Читать книгу Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad - Страница 14
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Der US-amerikanische Oberst und Flieger Marty Knutson trifft in geheimer Mission in Bodø ein. Der große Flugplatz liegt am offenen Meer und ist für die Amerikaner strategisch wichtig. Hektische militärische Aktivitäten gehen hier vor sich. Nordnorwegen ist nach den Verwüstungen des Krieges wieder auf die Beine gekommen. Allein in Finnmark ist mehr als eine Million Quadratmeter neue Wohnfläche gebaut worden. Weiter die Küste hinab bis tief nach Troms hinein muss die Lokalbevölkerung feststellen, wie die Armee dem Landesteil ihren Stempel aufdrückt. Auf Andøya wird eine Raketenabschussanlage gebaut, und Gerüchte wollen wissen, dass innerhalb von zwei Jahren eine Forschungsrakete namens Ferdinand gezündet werden soll. Aber kann man wirklich sicher sein, dass diese Rakete einfach nur die polare Ionosphäre studieren wird? Und warum halten sich in Bardufoss plötzlich so viele Amerikaner auf?
Marty Knutson ist nicht allein gekommen. Flugzeuge, die nichts mit der norwegischen Luftwaffe zu tun haben können, starten und landen. Alle, die in Bodø wohnen, können sie sehen. Man braucht nur zum Zaun vor dem Rollfeld zu schlendern und zu warten.
Zur gleichen Zeit startet von einem NATO-Stützpunkt in Peshawar ein Aufklärungsflugzeug. Der Mann am Steuerknüppel heißt Francis Gary Powers und das Flugzeug ist eine U-2 und heißt also genau wie eine später weltberühmte irische Rockgruppe.
Dieses Flugzeug, ein amerikanisches Spionageflugzeug, soll ICBMEinrichtungen in Swerdlowsk und Plessezk fotografieren. ICBM ist die Abkürzung für »intercontinental ballistic missiles«, also Langstreckenraketen, die Vater mehr fürchtet denn je, jetzt, wo Eisenhower im Weißen Haus sitzt und Chruschtschow im Kreml regiert.
Ich mag Chruschtschow. Ich sehe fast jeden Tag Bilder von ihm in der Zeitung. Er erinnert mich an Onkel Birger. Nikita Sergejewitsch mit diesem munteren, fast schelmischen Gesicht, selbst wenn er über ernste Dinge redet. Vater respektiert ihn ebenfalls, seit Chruschtschow vor vier Jahren mit Stalin abgerechnet hat. »Das hat der Welt neue Hoffnung geschenkt«, sagt Vater. Er erzählt mir von dem jungen Eisenarbeiter aus Kalinova in Kursk, der mit vierzehn Jahren nach Donezk umzieht. Später machte er Karriere bei der Roten Armee. Allein schon der Name! Ich sehe vor mir berittene Soldaten, die rote kommunistische Flaggen schwenken. Und sie können singen. Ich habe es mit eigenen Ohren gehört, im Radio. Das ist etwas anderes als diese Schreihälse in Washington. Chruschtschow hat sicher einen phantastischen Bass. Ich weiß einiges über Chruschtschow. Ich rede gern mit Mads aus meiner Klasse über Politik. Mads ist klüger als ich. Er hat ein freundliches Gesicht und einen Kopf mit schönen kleinen Locken. Er war nie ein Kind. Er redet wie die Erwachsenen, benutzt Wörter, die ich noch nie gehört habe. Das wirkt bei ihm ganz natürlich. Er tut nicht so, er ist. Er sieht jetzt schon aus wie ein Rechtsanwalt. Ich weiß damals noch nicht, dass er wirklich Jura studieren wird. Ich weiß nur, dass ich Mads engagiert hätte, wenn ich Caryl Chessman gewesen wäre, ich hätte mich nicht selbst verteidigt. Mads spricht mit einer Selbstsicherheit, die niemand sonst in unserem Alter besitzt. Er protzt nicht mit seinem Wissen. Die Wörter kommen einfach immer in der richtigen Reihenfolge. Wenn man nicht zuhörte, könnte man glauben, er rede über Dampfmaschinen oder Märklin-Eisenbahnen. Aber er redet über etwas ganz anderes. Über Dinge, für die sich sonst kein Kind interessiert. Doch die Art, wie er redet, bringt mich zum Zuhören. Manches davon höre ich ja nicht zum ersten Mal. Er interessiert sich ungeheuer für alle gesellschaftlichen Entwicklungen, genau wie Vater. Wir Achtjährigen stehen jeden Tag nach der Schule an der Haltestelle Smestad und tauschen politische Erfahrungen aus.
