Читать книгу Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad - Страница 37

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Am letzten Oktobertag wird der Sarg von Josef Stalin, der seit dessen Tod vor mehr als acht Jahren neben Lenin gestanden hat, aus dem Mausoleum und über den Roten Platz in Moskau geschoben. Chruschtschow hat sich abermals öffentlich von Stalin distanziert und dessen Massenmorde einige Jahrzehnte zuvor ans Licht geholt.

An der Straßenbahnhaltestelle Smestad erzählt mir Mads, dass Chruschtschow bei Stalins letzter Mahlzeit zugegen war. Mads liest keine Jugendbücher mehr, sondern Lexika und die Zeitschrift Farmand. Er findet den Kommunismus einfach wahnsinnig komisch. Stalins Tod zum Beispiel. Da saßen also im März 1953 die künftigen Regierungschefs Malenkow, Bulganin und Chruschtschow zusammen mit Stalin und Innenminister Beria und aßen mit ihrem Chef. Danach trennten sich ihre Wege. Als Stalin am nächsten Morgen nicht zur üblichen Zeit aufstand, wurden die Wächter nervös. Aber Stalin hatte streng befohlen, niemals früh am Tag gestört zu werden, deshalb wurde er erst am Abend in seinem Zimmer gefunden, wo er eine starke Gehirnblutung erlitten hatte. Chruschtschow sollte später erzählen, dass Beria sofort »seinen Hass ausgespien und seinen Führer verspottet« hatte, doch als Stalin noch einmal zu Bewusstsein kam, kniete der Innenminister nieder und küsste ihm die Hand. Dann versank Stalin abermals in Bewusstlosigkeit. Beria erhob sich und verspottete ihn ein weiteres Mal. Später sollten amerikanische und russische Historiker zu dem Schluss kommen, dass Stalin an einer Dosis Warfarin gestorben war. Rattengift. Es verdünnt das Blut und kann deshalb auch bei Patienten mit Vorhofflimmern angewandt werden, auch wenn das Risiko einer Gehirnblutung steigt. Warfarin schmeckt nach nichts. Es ist ein perfekter Zusatzstoff in fester und flüssiger Nahrung, wenn man jemanden umbringen möchte.

In der Schule bereiten wir uns auf die Weihnachtsfeier vor, als Mitte November der bundesdeutsche Verteidigungsminister Franz Josef Strauß nach Norwegen kommt. Wir kochen Vogelbeergelee und basteln Laternen aus Pappe. Außerdem soll die dritte Klasse das Paradiesspiel aufführen, während die fünfte das Weihnachtsspiel einübt, die Geschichte von Jesus und Maria. Strauß wird von heftigen Protesten empfangen. Er gilt allgemein als Vertreter des aggressiven Teils der westdeutschen Atompolitik. Dass ein Land, das vor weniger als zwanzig Jahren Millionen von Juden ermordet hat, das Recht für sich in Anspruch nimmt, auf den Atomknopf zu drücken, wird als abscheulich empfunden. Vater ist oft oben bei Ulf in der Bygdøy allé. Die politische Unruhe ist groß, in all diesen Wochen, als ich oben vor der Tafel stehe und versuche, Gott Vater darzustellen. Ist das ein Trostpflaster für die entsetzlichen Wanderungen über den Schulhof zum Haus im Wald? Die gehen ja weiter. Die hören nicht auf. Ich muss mit der rechten Hand schreiben. Aber dann stehe ich plötzlich hier als Gott Vater, während Verteidigungsminister Strauß, der noch dicker ist als ich, dem eifrigen NRK-Journalisten Per Øivind Heradstveit erzählt, er nehme diese Demonstranten nicht ernst, denn sie seien »junge bezahlte Menschen, die von den Kommunisten aufgepeitscht werden, wie Moskau das eben so macht«.

Die Lage in Europa ist äußerst angespannt, vor allem im Norden, weil Finnland jetzt von Chruschtschow & Co hart unter Druck gesetzt wird. Werden sie mit ihrer Neutralitätspolitik weitermachen oder nicht? Präsident Kekkonen balanciert auf Messers Schneide zwischen der Sowjetunion und dem Westen. Mit der langen Grenze zu Russland ist die Lage dieser Nation, die Vater so sehr liebt, dass er ab und an zu Mutters großem Ärger eine echte finnische Freundin anbringt, strategisch noch schwieriger als die Norwegens. Kekkonen tobt, weil Norwegen gerade jetzt auf die Idee gekommen ist, Strauß zu einem Besuch einzuladen. Damit erweist man Finnland einen Bärendienst, sagt er, während ich in einer alten Deutschenbaracke am Smestaddam in Oslo stehe und Adam und Eva aus dem Paradies vertreibe. Mir ist das ein bisschen peinlich. Ich bin nicht Chruschtschow. Ich werde nicht mit dem Schuh auf den Tisch hauen. Ich bin auch nicht Kennedy. Außerdem sind die, die Adam und Eva spielen, die Schönsten in der Klasse. Im wirklichen Leben gibt es nicht viel, was ich mir ihnen gegenüber herausnehmen würde. Aber hier, in diesem Schauspiel, stehe ich da mit meinem Stab und spiele Diktator, während Mads und Bryn in den Kulissen kichern.

Aber die sind ja auch nur Engel.

Dezember 1961. In Toronto in Kanada knallt der Schwergewichtsboxer Floyd Patterson seinem Kollegen Tom McNeeley einen grausamen Haken ins Gesicht, McNeeley geht zu Boden und wird schon in der vierten Runde ausgezählt. Mads und ich sitzen im Palassteater, jeder mit einem kleinen Weihnachtsschwein aus Marzipan und Schokolade, und sehen die entsetzlichen Bilder. Zehn Tage später wird Adolf Eichmann in Jerusalem zum Tode verurteilt. Als wir wieder auf der Straße stehen, ist es schon dunkel. Die Schokoladenreklame am Egertorg blinkt uns entgegen, und an der Mauer des Hauses neben dem Odd-Fellow-Gebäude sinkt die Temperatur auf fast 15 Grad. Am 23. Dezember kommen 71 Italiener ums Leben, als ein Eisenbahnwagen bei Catanzaro in Süditalien in einen Abgrund stürzt. Und in Algerien sterben mindestens 44 Menschen bei Attentaten. Die Sowjetunion hat die diplomatischen Beziehungen zu Albanien an dem Tag abgebrochen, an dem Dag Hammarskjöld mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. »Wie traurig, einen so großen ehrenvollen Preis einer Leiche zu geben«, sagt Mads, als er da an der Straßenbahnhaltestelle steht und vor Kälte bibbert.

Es wird das kälteste Weihnachtsfest seit Menschengedenken.

Die Welt, die meine war

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