Читать книгу Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad - Страница 42

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Kundgebung mitten in Oslo. Ulf ist zur Stelle. Tormod und ich ebenfalls. Seit drei Tagen wird im Parlament über § 93 diskutiert. Der neue Paragraph, der die Regierungsgewalt an internationale Organe übertragen kann, wenn drei Viertel der Abgeordneten das beschließen.

Die erste große Debatte über die EU. Die aber einstweilen Gemeinsamer Markt heißt. Und EWG.

Wir sehen die großen Transparente: »Für die UNO, gegen Blockbildung!«, »Ein unabhängiges Norwegen ist ein starkes Norwegen!«, »Kein Gemeinsamer Markt!«, »Fragt das Volk!«

Aber weder Vater noch Ulf stehen diesmal in der ersten Reihe. Sie stehen am Rand, während sie sich die vielen Reden anhören, die nacheinander gehalten werden. Dort steht Bürgermeister Lars Sulheim, der von den Bauern in Gudbrandsdalen grüßt. Dort steht Oskar Lindberget, der in so wichtigen Fragen eine Volksabstimmung fordert. Der Zimmermann Ragnar Kalheim, ein Gewerkschaftsmann, warnt vor der unwürdigen Blockbildung, die von Moskau, dem Gemeinsamen Markt und Washington angestrebt wird. »Sozialismus auf Norwegisch!«, wird zu seinem wichtigsten Schlagwort. Dann tritt Karl Evang auf. Der Gesundheitsminister. Ich habe heimlich über ihn gelesen. Er hat ein Buch geschrieben, von dem mehr als 120 000 Exemplare im Umlauf sind. Dort sagt er angeblich, Onanie sei gesund. Aber ich weiß nicht, was Onanie ist, und ich will es auch nicht wissen. Ich weiß nur, dass weder Mutter noch Tante Svanhild dieses Wort in den Mund nehmen würden. Evang ist ein Mann, den Vater bewundert, auch wenn er seltsam unsicher wirkt, als er ihm zuhört. Evang lobt die Demonstranten und sagt, sie hätten eine Volksbewegung ins Leben gerufen, die quer zu den alten Trennlinien agiert. Er dankt auch dem Lohn- und Preisminister Gunnar Bøe, dem grundsoliden Politiker aus Bergen, der viele Jahre später als Sowjetspion mit dem Decknamen Mono entlarvt werden wird. Aber noch weiß niemand, dass er zwei Jahre zuvor angeworben worden ist. Seine Hauptaufgabe ist es, über die Entwicklung der NATO-Verteidigungspläne im Westen zu berichten. Als Bezahlung für diese Informationen wird er zwischen Februar 1961 und Februar 1963 mehr als 110 000 norwegische Kronen erhalten. Er wird sich von diesem Geld ein Haus und ein Grundstück kaufen. Er wird in der Debatte über die EWG eine abweichende Meinung vertreten und die Regierung verlassen. Aber das weiß noch niemand an diesem Tag im März, als Vater und Ulf, vertieft in ein leises Gespräch, die Demonstration verlassen. Vater ist ausnahmsweise einmal nicht sicher, ob er auf der Seite der Demonstranten steht. Mehrmals hat er in letzter Zeit darüber gesprochen, dass der Gemeinsame Markt dazu beitragen kann, den Frieden in Europa zu sichern. Ich selbst habe keine Meinung. Das Wichtigste für mich ist im Moment, dass Ende des Monats die Waldorfschule in den neuen Palast in Hovseter ziehen wird.