Ich verpasse eine Straßenbahn nach der anderen, weil wir so viel zu besprechen haben. Erst einige Stunden später trennen sich unsere Wege. Ich muss zurück zu dem gelben Haus in Røa, Mads zu dem gelben Haus in Vinderen. Wir haben schon viel über Chruschtschow gesprochen. Ich weiß sogar, wie seine Frau heißt. Nina. Sie ist so alt wie Vater und sieht ebenfalls lieb aus. Schon jetzt habe ich einen Hang dazu, Leute zu mögen, die in der westlichen Welt nicht angesehen sind. Später kommen weitere dazu. Saddam Hussein. Radovan Karadzic. Wladimir Putin. Ich finde, sie alle sehen sympathisch und vertrauenserweckend aus. Saddam verbrachte die Wochen vor seiner Hinrichtung mit der Beobachtung von Singvögeln. Karadzic schrieb in seiner Zelle Gedichte. Und Putin wirkt immer auf so charmante Weise geniert.
Das amerikanische Spionageflugzeug soll illegale Bilder von Chruschtschows riesiger Sowjetunion machen, aus extremer Höhe, damit es nicht so leicht abgeschossen werden kann. Der Flug ist genau geplant, und die Amerikaner sind bereit, ein Risiko einzugehen. Es gehört zu ihren Berechnungen, dass das Flugzeug zweimal so dicht an einer Raketenabschussrampe vorbeifliegen wird, dass es schlimmstenfalls getroffen werden kann.
Die Befürchtungen erfüllen sich. Vierzehn SA-2 Guideline Missiles detonieren in solcher Nähe, dass das Flugzeug im Flug schwer beschädigt wird. In hohem Tempo stürzt es dem Boden entgegen in der Nähe von Swerdlowsk.
Was ist mit dem Flugzeug passiert? Was ist mit Powers passiert? In Bodø sitzt Marty Knutson zusammen mit den anderen Amerikanern und hat kein gutes Gefühl. Powers sollte doch nach Bodø fliegen, um dort in aller Heimlichkeit mit seiner U-2 zu landen und aufzutanken, ehe Marty Knutson dann plangemäß weiterfliegen sollte mit unbekanntem Ziel, vermutlich zu einem Militärstützpunkt in Asien, vielleicht in der Türkei.
Im Pentagon herrscht tiefe Bestürzung. Hat die Sowjetunion das Flugzeug abgeschossen? Lebt Powers noch, oder ist er tot? Konnte er den Selbstzerstörungsmechanismus auslösen?
Um Chruschtschow zuvorzukommen, sendet die NASA das Bild einer anderen U-2, angestrichen in den Farben der NASA, damit es aussieht wie ein Forschungsflugzeug, das keinerlei militärische Aufgaben erfüllen kann. Sie geben zudem eine Pressemeldung heraus, dass ein Flugzeug im Norden der Türkei vermisst wird und dass die Möglichkeit besteht, der Flieger habe, während er auf Autopilot flog, einen Schwächeanfall erlitten. Mit anderen Worten: Das Flugzeug habe sich durch einen unglücklichen Zufall in den sowjetischen Luftraum verirrt, was natürlich durchaus nicht der Sinn dieses Fluges war.
Als Antwort berichtet Chruschtschow vor dem Obersten Sowjet, ein amerikanisches Spionageflugzeug sei über sowjetischem Territorium abgeschossen worden.
Die USA setzen alles auf eine Karte, in der Hoffnung, dass das Flugzeug bis zur Unkenntlichkeit zerstört und Powers tot ist. Aus dem Weißen Haus wird mitgeteilt: »There was absolutely no deliberate attempt to violate Soviet airspace and never has been.« Gleichzeitig heißt es, sämliche Maschinen dieses Typs seien aus dem Verkehr gezogen worden und würden auf »Sauerstoffprobleme« untersucht.
Chruschtschow lässt drei Tage verstreichen, dann erzählt er der Welt, was er schon längst weiß: dass es sich um ein amerikanisches Spionageflugzeug handelt, dass Powers unverletzt ist und dass der Pilot sich in sowjetischer Gefangenschaft befindet.
An der Haltestelle Smestad grinst Mads triumphierend. Wie blöd sind die Amis denn eigentlich? Er hält mir einen Vortrag über den Unterschied zwischen der UdSSR und den USA. Und nun ist mir klar, dass auch er Chruschtschow mag. Chruschtschow hat die Amerikaner ganz bewusst an der Nase herumgeführt und als Erstes gesagt: »Ich muss ein Geheimnis lüften. Als ich zuerst über diesen Zwischenfall berichtet habe, habe ich nicht erwähnt, dass der Pilot am Leben und unversehrt ist. Und jetzt sehen wir ja, wie viele Dummheiten die Amerikaner uns aufgetischt haben!«
Wir fanden das wunderbar, Mads und ich. Diesen spöttischen Tonfall. Chruschtschow sprach eine Sprache, die Achtjährige verstehen konnten. Die Amerikaner taten das nicht. An der Haltestelle Smestad nahm Mads mich beiseite und erklärte uns beide zu Chruschtschow-Freunden. »Lang lebe Chruschtschow!«, riefen wir und hoben dabei nach russischer Art einen Arm.
