Читать книгу Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad - Страница 7
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Als er mehr als fünfzig Jahre später Abschied von ihr nimmt, ist er es selbst, der den letzten Schlüssel zum Raum der Trennung hat. Obwohl es eine junge Schwesternhelferin aus Lettland ist, die ihm die Tür zum Kühlraum der Kapelle im Pflegeheim öffnet. Er ist den ganzen Weg aus China gekommen. Aber er kommt zwei Tage zu spät. Dennoch durfte sie dort liegen bleiben. Seinetwegen. Sie wartet auf ihn, wie sie so oft schon gewartet hat. Sie haben ihr ein weißes Band um das Gesicht geknüpft, damit sich ihr Mund nicht öffnet. Sie sieht aus wie ein Kaninchen im Kindertheater. Dennoch ist sie seine Mutter. Als er sie auf die Stirn küsst, merkt er, dass sie eiskalt ist. Unter den fast geschlossenen Augenlidern ahnt er ihre graublauen Augen. Als ob sie ihn anlächelt. Noch jetzt. Als ob sie zum letzten Mal versucht, seinen Blick zu erwidern.
»Du warst eine gute Mutter«, sagt er endlich, ohne dass die Schwesternhelferin, die sich diskret auf den Gang zurückgezogen hat, es hören kann. Dann küsst er sie ein letztes Mal auf die Stirn. Ein allerletztes Mal. Er merkt, dass von seinem Auge eine Träne fällt und ihre Wange trifft. Die Träne ist so groß, dass sie zu ihrem Mundwinkel rollt, wo sie innehält. Ist seine Mutter eigentlich tiefgefroren, so, wie sie dort liegt? Wird der Tropfen jetzt auch zu Eis werden? Er berührt die Träne, noch ist sie feucht. Er wischt sie mit einem Papiertaschentuch weg, als ob er die Tote trösten wolle.
Trennung ist Erfahrung. Das Erste, was er nach seiner Geburt getan hatte, war zu weinen. In all den Jahren, die darauf folgten, verbarg er das Weinen in sich, als ob es eine Schande wäre. Es war die erste Gefühlsäußerung, die er der Welt gezeigt hatte. Es war auch die tiefste. Diese Gefühle konnten in ihm aufbranden, wenn er an einer Straßenbahnhaltestelle oder auf einem Bootsanleger stand und sich von jemandem verabschieden wollte. Er konnte an die Existenz dieser Gefühle immer dann erinnert werden, wenn ein Flugzeug abhob. Wenn er weinte, nachdem er ein Buch gelesen, ein Theaterstück gesehen oder eine Kinovorstellung besucht hatte, lag das meistens daran, dass Menschen voneinander getrennt worden waren. So war auch das Weinen seiner Tochter, wenn sie sich von einem Menschen, einem Tier oder einem Gegenstand trennen musste, die für sie etwas Besonderes waren.
Eine Welt geht unter, wenn ein Kind geboren wird. Die Welt des Kindes und die der Mutter. Nie mehr wird das Kind später im Leben eine so umschließende Fürsorge erleben. Niemand möchte einen solchen Schutzzustand verlassen. Er wog viereinhalb Kilo, als er den Kampf aufgeben musste, drinnen bleiben zu dürfen, es war an einem Tag Ende April 1952. Der Stichtag war schon um viele Wochen überschritten. Seine erste Erfahrung im Leben war unerwarteter und brutaler als alles, was er später erleben würde. Und obwohl er sich an diesen Augenblick nicht erinnern kann, hat dieses Erlebnis sich in seinem Nervensystem festgesetzt. Seine gesamte Kindheit hindurch und bis weit in seine Jugend hinein konnte er es nicht ertragen, von seiner Mutter verlassen zu werden. Wenn sie kurz zum Einkaufen wegmusste, schloss er die Arme zu einer eisernen Klammer um ihre Oberschenkel, und dabei heulte er so sehr, dass es von den Wänden widerhallte. Einige kurze Sekunden lang konnte sie sich nicht rühren. »Aufhören, Ketil! Aber nun hör doch schon auf! In zehn Minuten bin ich ja schon wieder da!«
Dann ging sie.
Und er stand da in dem dunklen Gang. Er weinte. Die Haustür war abgesperrt, und er hatte keinen Schlüssel. Dann lief er in die Küche, wo er sie durch das Fenster sehen konnte. Er kratzte mit den Nägeln über das Glas. Das muss sie doch hören, dachte er. Er schrie lauter, als er es für möglich gehalten hätte. Aber sie drehte sich nicht um. Sie lief mit ihrem Einkaufskorb in Richtung Randklev. Manchmal stand sein Bruder neben ihm. Gemeinsam konnten sie sehen, wie die Mutter hinter der Kurve verschwand. Dann weinten sie beide.
Oft, wenn ich zurückblicke, denke ich nicht an mich selbst als ich, sondern als er. Zugleich war ich so sehr ich in den Situationen, in denen ich in meiner Erinnerung als er auftrete. Die Erinnerung ist ein eigenes Individuum in meinem Körper. Sie hat dasselbe Bedürfnis nach Schutz wie die Person, die ich ich nenne. Als der große Aufbruch stattfand, war ich zweifellos ich selbst. Aber später dachte ich an mich als er. Es war ein anderer, der das erlebt hatte.
Aber diese Person war auch ich.
Er war ich. Und ich war er.