Читать книгу Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad - Страница 41

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Ohne die Mutter ist er nichts. Bevor sie abends nach einer langen Vorstellung in der Oper mit der Straßenbahn kommt, liegt er auf dem Sofa und behält die Uhr im Auge. Er kennt den Fahrplan auswendig. Wenn sie zu spät kommt, konzentriert er sich auf die nächste Bahn. Wenn sie auch darin nicht sitzt, steigen seine Katastrophenvorstellungen wie eine Flut. Er denkt an damals, als er einen Stein auf die Straßenbahnschienen gelegt hat, in der Hoffnung, die Bahn zum Entgleisen zu bringen. Der Straßenbahnfahrer stieg wortlos aus dem kleinen Raum ganz vorn im Wagen und nahm den Stein mit traurigem Gesicht weg. Er kam sich so dumm vor! Aber jetzt denkt er, dass es vielleicht noch andere Verrückte außer ihm gibt, denen es durchaus zuzutrauen ist, dass sie Steine auf die Straßenbahnschienen legen. Vielleicht wird eines schönen Tages die ganze Røa-Bahn entgleisen und umkippen, mitten auf der Husebybrücke, und dann auf den Boden knallen, während die Fahrgäste auf Feld und Wiese hinausgeschleudert werden, ohne dass die Generäle im Gardelager irgendetwas hören, weil sie gerade mit Kennedy in den USA telefonieren und den Atomkrieg vorbereiten, von dem alle wissen, dass er kommen wird. Die Mutter, sterbend im Gras. An ihrem eigenen Blut erstickt. Ihre Augen. Flehend. Sie bitten um Hilfe. Aber wie kann er helfen? Der Blick wird vage und leer. Er beschwört diesen Augenblick herauf, badet im großen Meer der Angst, das größer ist als der Stille Ozean, bis er dann aufstehen und zum Fenster gehen muss, zur Haltestelle hinüberstarren, sehen, dass die letzte Bahn aus der Stadt kommt. Ein kleines Schluchzen, wenn er ihre schöne Gestalt erblickt. Sie ist noch keine vierzig. Sie könnte sich ein Weißbrot in die Haare stecken. Aber sie hat Locken. Sie und Tante Svanhild sind seine engsten Vertrauten hier im Leben. Er fällt ihr um den Hals, als sie endlich in der Diele steht und kleine Pralinen mitgebracht hat, die ihr die dankbaren Sänger geschenkt haben.

Es ist doch ihre Aufgabe, auf die Sänger aufzupassen, ihnen den Text zuzuflüstern, wenn sie ihn vergessen. Die Mutter sitzt in dem kleinen schwarzen Soufflierkasten. Manchmal darf er im Saal sitzen und sie hören. Und dann würde er am liebsten in die Hände klatschen und bravo rufen.

