei Le Bourget bei Paris. Dort geschah das Drama. Der dünne Tatar, der in der Nähe von Irkutsk geboren worden war. Seine Kindheit in Armut, als das jüngste von vier Kindern, in der Stadt Ufa. Er musste ohne Schuhe zur Schule gehen, denn seine Eltern konnten ihm keine kaufen. Im Winter trug er die alte Jacke seiner großen Schwester. An dieser Stelle der Sendung fängt Tante Svanhild an zu weinen. »Armer Junge«, sagt sie wieder und wieder, während sie sich die Augen mit einem bestickten Taschentuch abtupft, das sie jedes Mal, wenn sie es benutzt hat, in eine Handtasche steckt. Ich bemerke, dass sie sich ein Glas Sherry extra einschenkt. Als ob dieser Nurejew in ihr einen Funken entzündet hätte. Als ob sie eigentlich gern etwas mit ihm hätte. Ein widerlicher Gedanke, aber er muss dennoch gedacht werden. Bilder von Nurejew, der in Paris französische Kollegen trifft. Danach wichtige Sowjetpolitiker in Hut und Mantel. Sie sehen besorgt aus. Das Kirow-Theater ist auf Tournee. Als Kennedy sagt, dass die Amerikaner den Wettlauf um das All gewinnen werden, müssen die Kommunisten im Osten mit dem antworten, was sie wirklich können: Ballett. Klassisches Ballett. Männer im Trikot, die Frauen mit bloßen Händen hochheben und herumwirbeln wie Pfannkuchen. Nurejew ist einer dieser Männer. Aber dort, auf dem Flugplatz, haben die Kommunisten Lunte gerochen. »Sie ahnten schon, dass Nurejew mit dem Gedanken spielte, abzuspringen«, sagt der Fernsehkommentator.
»Was bedeutet, abspringen?«, frage ich Tante Svanhild. Sie prustet los und läuft dann knallrot an. »Entschuldige«, sage ich.
»Nein, um Himmels willen«, sie lächelt. »Ich war nur mit meinen Gedanken woanders. Abspringen bedeutet einfach, dem furchtbaren kommunistischen Regime entkommen. Verstehst du das, mein Junge? Nur Steckrüben und gekochte Kartoffeln zum Essen. Hunde, die zu Tode gequält werden. Und das im Lande Tschaikowskis. Hast du dir das schon mal überlegt? Eugen Onegin. Bestimmt hat Alfhild dir diese Arie vorgesungen …«
Sie fängt an zu summen mit dieser seltsamen Stimme, die in einer Mansarde ganz oben in ihrem Kopf wohnt, und die ein Vibrato besitzt, das drei Etagen überspringt, und zwar mit einem wahnsinnigen Satz. Als spiele Onkel Bjørn mit seinem Lachen auf der Säge.
»Ja, die kenne ich«, sage ich leise und versuche gleichzeitig, mitzubekommen, was im Fernsehen passiert.
»Ja«, sagt Tante Svanhild triumphierend. »Da tanzt er doch den Schwanensee. Wieder Tschaikowski.« Sie summt weiter. Aber plötzlich sind wir wieder auf dem Flugplatz Le Bourget. Wir sehen ein sowjetisches Flugzeug mit Soldaten und anderen Wachen. Nurejew soll eigentlich mit dem Kirow-Ballett weiter nach London, um neue Triumphe zu feiern. Aber jetzt lächelt Chruschtschow nicht mehr. Nurejew soll zurück nach Moskau und damit basta. Die ganze Ballett-Truppe wird nach Hause befohlen.
Nurejew, umringt von sowjetischem Botschaftspersonal und Sicherheitswachen. Nun rennt er plötzlich auf eine Gruppe von französischen Polizisten zu und ruft: »Helft mir! Ich will frei sein!«
Nurejew ist in den Westen abgesprungen. In die große Enklave der Freiheit, zwischen Diktatoren, Folterknechte und Hundemörder. Ich sehe, dass Tante Svanhild bewegt ist, während Nurejew im Schutz von einem Dutzend französischer Gendarmen dasteht und winkt. Kusshände wirft. Er weiß nur zu gut, wie schön er ist, denke ich.
Ich schaue vorsichtig zu Tante Svanhild hoch. Warum ist sie so hingerissen? Hat sie noch nicht gesehen, dass Chruschtschow Ähnlichkeit mit Onkel Birger hat? Und jetzt ist Chruschtschow traurig.