Читать книгу Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad - Страница 38
Оглавление1962
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Ein Auto verfährt sich auf dem Weg nach London. Der Fahrer heißt Neil Aspinall. Im Auto sitzen außerdem vier junge Männer aus Liverpool, die von ihrem Manager Brian Epstein geschickt worden sind. Es ist Silvester 1961, und es ist kalt. Seit fast anderthalb Jahren tritt das Trio John Lennon, Paul McCartney und George Harrison an verschiedenen Orten in Hamburg auf. Ihr vierter Mann, der Bassist Stuart Sutcliffe, wollte irgendwann lieber sein Kunststudium fortsetzen. Aber zu Hause im Casbah Coffee Club hatte Harrison Pete Best entdeckt, den Sohn der Clubleiterin, Mona Best. Zusammen hat das Quartett das skandalumwitterte Stadtviertel St. Pauli in Hamburg erobert. Es ist eine von Seeleuten, Landratten, Prostituierten und Alkoholikern bevölkerte Gegend. Die vier, die sich The Beatles nennen, haben hinter der Bühne des Bambi Kinos geschlafen, und sind im Indra und im Kaiserkeller aufgetreten. Später auch im Top Ten Club auf der Reeperbahn 136. Harrison, der erst 17 war, als sie nach Hamburg gekommen sind, bezeichnete diese Stadt als »the naughtiest city in the world«. Paul McCartney, der nur wenig älter war, sagte, wenn man in Hamburg eine Freundin fände, dann aller Wahrscheinlichkeit nach eine Stripperin. Lennon und Gerry Marsden von Gerry & the Pacemakers hatten ein Bordell in der Herbertstraße besucht, und als sie bezahlt hatten, kam eine Frau, die so groß war wie ein Bus. Sie trug nur einen BH und machte ihnen furchtbare Angst. Die Auftritte dauerten oft vier Stunden, deshalb bekamen die Jungs Preludin und Dexedrin, um sich wachzuhalten.
Neil Aspinall braucht zehn Stunden, um in die Londoner Innenstadt zu finden, gerade rechtzeitig, um die vielen Betrunkenen zu sehen, die trotz der winterlichen Temperaturen in den Brunnen auf dem Trafalgar Square springen. Am nächsten Morgen finden sie sich im Studio von Decca Records in Broadhurst Gardens ein, wo der A&R-Mann Mike Smith schon auf sie wartet. Später wird er Hits für Georgie Fame, die Tremeloes, Marmalade, Love Affair und Brian Poole produzieren. Das Quartett ist während der Aufnahmen sichtlich nervös. Die Lieder werden mit einem zweispurigen Mono-Tonbandgerät eingespielt. A&R-Chef Dick Rowe hatte vor neunzehn Tagen Smith nach Liverpool geschickt, um sich diese neue Band anzuhören, für die der Manager Brian Epstein so heftig Reklame machte. Rowe sollte später die Rolling Stones, Van Morrisons Them, die Moody Blues, Tom Jones und John Mayall & the Bluesbreakers unter Vertrag nehmen. Jetzt sitzt der Assistent Mike Smith im Decca-Studio und hört, dass die Jungs im Studio nicht so gut sind wie auf der Bühne.
Das Quartett fängt an mit seinem eigenen Like Dreamers Do, dann gehen sie über zu Gordy/Bradfords Money und Meredith Wilsons Till there was you. Sie spielen vierzehn Stücke, unter anderem Hello Little Girl, ehe sie mit Leiber & Strollers Searchin enden. Aber nicht alle Lieder werden aufgenommen. Decca hat am Ende eine Rohaufnahme von zehn Stücken. Die Jungs fahren nach Liverpool zurück und Smith setzt sich mit seinem neuen Chef, Dick Rowe, und Ex-Shadow Tony Meehan hin, um sich alles anzuhören.
Einige Tage später trifft bei den Beatles die Absage ein. Decca ist zu dem Schluss gekommen, dass die Gruppe in der Popwelt keine Chance hat. Decca kennt den Markt besser als alle anderen. »Guitar groups are on the way out.« Es wird zudem erklärt, dass die Beatles mit diesem Sound als Gitarrengruppe keine Chance haben. Decca nimmt deshalb Brian Poole und die Tremeloes unter Vertrag.
Brian Epstein beschließt, auf eigene Faust ein Album zu produzieren. Später kann er dann bei EMI und Parlophone einen Vertrag abschließen.
Es ist der Winter 1962. Leonard Bernstein veröffentlicht mit den New Yorker Philharmonikern bei der CBS seine erste Einspielung von Mahlers Dritter Symphonie.
Zu Hause im Melumvei starre ich die Schallplatten an. Vater kann sich weder Fernseher noch Waschmaschine oder Auto leisten, und auch der Kühlschrank war fast schon zu teuer. Aber links vom großen Wohnzimmerfenster stehen ein großes Radio, ein kleiner Plattenspieler und ein braunes Tonbandgerät Marke Tandberg. Es ärgert mich, dass wir nicht Grynet Molvigs Version von Ninon Ninette haben, die ich im Vorjahr bei Tante Svanhild in der Schlagerparade gehört habe. Aber es steht nicht einmal fest, dass es davon eine Schallplattenaufnahme gibt. Außerdem lehnt Mutter Popmusik ab. Sie sieht im Auftreten der 19-Jährigen nicht dieselben Qualitäten wie Tante Svanhild und ich. Wir haben noch immer einen geheimen Bund. Sie kennt die Sängerin Nora Brockstedt, die mit samischer Mütze beim Grand Prix das Lied Voi Voi sang und dabei mit den Händen fuchtelte, als das NRK-Fernsehen noch jung und frisch war. Wir mögen hübsche Mädchen. Hübsche Frauen. Für Tante Svanhild war Farah Dibas Besuch in Norwegen ein Höhepunkt. Das ist fast ein Jahr her, aber noch immer redet sie darüber, als sei es gestern gewesen. Die Fahrt nach Westnorwegen musste abgesagt werden, denn Farah Diba hatte Angst, der viele Regen könnte ihr die Frisur ruinieren. Jetzt stecken sich Mutters bildschöne Kusinen, die alle jünger sind als sie, Weißbrote in die Haare. Ich habe es selbst nicht gesehen, aber Tante Svanhild hat es mir mit geheimnisvollem Lächeln erzählt.