Es schneit, wie immer Ende März, wenn die Krokusse glauben, der Frühling sei da. »Reingefallen«, sagt Gott und bläst seinen eiskalten Stahlatem über Ostnorwegen. Da stehen wir, die 23 handverlesenen Musikanten, Vertreter eines fernen, aussterbenden Volkes, mit Baskenmützen und roten Schärpen, aber dennoch stolz, als wir von der Straßenbahnhaltestelle in Hovseter losmarschieren zu rhythmischen Schlägen des Trommel-und-Becken-Battaillons. Anton ist bei uns. Seine leise Autorität wird tiefe Spuren hinterlassen. Man muss nicht immer schreien. Aber da steht ja auch noch Bürgermeister Rolf Stranger zusammen mit Angehörigen der Schulleitung. Der Geschäftsführer von Hanssen & Bergh AS, Spezialisten für Arbeitskleidung, Hemden und Sportkleidung. Er ist ein gebildeter Mann mit Hut und Zigarre. Groß und elegant. Ein bisschen wie Onkel Sigurd. Vielleicht wusste er, dass der eigentliche Gründer dieser Schule die Zigarettenfabrik Waldorf Astoria in Stuttgart betrieben und, als Handreichung für die Arbeiter, die Waldorfschule Uhlandshöhe gestiftet hatte. So gesehen, war es die Weiterführung einer soliden Proletarier- und Arbeiterschule, die er jetzt zusammen mit den anderen am Waldrand in Hovseter eröffnete. Die Gegend gefiel mir. Die Flieger, die in den weißen Blocks wohnten. Flyvei. Landingsvei. Luftfartsvei. »Warum nicht Absturzweg und Bombenweg?«, fragte Mads. »Natoweg? Atomversuchsweg? General von Schweinehund-Weg?« Wir machten Witze über die großen Dinge, wir beide. Mads spielte nicht mit in der Kapelle. Er stand da und sah zu, während wir vorübermarschierten und spielten, dass es nur so widerhallte. Vor der Blindenschule standen die Blinden und winkten uns zu. Die Frau des Theaterdirektors, Karin, die die Uniformen entworfen hatte, lief zwischen uns hin und her und passte auf, dass Mützen und Schärpen nicht verrutschten.

Neue Schule. Neue Fenster. Neue Böden. Ein riesiger Eurythmiesaal mit einem alten Bechstein-Flügel, den Klavier-Smith mit seinem sanften Anschlag in Betrieb nahm. Ist man das Beschwerliche jetzt wohl los, überlege ich. Oder wird auf dem Schulhof weiterhin »Uääääh!« gebrüllt? Aber sicher doch. Da sind sie alle. Die mit den seltsamen Gesichtern. Die mit kurzen starren Haaren. Die, über die wir uns lustig machen, ohne dass sie das merken. Die, die uns in Verlegenheit stürzen, wenn sie die Arme um uns schlingen und uns reizende Dinge sagen. Aber das Haus im Wald ist nicht mehr da. Fräulein Ätschbätsch ist nicht mehr da.

Alles hier ist feierlicher. Als wäre die Schule von Helge Sivertsen und dem Kirchen- und Unterrichtsministerium entworfen. Ja, als wäre Einar Gerhardsen persönlich hier gewesen und hätte das Resultat für gut befunden. Der Ministerpräsident mag keine Privatschulen. Er findet sie zutiefst suspekt. Dennoch durften Ledsaak, Lindholm, Borgen & Co bauen. Ich gehe in das neue Klassenzimmer. An der Wand hängen keine Bilder. Nur Ledsaak steht da mit vielsagendem Lächeln und wartet auf uns.