Immer, wenn in dem großen Saal der Oper das Licht ausgeht, schaut er zu dem riesigen runden Kronleuchter hoch. Im Halbdunkel ist er am schönsten. Die kleine Sekunde, in der alle Farben, die eben noch vorhanden waren, davonlaufen und sich in der Dunkelheit verstecken. Das ist sein Augenblick. Dann kommt der Dirigent, Arvid Fladmoe, der aussieht wie ein Freund von Chruschtschow. Die dunklen Haare. Irgendwie östlich. Eine andere Art von Freundlichkeit. Nicht die anbiedernde amerikanische. Und dann, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, kommt die Ouvertüre. Don Giovanni. Ihm wird innerlich eiskalt. Bald wird er einen Menschen sterben sehen. Der treulose, gemeine Don Giovanni betrügt Donna Elvira, Donna Anna und Zerlina. Der lustige Diener Leporello, der Buch über alle Eroberungen führt und feststellt, dass sein Herr allein in Spanien 1003 Damen verführt hat. Eintausendunddrei! Mille tre! Ingvar Wixell spielt den Schurken, und keine Geringere als Aase Nordmo Løvberg ist Donna Anna. Die Bauerstochter aus Målselv in Troms, die Tante Svanhild und seine Mutter lieben. Die Mutter spricht zudem in allen Pausen mit ihr. »Sie ist schon ein Weltstar«, sagt die Mutter. »Sie hat Wagner in Bayreuth gesungen!« Das klingt alles wunderbar. Aber die seltsamste Geschichte ist die aus dem Krieg, wie der norwegische Generalstab unter Führung von General Otto Ruge den Nordmohof in Troms erreicht, auf der Flucht vor den Deutschen, die von Süden her das Land besetzen. Die schreckliche Geschichte der Blücher, die bei Drøbak versenkt wurde. Die vielen Deutschen, die im eiskalten Aprilwasser um sich schlagen und wie Fliegen sterben. Der kleine Vorsprung, der König und Generälen die Flucht erlaubte, wenn sie sich nicht aus unterschiedlichen Gründen eine Kugel in den Mund schossen. Aber auf Nordmo weiß Hausmutter Sigrid, dass die Gäste dieser Nacht wichtigere Dinge zu tun haben als zu schlafen. Und als der Morgen kommt, bittet sie ihre Tochter Aase, die damals siebzehn ist, sich an die Hausorgel zu setzen. Während Aase die Pedale tritt, singt sie das Lied, von dem er weiß, dass auch seine Mutter es liebt: Die Bitte eines Sängers. Obwohl er noch keine zehn ist, kann er es auswendig: »Herr der Geister, du gebietest über die Schätze, die du mir gabst.« Generäle und Offiziere erwachen. Und obwohl sie nur an den Krieg denken, dringen diese Klänge »in ihre Seelen ein«, wie die Mutter sagt. Sie erzählt ihm diese Geschichte so gern. Wie eine der größten Sängerinnen aller Zeiten entdeckt wurde, da und dort, von Offizieren und Generälen und Kriegern. »Schicken Sie Ihre Tochter nach Oslo und lassen Sie ihr Gesangsunterricht geben«, sagte General Ruge zu Sigrid Nordmo. Und nun steht sie auf der Bühne der norwegischen Oper und singt Donna Annas phantastische Arien.

Danach lungern sein Bruder und er am Bühneneingang herum, der dem Publikumseingang gegenüberliegt. Don Giovanni ist ins Totenreich gestürzt, gleich unter der Bühne der norwegischen Oper. Von dem vielen Rauch, der dabei aufstieg, musste die Mutter niesen. Aber in der Regel kann sie sich zusammenreißen. Jetzt ist die Vorstellung vorüber. Er kann sehen, dass Kim Borg, der den Kommandanten gespielt hat, in einem dicken Wintermantel herauskommt. Seltsam, einen Mörder aus nächster Nähe zu sehen, denkt er. Und wie konnte Borg wie eine Statue dastehen, am Anfang und dann später in der Handlung?

»Bravo! Bravo!« Fast ruft er. Auch sein Bruder ruft.

»Man dankt«, sagt Kim Borg auf Schwedisch und lächelt die beiden Jungen an, die dort auf ihre Mutter warten. Da kommen sie alle. Donna Elvira, Zerlina, Don Ottavio und endlich Donna Anna, Aase Nordmo Løvberg persönlich. Sie scherzt mit Don Giovanni, auf den sie erst vor einer Stunde so wütend war.

»Bravo!«, ruft er wieder und hält ihr sein Autogrammheft hin. Alle unterschreiben. Eines Tages werden diese Autogramme ihn zum Millionär machen. Und endlich kommt seine Mutter, auch sie lacht, während der Dirigent Arvid Fladmoe die Arme schwenkt und eine Geschichte aus Trondheim erzählt. Er steht da mit seinem Bruder und kann nicht glauben, dass das möglich ist, dass alle diese Menschen, die so um ihr Leben gekämpft und gespielt und gesungen haben, dass das Glas fast zersprungen ist, jetzt aus dem Allerheiligsten hervorkommen und scherzen und lachen. Er selbst hat noch immer eine Gänsehaut.

Die Welt der Mutter. Die Welt des Vaters. Im Melumvei treffen sich beide. Er weiß, dass die Eltern einander lieben. Er kann es daran sehen, wie sie sich berühren. Ein plötzlicher Kuss. Eine freundliche Bemerkung. Aber die Zeit ist kurz. Und wenn er oben in seinem Zimmer im Bett liegt, hört er die Stimmen, die auf und ab wogen und stärker werden, ehe alles still wird.

Zu still.

Die Welt, die meine war

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