Читать книгу Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad - Страница 40

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Ulfs Dachboden. Ich stehle mir eine Scheibe von dem, was »normales Brot« genannt wird. Dazu gute Butter und Salami. Tubenmayonnaise, die auf der Zunge zergeht. Die beiden Freunde und Aktivisten studieren den ersten großen Aufruf gegen den Gemeinsamen Markt. Insgesamt haben 143 Frauen und Männer unterschrieben. Und unter diesen Menschen finden wir die Schriftsteller Johan Borgen, Finn Carling, Tarjei Vesaas und Aksel Sandemose. Außerdem den NRK-Journalisten Rolf Kirkvaag und den Juristen Torstein Eckhoff.

»Natürlich haben sie recht«, sagt Ulf und grinst, während er ein Glas Milch trinkt. »Sie verweisen auf 1814, 1905 und 1940. Ein Volk hat sich zu einer Gemeinschaft zusammengeschlossen. Die Entscheidungen wurden uns nicht aufgezwungen wie in alten Feudalzeiten. Sie kamen vom Volk selbst. Natürlich können wir nur, wenn wir unsere politische Freiheit bewahren, die demokratischen Ideen in unserem Bereich sichern und dazu beitragen, dass diese Ideale sich in der Welt durchsetzen. Der Gemeinsame Markt ist eine Totgeburt, so lange er undemokratisch ist und von oben her gelenkt wird.«

»Aber bist du dir da sicher, Ulf?«, fragt Vater. »Geht es nicht auch darum, auf europäischem Boden dauerhaften Frieden zu sichern?« Ulf schüttelt den Kopf. »Aber begreifst du nicht, dass es absolut nicht darum geht, Per? Jedenfalls nicht um Frieden. Es geht um Geld.«

Ach, Vater, denke ich.

Als ob Vater sich immer den schwierigsten Weg aussucht. Den Zweifel. All die schwierigen Fragen.

Ich will mir die leichtesten nehmen.

Aber Vater ist eben so. Wenn er einen Gedanken gedacht hat, muss er zugleich einen anderen Gedanken denken. Später im Leben werde ich begreifen, dass das Dialektik genannt wird. Aber jetzt kommt es mir so vor, als nähme er den schweren grauen Rucksack auf sich, der seine Haltung ganz besonders krumm macht. In der Politik passiert alles so schnell und so langsam zugleich. Plötzlich steht in Dagbladet, als Ende März der Schnee schmilzt, dass in Algerien ein Waffenstillstand unterzeichnet worden ist nach einem Krieg, der sieben Jahre, vier Monate und achtzehn Tage gedauert hat. Zugleich reagiert die OAS mit einer Kriegserklärung an die FLN und startet eine grauenhafte Terrorwelle in Oran und Algier.

Hier können Vater und Ulf nichts ausrichten, denke ich, auch wenn sie auf dem Dachboden sitzen und neue Nein-zu-Atomwaffen-Demonstrationen planen und Pamphlete drucken, die Ulf auf der Straße verteilt oder in Briefkästen steckt. Es ist die Zeit der großen Kundgebungen, und der Gymnasiastenverband von Drammen lädt den Pastor Bjarne Eriksen und den Prediger Åge Samuelsen zu einer Diskussion mit dem Atheisten Arnulf Øverland ein. Vater liebt Øverland. Immer, wenn wir durch den Schlosspark gehen, kommen wir an der gelben Villa vorbei, der Künstlerwohnung, in der er seine großen Gedichte schreibt. »Du sollst das Unrecht, das dich selbst nicht trifft, nicht so wunderbar gut ertragen.« Vaters Lebensmotto. Und Mutter findet, man könnte alles übertreiben. Wie dann, wenn die Landfahrer durch den Melumvei ziehen und ihre Waren ausrufen. Dann holt Vater Butter und Knäckebrot, während Mutter ohnmächtig zusehen muss. Am liebsten würde er diese Leute ins Haus bitten, sie in unseren Betten schlafen lassen, während wir uns im Zelt im Garten zusammenkauern. »Nein«, sagt Mutter. »Nein!« Aber er scheint sie nicht zu hören. Plötzlich sitzen sie alle auf der Treppe, und Vater diskutiert mit ihnen über die großen Weltprobleme. Aber auf dem Podium in Drammen steht Arnulf Øverland vor einem vollbesetzten Saal, vor über tausend Menschen, und draußen vor großen Lautsprechern hören noch viele hundert mehr zu. Wieder hält der Große Dichter, König Olavs einziger Skalde und nächster Nachbar, seinen umfassenden Vortrag: Das Christentum, die zehnte Landplage, der ihm schon 1931 eine Anklage wegen Blasphemie eingebracht hat, doch er wurde freigesprochen, nachdem er sich vor Gericht selbst verteidigt hatte. Diesmal hält er seinen Vortrag begleitet von Halleluja-Rufen. Øverland weiß nicht, welchen Gegner er im Ekstatiker und Jubelprediger Samuelsen hat, der mit seiner ganzen Gemeinde in Drammen aufkreuzt. Halleluja! Während Øverland über den Gottesbegriff Gericht hält, diesen Mann mit »viel Haar, vor allem Bart«, er, der Nase und Mund und Darmkanal hat. Vielleicht auch Geschlechtsorgane? Øverland verbreitet sich über die heiligsten Rituale des Christentums, den Kinderglauben, der uns eingeprügelt wird. Das Abendmahl, zum Beispiel. Dass wir Gottes Leib essen und sein Blut trinken sollen. Øverland nennt das »widerliche, kannibalische Magie«, ein Ritual, das es möglich macht, sich so ungefähr jede Schandtat zu erlauben, wenn man danach zu Gott betet. Wenn man nur glaubt und getauft ist. Øverland steht auf dem Podium und speit seine Verachtung für diese Rituale und Zwangsvorstellungen aus. Seine Sprache ist reich an Konsonanten, schließlich ist er in Kristiansund und in Bergen aufgewachsen. Der alte tuberkulöse Kommunist, der sich nach Stalins Politik in den dreißiger Jahren neu orientieren musste, und der während des Krieges im Gestapo-Hauptquartier in der Møllergate sowie in Grini und Sachsenhausen gesessen hat. Für Øverland ist das Christentum Gefasel. Die Geistlichen können von ihm aus ihren Unfug treiben, aber was ist mit uns anderen? Øverland geht es darum, dass man bei den Gläubigen nicht an die Vernunft appellieren kann. Die Dummheit ist unsterblich. Er meint, dass religiöse Illusionen vor hundert Jahren auch bei ansonsten vernünftigen Menschen verbreitet waren. »Aber jetzt bestehen die Gemeinden vor allem aus verkorksten Eigenbrötlern und Trotteln«, faucht Øverland.

