Читать книгу Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad - Страница 16

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Im Kongo ist Bürgerkrieg und in Oslo regnet es. Es regnet wirklich die ganze Zeit. Ein kalter und widerlicher Sommer, in dem Vater die fixe Idee hat, dass wir einige Wochen Ferien in Tolga machen sollen. Das haben wir verdient, wir alle. Da oben im Tal bei Røros ist besseres Wetter, aber es gibt auch mehr Mücken. Wir werden uns in einer kleinen Hütte einrichten, von der Vater über einen Arbeitskollegen gehört hat. Es ist jedenfalls nicht die Sorte von Hütte, die über die Anzeigen in Aftenposten vermietet wird. Ein einziges Zimmer, das zudem als Schlafzimmer für vier Personen dient. Mutter freut sich nicht. Aber alle finden sich damit ab. Wir fahren mit dem Zug durch Østerdalen. In Koppang wohnt eine alte Freundin von Mutter. Sie ist Hautärztin, und Mutter wirkt ausgelassen, als sie den Kopf aus dem Zugfenster steckt und zur Glomma hinüberschaut. »Sonja? Wo bist du denn nur, Sonja?«

Aber die Freundin ist nicht da. Keine fröhlichen und verbotenen Ausflüge nach Kråkerøy, sondern Vater, Mutter, mein Bruder und ich auf dem Weg nach Tolga. Das hier wird der Sommer mit den Kühen und der Gerstensuppe zum Frühstück. Mit saurer Milch, die in einem Zimmer steht, wo es nie kalt genug wird. Süße Milch, die sich zersetzt, ganz dünnes Knäckebrot und Zucker. Plumpsklo mit Bremsen und riesigen Fliegen. Die Kacke ragt gleich unter dem Loch auf wie eine ägyptische Pyramide. Die Kacke unten im Klo reicht garantiert bis zum Ersten Weltkrieg zurück. Deshalb muss man ungeheuer vorsichtig sein, wenn man sich den Hintern abwischt. Aber Vater ist Ingenieur, er hat studiert. Er ist daran gewöhnt, Aufgaben zu lösen. Am Tag nach unserer Ankunft steht er hinter dem Klo und schaufelt Kacke heraus, während ihm der Schweiß über die Stirn läuft und die Mücken in seinem Nacken sitzen, der dick und rot wird.

Einige Stunden verstreichen.

Danach sind wir alle zufrieden und kommen uns fast vor wie in einem Luxushotel. Wir trinken mit Wasser verdünnten Saft und lächeln einander an. Gott ist gut, und wir haben allerlei Grund, uns zu bedanken.

Ich freunde mich mit einer Kuh an. Sie heißt Klara und ist nicht so intelligent wie Mads. Dennoch kann ich mit ihr über Politik sprechen, wenn ich auf der Weide stehe und in ihre schönen, klugen und schwarzen Augen schaue, während ich versuche, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Klara findet es wunderbar, wenn ich die Arme um ihren Hals lege. Das hat mir noch nie eine fremde Frau erlaubt, und es ist nicht dasselbe wie bei Mutter, Oma oder Tante Svanhild. Klara kann ich alles erzählen. Sie ist braun, hat große weiße Flecken an der Seite und einen weißen Fleck zwischen den Augen. Sie schnuppert an meinem Nacken herum, und ich schnuppere zurück. Ich erzähle über alles, was mir Angst macht, und sie versteht. Es sind lange Stunden und Tage, in denen nichts passiert. Absolut nichts. Vater erzählt mir Neues über John F. Kennedy, der endlich zum Präsidentschaftskandidaten der Demokraten nominiert worden ist, obwohl der Wahlkampf schon seit Monaten läuft. Aber durch Mads weiß ich schon viel mehr über Richard Milhouse Nixon, den Kandidaten der Republikaner. Noch ist er Vizepräsident von Eisenhower, dem es gelungen ist, Chruschtschow zutiefst zu verärgern. Aber wir werden sehen, wie Mads immer sagt. Vielleicht hat Nixon auch seine guten Seiten. Wenn nicht, hätte er nicht solche Ähnlichkeit mit Vater.

Wo sind die Erwachsenen? Wo ist mein Bruder? Pflücken sie Beeren, sammeln sie Pilze? Ich kann mich nur an das Alleinsein erinnern. An den weichen Nieselregen. Die plötzliche scharfe Sonne. Den Zug, der im Norden der Brücke um die Kurve biegt. Die Stunden mit Klara oben auf der Weide.

Aber Mutter und Vater streiten sich nicht. Wenn wir abends zusammen sind, herrscht Friede in der kleinen Hütte. Wir spielen Karten. Mutter hört Radio. Auf Langwelle gibt es immer Musik. Mein Bruder liest jetzt die Bücher der Hardy Boys-Serie. Vater auch, damit sie darüber reden können. Ansonsten liest er Tolstoi und Dostojewski. Die beiden haben ihre eigene Gemeinschaft.