»Die haben wirklich ein Weißbrot in den Haaren, Ketil.«
»Ganz bestimmt?«
Sie zögert. »Naja, ein halbes.«
»Hast du auch Weißbrot in den Haaren?«
»Nein, meine Haare sind nicht lang genug. Und auch nicht füllig genug.« Sie sieht traurig aus. Zugleich ist sie so hübsch mit ihren Löckchen. Ich drücke ihre Hand. Wenn sie zurückdrückt, bekomme ich eine Gänsehaut.
Von jetzt an sehe ich Frauen auf eine andere Weise. Spüre sie auch auf eine andere Weise. Vor allem sehe und spüre ich die mit dem Weißbrot in den Haaren. Die Frisur wird davon so hoch, so ägyptisch, wie Sam Ledsaak sagen würde. Wir zeichnen Pyramiden und Pharaonen in unsere Arbeitshefte. Wir haben die schönen Derwent-Farben, die für strahlende Sonnen, dunkelblauen Himmel und insgeheim für die schönsten Frauen geeignet sind.
Aber was machen sie danach mit dem Weißbrot? Essen sie es auf? Nichts schmeckt leckerer als Weißbrot, das man mit den Händen aus der Kruste puhlt. Aber das Weißbrot muss frisch sein. Man muss die Wärme des weißen Brotes spüren, eine letzte Erinnerung an die gute, warme Geborgenheit im Ofen, als alles aufquoll und seine Form fand. Ich quelle ebenfalls auf, habe aber deshalb nicht das Gefühl, meine Form gefunden zu haben.
Wird die Unruhe von Dauer sein? Ohne es selbst begriffen zu haben, fühlt er sich zu Menschen hingezogen, die älter sind als er. Wie durch ein Wunder wird er bei der Blaskapelle aufgenommen. Die nennt sich Gjallarhorn. Es gibt dort fast keine Mädchen, und das bedauert er. Die anderen in der Kapelle gehen in die fünfte und die siebte Klasse. Es ist umwerfend, dass er mit ihnen zusammensein kann, wo er doch nur in die dritte geht. Er ist stolz, aber auch ein wenig verwirrt. Liegt es nur daran, dass er der Bruder von Tormod ist, dass er neben Bjørn sitzen und Tenorhorn spielen darf? Bjørns Vater ist der Direktor von Det Norske Teatret. Später wird der junge Bjørnstad Theaterrepliken von sich geben. Aber vorläufig schweigt er und sieht zu, wie sein neuer Freund mit grünem Rotz in der Nase spielt. Solche kleinen Popeldinger gibt es auch in manchem Backwerk. Ist es nicht schwer, damit Luft zu holen, denkt er und presst die Lippen gegen das Mundstück. Aber Bjørn ist ein Held. Ein Damenheld mit schmutzigen Fingern, der ganz bestimmt bei Frauen mit Weißbrot in den Haaren Erfolg haben könnte. Er sieht immer aus, als käme er direkt aus dem Dschungel, ein Tarzan, der sich mithilfe von Lianen durch das Unterholz schwingt. Neben ihm zu sitzen ist fast, wie bereits in die sechste Klasse zu gehen. Sie sind dreiundzwanzig Jungen, und das Letzte, was sie in den alten Deutschenbaracken tun, ist, ein Konzert in tiefer Finsternis zu geben. Sie haben keinen Strom mehr, aber im Eurythmiesaal flackern die Kerzen in den viel zu großen Haltern. Ihr Dirigent heißt Anton. Allein dieser Name. Tante Svanhild würde von »volkstümlich« reden. Wenn er die Hände hebt, sollen wir Die Jungen kommen von William Farre spielen. Der Theaterdirektor hat ein feierliches Gedicht geschrieben: »Seht die Jungen kommen, in ihrer fröhlichen Uniform. Sie heben die Instrumente. Oh hört, bald bläst der Sturm …« Er fühlt sich unbehaglich mit der schwarzen Baskenmütze, dem weißen Hemd, der roten Fliege und der ebenso roten Schärpe, der grauen Hose und den blankgeputzten schwarzen Schuhen. Er kommt sich vor wie ein Angehöriger einer vergessenen Volksgruppe, die soeben irgendwo oben im Kaukasus entdeckt worden ist und die vielleicht einen drei Minuten langen Bericht in der Wochenschau verdient hat. Aber Anton, der selbst noch ein Teenager ist, kann die Gesangsstimme aus ihm vertreiben, und übrig bleibt dann nur ein seltsamer Furz, der innerhalb weniger Unterrichtsminuten zu einem mächtigen Ton wächst, zum Tenorhornton. Nicht mehr die traurigen Geräusche, die neue Abgase ankündigen. Sondern eine tiefe, füllige, sonore Stimme.
Klinge ich denn wirklich so?, überlegt er.
Plötzlich kann er seinen Körper ein bisschen besser leiden.