Читать книгу Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad - Страница 27

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Er denkt an den Tod, schon lange. Es ist nicht die Angst vor dem Sterben. Sondern die Gewissheit, dass er es eines Tages tun wird. Vor zwei Jahren noch hat er sich jeden Abend von seinen Eltern verabschiedet, wenn er schlafen ging. Er hat nicht gute Nacht gesagt, sondern lebt wohl. Auf ewig. Er war sicher, dass er den Schlaf nicht überleben würde. Aber er ist nicht gestorben.

Er weiß, dass die Mutter an Gott glaubt, aber sie übertreibt es nicht. Sie gehen nicht jeden Sonntag in die Kirche. Aber als sie, später im März, im Radio hören, dass Ingrid Bjerkås zur ersten weiblichen Geistlichen in Norwegen ordiniert worden ist, sitzt die Mutter an ihrem Retuschiertisch und faucht: »Diese blöden alten Trottel!«

»Willst du nicht, dass sie Pastorin wird?«

Sie dreht sich zu mir um. Zu meiner Überraschung sehe ich, dass sie geweint hat. »Sei nicht so dumm, mein Junge! Das hätte schon längst passieren müssen.«

An diesem Tag bringt Vater aus der Stadt einen Kuchen mit. Er findet, die neue Pastorin muss gefeiert werden. Vater will kein Mann von gestern sein, der Frauen unterdrückt. Es ist ein Marzipankuchen mit Walnüssen und ganz oben Cocktailkirschen. Er isst das so idiotisch gern. Ich merke, dass Mutter gerührt ist. Die beiden haben so viele Gemeinsamkeiten. Und dabei sind sie so verschieden. Ist das so, wenn Erwachsene sich gern haben? Dass sie enthusiastisch über dasselbe Buch sprechen und sich trotzdem streiten? Mutter ist Musik, und Vater Wort. Man sollte meinen, daraus könnte ein Lied werden, aber es wird eine ganze Symphonie mit langen literarischen Partien und gewaltigen musikalischen Einschüben. Pauken und Tubas oder die hundert Violinen, während Vater bereits steht, um aus Tausendundeine Nacht vorzulesen.

Mads und ich haben andere Gesprächsthemen, als wir an der Haltestelle Smestad stehen und über den Prozess gegen Adolf Eichmann diskutieren, der an diesem Tag, am Dienstag, dem 11. April 1961, in Jerusalem beginnt.

Eichmann ist der Verbrechen gegen das jüdische Volk in den Jahren 1939 bis 1945 angeklagt, als Millionen von Juden ermordet wurden, erklärt Mads auf eine leicht irritierende Weise. Er scheint zu glauben, ich wüsste gar nichts darüber. Aber ich werde in vierzehn Tagen neun, und dieser Fall interessiert mich ganz besonders, da Abel hundertprozentig jüdisch ist und Leah »Fast-Jüdin«, mit jüdischem Vater, auch wenn offenbar nur die Mutter zählt. Das hat Abel erklärt, mit seinem galgenhumorigen Lachen. Aber hätten die Nazis darauf Rücksicht genommen? Ich erzähle, was ich über Abel weiß, und Mads findet es wichtig, dass ich jemanden kenne, der während des Krieges fast ermordet worden wäre. Dann wäre Abel Mitte zwanzig gewesen, ungefähr wie dieser Haugestad. Die Vorstellung von Abel in der Gaskammer macht mich wütend. Auch wenn Abel sicher Witze darüber gerissen hätte. Er hat Gaskammerwitze erzählt, die Mutter deutlich missbilligte, aber ich kann mich nicht daran erinnern.

Ich sehe nur Leahs nackten Körper. Und dann sehe ich die nackten Judenkörper, die Mads und ich in der Wochenschau gesehen haben. Die in der Todesschlange stehen, ohne so richtig zu wissen, worauf sie warten.

SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann setzte sich nach Argentinien ab, nachdem er die »Endlösung« in Bezug auf die Vernichtung der Juden herbeigeführt hatte: physische Vernichtung. Schon am 20. Januar 1942 war alles geplant. Die Juden mussten verschwinden. Fast wäre Eichmann alles gelungen.