Der Sommer ohne Orientering, Dagbladet und Aftenposten. Die Welt lässt uns in Ruhe, solange Mutter die Kontrolle über das Radio hat. Nicht so viele Nachrichtensendungen. Umso mehr Musik. Mutter und Vater, die plötzlich auf der Wiese nach oben Hand in Hand gehen. Mein Bruder und ich hören Geschichten aus der Studienzeit der beiden in Trondheim. Vater, der Chemie studiert und einen Eimer mit sechzigprozentigem Alkohol ausschüttet, weil er den für Wasser hält. Oder die Geschichten aus Fredrikstad, als sie frisch verliebt waren. Vater, der plötzlich zu einem unerwarteten Besuch kommt. Mutter, die auf dem Fahrrad sitzt, als sie ihn entdeckt, und die Arme begeistert nach beiden Seiten ausstreckt, worauf das Rad in den Straßengraben kippt und Mutter mit dem Kopf auf einen Stein schlägt. Mutter, die bewusstlos und in Krämpfen daliegt, während Vater sich keinen Rat weiß. So viele Gründe, sich zu ängstigen. Aber es sollte eine glückliche Geschichte werden. Sie kam wieder zu sich. Vater hielt sie in seinen starken Armen.

Der Tag, an dem wir aufbrechen. Der kommt so plötzlich. Der Sommer der Langeweile hat etwas mit uns allen gemacht. Jetzt fahren wir wieder nach Hause in den Melumvei. Ich komme in die zweite Klasse und habe einen neuen Lehrer. Lindholm muss eine Klasse übernehmen, die total aus dem Ruder gelaufen ist. Zu uns kommt Ledsaak. Mit Vornamen heißt er Sam. Das ist ungewohnt. Aber wir mögen ihn alle. Unsere Klasse darf nicht in den Abgrund stürzen, denke ich. Wir dürfen uns nicht auf dem Schulhof prügeln. Wir müssen jetzt brav sein. Auf der Welt passieren ohnehin schon so viele traurige Dinge.

Abschied von Klara. Die letzten schweren Schritte den Hang hinauf, wo sie steht und auf mich wartet. Als ob sie weiß, was passieren wird. »Hallo Klara«, sage ich mit belegter Stimme. »Isst du gerade?«

Sie nickt mir zu. Käut wieder.

Ich lege ihr die Arme um den Hals. Fange an zu weinen. Ich weine wie ein Wasserfall, wirklich. Alles ist so schrecklich. Sie lässt Luft aus ihren Nasenlöchern entweichen. Das macht sie immer, wenn sie versteht.

»Ich will nicht weg«, sage ich. Wieder nickt sie.

»Aber ich komme zurück.« Sie steht still da und hört zu.

Aber ich weiß ja nicht, wem sie gehört. Was sie mit ihr vorhaben. Sie steht nur da mit der vielen Milch im Euter. Wer wird jetzt auf sie aufpassen? Der alte Mann, der sie jeden Abend melkt? Er ist nicht nett. Er verjagt mich mit einem Stock, wann immer er mich sieht. »Du darfst hier nicht langgehen!«, ruft er.

Ich laufe zu der kleinen Hütte hinunter, wo Mutter und Vater die Rucksäcke gepackt haben und mein Bruder mich mit ernster Miene mustert.

»Ich will Klara nicht verlassen«, sage ich und weine, wie ich noch nie zuvor geweint habe. Dieses Weinen kommt von einem Ort, der tiefer liegt als mein Bauch. Ich erschrecke über mich selbst. Über diese wilde Trauer.

Mutter nimmt mich in die Arme. Weint ebenfalls. Sie ist so leicht gerührt. »Aber wir müssen jetzt los, Lieber. Der Zug geht in einer halben Stunde. Und am Montag fängt die Schule wieder an.«

Ich weiß, dass es nichts gibt, was ich tun könnte. Ich starre zu Klara hoch, die da steht, am anderen Ende der Weide, und uns aus ihren guten, traurigen Augen anschaut. Ich laufe ein letztes Mal zu ihr nach oben, obwohl die anderen hinter mir herrufen. »Ich komme wieder!«

Aber was, wenn ich einfach wegliefe? Verschwände? Was, wenn es von nun an nur noch mich und Klara gäbe?

Endlich halte ich sie in meinen Armen. »Wir dürfen einander nicht verlieren, Klara.«

Sie nickt. Der Atem kommt aus ihren Nasenlöchern. Auf ihrer Stirn sitzt eine Fliege. Auf dem weißen Fleck zwischen den Augen. Sie ist so schön, wie sie da steht.

Aber ich höre die Stimmen unten von der Hütte her. »In zehn Minuten kommt der Zug.«

»Jetzt muss ich gehen«, sage ich. »Du darfst keine Angst haben. Ich liebe dich, Klara. Verstehst du das? Ich liebe dich.« Sie steht still da und hört zu. Ich sehe sie ein letztes Mal an.

Eine große Träne läuft über ihre Wange. Jetzt weiß sie, dass es ernst ist. Dass ich sie verlassen werde.

»Klara«, flüstere ich. »Ich werde dich niemals vergessen.« Aber sie weint immer weiter.

Die Welt, die meine war

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