»Ist das nicht schön, Leute? Sollen wir dann mal loslegen?«

Wenn es zu viel wird, klettert er auf den Sprungschanzen nach ganz oben. Es gibt so viele davon. Sie stehen nach der Wintersaison nur da, bleich und schwerfällig am Waldrand. Er liebt den Frühling über alles. Aber der Frühling ist auch so traurig. Das Licht ist scharf. Vielleicht mag er ja doch den Herbst lieber, wenn der Sommer in Dunkelheit versinkt. Er mag den ersten Schneegeruch. Nicht den letzten. Er mag auch den Geruch von nassem Asphalt, der in der Sonne trocknet. Den schmutzigen Geruch von winterlichem Kies, ehe die Kehrwagen kommen. Was er nicht mag, ist zu sehen, wie das Laub im Garten an dem nassen Gras klebt. Bald wird der Vater sagen: »Raus zum Harken, Jungs!« Dann liebt er seine Mutter, die Gärten hasst, Apfelbäume und alles, was verpflichtet. Er fährt mit dem Rad nach Fossumbakkene hinaus, klettert das schwankende Gestell hoch, bis er oben ist. Warum ist er der Einzige auf der Welt, der das hier entdeckt hat? Sprungschanzen müssen im Frühling benutzt werden, im Herbst und im Sommer, wenn es keinen Schnee gibt, wenn keine Skispringer da sind, wenn in der gesamten Anlage keine Menschenseele zu sehen ist. Ganz oben starrt er über die Bahn und weiter zum Sägewerk. Er schaut hoch zum Holmenkollbakken, dem großen, berühmten, der noch einschüchternder wirkt, wenn man ihn schräg von hinten sieht. Dann legt er sich auf die kalten Bretter. Verliert sich in Träumen. Denkt an 101 Dalmatiner, den er zusammen mit Tante Svanhild im Saga-Kino gesehen hat, an ihrem Geburtstag, dem dritten Weihnachtstag. Die 101 Dalmatiner, die von Cruella de Ville bedroht werden, der Frau mit den langen Nägeln. Die sich einen Pelz wünscht. Was an diesem Film hat ihn so stark berührt? Er hat ihn schon mehr als fünfmal gesehen, traut sich aber nicht, das Mads zu erzählen. Er hat eine kindliche Ader. Zeichentrickfilme sind Traumwelten. Er will darin sein. Er hat das Gefühl, Musik zu hören, wenn er oben auf einer Sprungschanze liegt und zum Himmel hochschaut. Dort oben denken alle anderen, dass sie nach unten müssen, in wahnsinnigem Tempo die Schanze hinuntersausen und treffen, sich nach vorn beugen und so elegant wie möglich nach unten kommen, noch dazu an der richtigen Stelle. Sie wissen nicht, wozu Sprungschanzen gut sind. Das hier ist doch eine Festung, denkt er. Und wenn er sich aufrichtet, kann er fast bis nach Hause in den Melumvei schauen. Das Haus, aus dem sie vielleicht bald ausziehen werden, denn das hat der Vater gesagt. Er hasst Veränderung! Gerade jetzt hat er das Gefühl, dass er anwesend ist in seinem Leben. Bei den anderen sieht es nicht so gut aus, beim Vater, der in der großen Frage des Gemeinsamen Marktes schwankt, bei der Mutter, die sich an die französischen Romane von Françoise Sagan verloren hat. Sie hat über Bonjour tristesse gesprochen. Jetzt spricht sie über Lieben Sie Brahms? Er versucht schon lange, herauszufinden, worum es in diesen Filmen geht, und es macht ihm Sorgen, dass sie so melancholisch sind. Einmal fand er im Bücherregal ein Buch, es war die Vorlage zu Bonjour tristesse, hatte auf Norwegisch aber einen anderen Titel. Er war gerade allein im Haus. Allein zu Hause zu sein ist fast wie oben auf einer Sprungschanze zu liegen und in den Himmel zu schauen. Allein das Geräusch des Airedale Terriers Pet, der in regelmäßigen Abständen über den Fußboden im ersten Stock tapst, wo Familie Bruun wohnt. Das Geräusch von Hundepfoten und Krallen, wenn sie auf das Parkett treffen. Er stand vor dem Bücherregal im Wohnzimmer und fing an zu lesen. Nach zwei Seiten konnte er das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Die Autorin war erst achtzehn, als sie die Geschichte der siebzehn Jahre alten Cécile schrieb, die den Sommer mit ihrem Vater und dessen Freundin an der französischen Riviera verbringt. Der Vater, Raymond, hat offenbar »das Leben ausgekostet«, wie Tante Svanhild sagen würde, und Cécile ist daran gewöhnt, dass er immer neue Frauen anschleppt. Ihre Mutter ist nicht da, ist vielleicht tot. Er versteht diesen Teil der Geschichte nicht ganz. Aber als plötzlich eine andere Frau auftaucht, Anna Larsen, beginnt das Drama. Cécile versucht, Männer im Alter ihres Vaters zu verführen, um zu überspielen, wie jung und unsicher sie sich fühlt. Dann lernt sie Cyril kennen, der nur ein paar Jahre älter ist als sie. Die Beziehung zwischen den beiden wird zur Katastrophe. Das Drama dreht sich allerdings eher um die beiden Frauen, die um Raymonds Gunst wetteifern. Für welche er sich entscheidet, wird auch für Cécile Folgen haben. Schon mitten im Buch ist ihm klar, dass die Geschichte mit dem Tod enden wird. Aber wer wird sich am Ende das Leben nehmen?