Dann verschwand er. Abel erzählt mir diese Einzelheiten, als er einmal im zeitigen Frühling zu uns kommt, ganz unangemeldet, und dabei lacht er die ganze Zeit. Als könnte er selbst in der Tatsache noch Humor finden, dass dieser halbstudierte Gauner, der reisende Vertreter der Oberösterreichischen Elektrobau-AG und der Vacuum Oil Company, 1950 als der Techniker Ricardo Klement in Buenos Aires auftauchte. Vorher hatte er unter falscher Identität in Italien gelebt, als »demobilisierter Wehrmachtssoldat«. Abel findet es besonders kurios, dass die Lüge, die Eichmann einem mitfühlenden Franziskaner auftischt, ihm einen humanitären Pass vom Internationalen Roten Kreuz in Genf und ein Visum für Argentinien einträgt. »Humanitärer Pass«, keucht Abel und will sich ausschütten vor Lachen, während er eine Hälfte von einer Tafel Vollmilchschokolade abbricht. »Und ausgerechnet vom Roten Kreuz! Da weißt du alles über diesen Verein!« Auf jeden Fall gelang Eichmann die Flucht, und er fand nun allerlei Posten wie Fabrikvorarbeiter, stellvertretender Wasserwerksingenieur und … Hasenzüchter! Bei diesem Teil der Geschichte liegt Abel zu Hause im Melumvei auf dem Boden und krümmt sich vor Lachen. Sogar Vater lacht, auch wenn es aussieht, als ob er weint. Nur Mutter ist leichenblass und ernst.

Aber es kommt noch kurioser, jedenfalls von Abels Standpunkt aus. Schon drei Jahre später erhält nämlich der Nazijäger Simon Wiesenthal eine Karte von einem jüdischen Freund aus Argentinien. Er hat »dieses Dreckschwein Eichmann« gesehen, das jetzt »in einem Wasserwerk« arbeitet. Eichmann wohnt in der Nähe von Buenos Aires. Er ist verheiratet und hat drei Kinder. Der Freund bietet an, Eichmann aufzuspüren, hat aber kein Geld. Als Wiesenthal Nahum Goldmann vom Jüdischen Weltkongress um Unterstützung bittet, handelt er sich eine Absage ein. Und nun lacht Abel so laut, dass selbst Mutter sich um seine körperliche und geistige Gesundheit sorgt. »Goldmann weist ihn ab!«, keucht Abel. »Goldmann ist doch Jude! Und wofür sind wir Juden bekannt?«

Abel kreischt vor Lachen. Erst Minuten später kommt der Rest der Geschichte an den Tag. Wie ein überlebender Jude aus Dachau, wo Eichmann stellvertretender Lagerleiter war, zu einem wichtigen Zeugen wird. Das Haus in der Calle Garibaldi, wo der Mossad Eichmann überwacht, ehe sie ihn am 11. Mai entführen. Sie schleppen ihn zu einem Auto und zwingen ihn, eine Erklärung zu unterschreiben, in der steht, dass er freiwillig nach Israel reist. »Freiwillig nach Israel!« Abel schnappt nach Luft. Aber Israel und Argentinien haben ja kein Auslieferungsabkommen. Dennoch sitzt Eichmann in der El Al-Maschine, als eine israelische Delegation, die zu den Feiern zum argentinischen Unabhängigkeitstag eingereist war, zehn Tage später nach Tel Aviv zurückfliegt.

Abel hält den Prozess für eine Farce, denn so viele Gesetze wurden gebrochen, als Eichmann entführt und nach Israel gebracht wurde. »Man kann niemanden der Verbrechen gegen die Menschlichkeit anklagen, wenn man sich selbst verbrecherisch verhält.« Außerdem wurde Eichmann gehängt, und Abel ist, wie Vater, gegen die Todesstrafe.

»Von mir aus, verlier den Verstand«, sagt Mutter.

»Sicher doch«, sagt Abel und verschwindet auf seinem Motorrad, diesmal ohne Leah, auf dem Weg an einen Ort, wo niemand ihn fangen kann.

Die Welt, die meine war

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