»Halleluja«, ruft Samuelsen. »Halleluja«, stimmt seine Gemeinde ein.

Aber bis auf Weiteres lässt sich Øverland nicht aus dem Konzept bringen. Er bläst zur Attacke gegen die Pantheisten und alle, die »nicht an der christlichen Dogmatik festhalten und sich mit einer Art zusammengerührter Milchsuppe als Privatreligion begnügen, bei der Gott zu einem abstrakten, vagen philosophischen Prinzip degradiert ist, einem flüssigen Gelee, das das gesamte Universum füllt (Gott ist alles!). Aber das hilft den Kindern doch nicht. Die gehen in die Schule, lernen biblische Geschichte und Choräle und Katechismus, und das ruiniert ihren Verstand.« Øverland hat sich jetzt in Rage geredet. Er steht auf dem Podium in Drammen und predigt seinen Atheismus zu fast rhythmischen Hallelujarufen: »Neulich fiel mir ein Vers ein, eine Art Poesie, die ich vor 35 Jahren gelernt habe. Ich erinnere mich seit 35 Jahren daran! Es geht so: ›Es wird das Zepter von Juda nicht entwendet werden noch der Stab des Herrschers von seinen Füßen, bis dass der Held komme; und demselben werden die Völker anhangen.‹«

Øverland hebt die Hand. »Das habe ich in der Schule gelernt. Mit diesem Wissen sollte ich für das Leben gewappnet sein.«

»Halleluja«, ruft Samuelsen.

»Nein, hört!«, fährt Øverland fort. »Die christliche Vernunft ist in der Entwicklung stehengeblieben, und die natürliche Wissbegierde wurde ermordet. Hand in Hand mit verblendeter Autoritätshörigkeit gehen ein unüberwindlicher Abscheu vor Erkenntnis, eine wahre Angst vor Tatsachen und eine leidenschaftliche Vorliebe für das Vernunftwidrige.«

»Jesus! Jesus Christus!«

»Also reden wir jetzt über die christliche Sexualmoral!«, ruft Øverland. »So gut wie alle Kirchenväter haben erotische Gefühle als sündhaft bezeichnet. Schönheit und Anmut sind Blendwerk des Teufels, und die Frau ist das Einfallstor Satans …«

»Satan! Jesus! Halleluja!«

»Da ist es den perversen Kirchenvätern wirklich gelungen, die Liebe zu besudeln und die Menschen mit einer solchen Sexualangst zu vergiften, dass das Europa des Mittelalters wirkt wie ein gewaltiges Irrenhaus. Und bis in unsere Zeit hinein werden junge Menschen vor Angst halb verrückt, wenn sie ihren Geschlechtstrieb wahrnehmen. Ja, denkt an die jungen Menschen! Freud hat den neurotischen Charakter des Christentums schon längst nachgewiesen. Wir wissen, dass Kinder, die in einem modernen Kulturmilieu aufwachsen, ihre Jugend nicht hinter sich lassen, ohne eine mehr oder weniger neurotische Phase durchzumachen. Das liegt daran, dass das Kind viele Triebe hat, die es nicht ausleben darf und die es durch die Vernunft allein nicht eliminieren kann. Hört ihr!«

Aber das Publikum im Saal hat schon längst jegliche Vernunft über Bord geworfen. Samuelsen hat seine Gitarre hervorgeholt und angefangen zu singen. Der Gesang übertönt Øverland, der immer verbissener auf dem Podium steht und nicht aufgeben will.

»Oh Jesus, der alles in allen erfüllt. Singt mit! Preiset den Herrn! Jesus hat gesagt, dass er bald kommen wird!«

»Halleluja!«

»Er hat mich erlöst! Was kann die Welt denn ohne ihn ausrichten?« Øverland schaut sich verzweifelt um, während Gesang und Hallelujarufe an Stärke zunehmen. »Die neunte Landplage, die Gott über die Menschen geschickt hat, war eine tiefe Finsternis. Sie lag drei Tage über Ägypten. Die zehnte Landplage war eine Finsternis, die sich über ganz Europa und Amerika ausbreitete und nach 1900 Jahren noch immer vorhanden ist.«

»Halleluja!«, wird aus dem Saal zurückgerufen.

Die Kakophonie nimmt zu. Samuelsen steht mit der Gitarre da und fordert alle zum Mitsingen auf. Nun schüttelt Arnulf Øverland den Kopf, sucht seine Papiere zusammen und verlässt das Podium. Er geht mit rhythmischen Schritten zum Ausgang, während der Rest der Versammlung Gott und Jesus mit Erweckungsrufen und spontanen Gesangsausbrüchen preist. Die Klangwelle wächst zu einem gewaltigen Crescendo an.

Die Welt, die meine war

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