Ich fuhr zurück nach Røa, und als Vater mit Dagbladet und seinem grünen Vollkornbrot von der Arbeit kam, erzählte ich ihm, was geschehen war.
Er lächelte und hörte zu. »Es ist schön, dass ihr euch politisch engagiert, du und Mads«, sagte er. »Aber es steht nicht fest, ob Chruschtschow so ungefährlich ist wie ihr meint. Es ist nicht immer so einfach.«
Es war nicht so einfach.
Powers war unversehrt, und wichtige Teile vom Cockpit des Flugzeugs waren intakt. Selbst die Kamera, die Powers unterwegs benutzt hatte, war so wenig beschädigt, dass die Fotos entwickelt werden konnten, was das sowjetische Verteidigungsministerium nur zu gern übernahm. Außerdem hatten sie Powers’ Überlebensausrüstung gefunden: 7500 Rubel und Schmuckstücke, die er im Notfall zur Bestechung benutzen sollte.
Aber der Präsident der USA weigerte sich, eine Bitte um Entschuldigung auszusprechen.
Norwegen streitet ebenfalls ab, etwas mit der U-2 zu tun zu haben. Aber eine Maschine, die in Pakistan gestartet ist und über die Sowjetunion nach Westen fliegt, wo sollte die denn landen, wenn nicht in Bodø, wo die Amerikaner sowieso bestimmen, was Sache ist?
Absolut nicht in Bodø, sagt Außenminister Halvard Lange.
Aber diese Lüge überlebt nicht einmal bis zum Ende der Woche. Am 13. Mai tritt Lange vor das norwegische Parlament und gibt alles zu. Das Flugzeug hätte in Bodø landen sollen. Zu allem Überfluss kommt heraus, dass sich Powers erst kürzlich für längere Zeit in Bodø aufgehalten hatte, um sich mit dem Flugplatz und den dortigen Verhältnissen vertraut zu machen.
»Aber Norwegen war darüber nicht informiert«, sagt Lange.
Er beteuert, dass die norwegische Regierung dem US-Botschafter in Oslo eine Protestnote überreicht hat.
»Pöh!«, sagt Mads.
Mads ließ sich nicht beeindrucken. »Spiegelfechterei«, sagte er.
Das meinte auch Chruschtschow. Norwegen als Lakai in der Großmachtstrategie der Amerikaner? Wollte das friedliche Nachbarland der Sowjetunion wirklich eine solche Rolle spielen? Er machte die norwegische Regierung für alles verantwortlich und ließ eine besonders scharf formulierte Note überreichen, in der klargestellt wurde, dass sich die Sowjetunion nicht zum ersten Mal gezwungen sah, gegen Verletzungen der territorialen Integrität zu protestieren, Verletzungen, an denen auch Norwegen in höchstem Grade beteiligt war. Beim nächsten Mal werde die Sowjetunion die Militärstützpunkte, die zu solchen Zwecken benutzt würden, unschädlich machen.
»Also ein großer Krieg«, sagte Mads. »Weltkrieg«, sagte Vater.
Wieder sehe ich die furchtbare Angst in Vaters Gesicht. Der Zeitpunkt dieser Ereignisse ist extrem unglücklich. Nur eine Woche darauf werden Eisenhower und Chruschtschow bei der Ost-West-Konferenz in Paris aufeinandertreffen. Aber jetzt wütet Chruschtschow gegen Norwegen und die USA. Er trifft am 14. Mai in Paris ein, zwei Tage vor dem geplanten Gipfeltreffen, und geht sofort mit der Aufforderung zu General de Gaulle, die USA und indirekt auch Norwegen energisch zu verurteilen. Aber der französische Präsident will davon nichts wissen. Am Eröffnungstag, dem 16. Mai, dem Tag der geplanten Begegnung zwischen Chruschtschow und Eisenhower, stellt die UdSSR den USA ein Ultimatum und fordert das Eingeständnis, dass es sich bei der U-2-Affäre um eine aggressive Handlung gehandelt habe.
Eisenhower lehnt das Ultimatum ab.
Chruschtschow erhebt sich und verlässt die Konferenz.
Vier Tage darauf holt Fellinis Film La dolce vita in Cannes die Goldene Palme. Mads zeigt mir ein Zeitungsbild der nassen und halbnackten Anita Ekberg, die in der Fontana di Trevi badet. Er hat dieses Bild aus Aftenposten ausgeschnitten, nachdem seine Eltern die Zeitung ausgelesen und in den Mülleimer geworfen hatten. Anita Ekberg hat gewaltig große Brüste. Größer als Mutter. Größer auch als Mads’ Mutter, sagt Mads und wird rot. Ich weiß nicht so recht, was ich meinen soll.
Bald werden Mads und ich mit der Straßenbahn in die Stadt fahren, um im Palassteater die Wochenschau zu sehen. Die ist ab sieben Jahren freigegeben. Dort können wir sehen, wie Chruschtschow wütend wird. Dort können wir auch sehen, wie Anita Ekberg in der Fontana di Trevi badet.