Er liest mit großen Augen und bekommt Bauchschmerzen. Genau davor hat er doch Angst, dass im Leben der Eltern eine neue Person auftaucht. Eine gefährliche Person, eine, die sie zum Streiten bringen kann. Sie sind doch so oft unterwegs, und er weiß nicht, was sie dann machen, auch wenn sie sagen, dass sie zur Arbeit müssen. Aber was ist Arbeit? Etwas war seltsam an der Mutter, damals in der Oper. Ihr fröhliches Lachen. Wie oft hatte er das zu Hause im Melumvei gehört? Und der Vater, als ihnen beim Weihnachtsfest im Ingenieursverein seine finnische Freundin begegnet ist. Wurde er da nicht sehr seltsam? Sah nicht auch die Mutter ziemlich verbissen aus? Ein Mensch kann kommen und alles zerstören. Genau davon handelte Bonjour tristesse. Und die Mutter las so eine Geschichte, und dann ging sie ins Kino und sah sich die Geschichte an, mehrere Male sogar. Ihr seltsames Nähkränzchen, mit der Freundin Rigmor, seiner Patentante, die als Sekretärin beim Orchester der Philharmonischen Gesellschaft arbeitete. Und dann die eleganten Namen mit den vornehmen Nachnamen. Biong und Føyn. So einen Nachnamen hätte Tante Svanhild haben müssen, nicht das ziemlich gewöhnliche Svensen. Sie sahen so geheimnisvoll aus, diese Frauen, die zwar kein Weißbrot in den Haaren hatten, aber die immer erst vor kurzer Zeit beim Friseur waren. Sie treffen sich in Villen überall in der Stadt. Er darf nicht einmal an der Tür horchen, wenn sie im Melumvei tagen. Was ist so gefährlich? Haben sie allesamt Liebhaber? Wenn sie laut lachen, lachen sie dann über ihre Männer? Und der Vater bleibt respektvoll auf Distanz, wenn diese Treffen in seinem Haus stattfinden. Dann liegt er meistens im Keller auf dem Rücken und repariert ein undichtes Rohr oder flickt den Kokskoben. Die schwarzen Klumpen, die man nicht anfassen kann, ohne selbst schwarz zu werden. Der Vater kommt nach oben, wenn die Damen gerade gehen wollen. Das ganze Gesicht schwarz vor Koks. Das kreischende Lachen in der Diele. Der Vater sagt, er werde sofort duschen. Dann lachen die Damen noch mehr. Aber ist es nicht ein freundliches Lachen? Auch wenn der Vater lahm und taub ist und ohne Hörapparat nicht zurechtkommt, hat er Glück bei den Frauen. Das ist dem Sohn schon oft aufgefallen. Der Vater und die Schauspielerin Liv Dommersnes auf dem Hof der Huseby Schule. Sie teilten die Wahllisten der Freien Wählergruppen aus. Zwischen den beiden knisterte die Luft. Die berühmte Schauspielerin beugt sich zu den beiden Jungs herunter und sagte: »Wisst ihr überhaupt, was ihr für einen phantastischen Papa habt?« Er hatte das abends der Mutter erzählt, als sie nach Hause kamen. Sie hatte sich offenbar nicht darüber gefreut. Dennoch ist die Mutter ein Mensch, der sich gern freut. Oder nicht? Er liegt oben auf Fossumbakkene und beschwört sie in seinen Gedanken herbei. Die Art, wie sie summend durch die Zimmer geht. Sie summt sogar, wenn sie sich über den Fototisch beugt und retuschiert. Vielleicht hat sie auch gesummt, als sie die nackten Frauen mit Kohle gezeichnet hat? Aber das waren ja nicht nur Frauen. In der anderen Rolle, die sie nur ungern vorzeigt, und die er sich heimlich angesehen hat, als er einmal allein zu Hause war, gab es auch nackte Männer. Sogar einen Neger hatte sie gezeichnet. Einen nackten Neger mit einem Geschlecht von Atombombengröße. Warum hatte sie den zeichnen müssen? Und was hatten sie zueinander gesagt, als er da stand und sich für sie entblößte, und sie da saß, hoffentlich »die Beine überkreuz«, wie es aus irgendeinem seltsamen Grund hieß. Die Mutter und der Neger. Er läuft rot an, wenn er nur daran denkt. Jetzt hat er endlich begriffen, was Leah damit gemeint hatte, dass er einen »stehen« hatte. Was, wenn dem Neger damals plötzlich auch einer gestanden hätte? Was, wenn seine riesige Atombombe direkt auf sie gezeigt hätte, bereit zum Abschuss? Was, wenn sie keine Wahl gehabt hätte? Kann der Vater deshalb manchmal so traurig aussehen, und die Mutter so weit weg wirken, wenn sie vor dem Radio sitzt und sich in der Musik ertränkt, sich weit weg träumt? Es ist sein großer Albtraum, dass die Eltern sich trennen könnten. Das darf nicht passieren. Er ist in diese Familie hineingeboren. In dieses Drama darf jetzt keine Finnin kommen, keine Schauspielerin vom Nationaltheater und kein Neger aus Afrika. Hier sind alle Rollen längst zugeteilt worden.

Die Welt, die meine war

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