Читать книгу Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad - Страница 15
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Frühling im Melumvei. Er hatte nicht gewusst, wie sehr er sich über das Licht, den Duft und die grünen Bäume freuen würde. Darüber, dass er sein Fahrrad wieder benutzen konnte. Dass es bald möglich sein würde, im Fluss zu baden.
Die Mutter lag im dunklen Schlafzimmer und nieste. Oft stand er vor der Tür und horchte. Er hatte Angst. Das passierte immer, wenn die Birken ausschlugen. Schon mitten im Winter ging sie zum eleganten Dr. K. in der Holtegate und ließ sich Medikamente verschreiben.
Er hatte sie einige Male begleiten dürfen, vor allem, damit festgestellt würde, ob bei ihm alles in Ordnung war. Er wusste, dass etwas nicht stimmte, aber der Doktor konnte nichts finden. Dr. K. sah aus wie Clark Gable, hatte an den Kopf geklatschte Haare, trug einen Anzug, weißes Hemd und Fliege, er stank nach Rasierwasser. Er sah überhaupt nicht aus wie ein Doktor. Wo war der weiße Kittel? Das Stethoskop? Die langen Nasenhaare, die alle Ärzte und Zahnärzte hatten? War die Mutter vielleicht verliebt in ihn? Der Sohn wusste es nicht. Die Vorstellung aber machte ihm Angst. Dr. K. konnte auf Schlittschuhen zehntausend Meter offenbar genauso schnell schaffen wie Kupper’n. Angeblich konnte er auch an einem Tag eine ganze Flasche Whisky leeren.
Das klang unheimlich.
Der Mutter gefiel es auch nicht besonders. Ihr Vater, den sie nie erwähnte, war doch Alkoholiker gewesen. Und gemein noch dazu. Aber bei Dr. K. war das alles offenbar nicht so gefährlich.
Wenn er so dastand und das Niesen der Mutter hörte, überlegte er sich, dass der Doktor in der Holtegate ein schlechter Doktor sein müsse. Er verschrieb die falschen Tabletten. Die durften nicht rosa sein. Die mussten blau oder weiß sein. Keine andere Mutter lag bei geschlossenen Vorhängen Tag für Tag im Schlafzimmer und nieste, immer wenn es auf den 17. Mai zuging. Manchmal klang es, als ob sie platzte, als ob ihr das Gehirn aus den Nasenlöchern lief. Solchen Plagen war einfach kein Mensch gewachsen. Sie lag da und zappelte wie ein frischgefangener Fisch, während sie nieste und nieste. Wenn sie ab und zu aufstand, um sich in der Küche eine Tasse Tee zu holen, hörte er, dass ihre Lunge von Schleim verstopft war. Sie pfiff beim Reden.
»Mutter!«, rief er und schlang die Arme um sie.
»Das ist nicht gefährlich«, sagte sie. »Setz dich im Wohnzimmer ans Klavier. Denk nicht an mich. Spiel etwas, bitte.«
Er begann, ein ängstlicher Mensch zu werden. Er hatte Angst vor Atombomben und Todesstrafe. Hatte Angst davor, dass Chruschtschow und Eisenhower sich nicht einigen würden, dass der Körper der Mutter es nicht mehr ertragen würde, dass beide Eltern unten in der Stadt, wo sie beide arbeiteten, von einem Auto überfahren oder zwischen Bahnsteig und Straßenbahn eingeklemmt werden könnten, um dann von riesigen Rädern den Kopf abgeschnitten zu bekommen. Er hatte Angst, dass Tante Svanhild ihn nicht mehr liebte. Sie hatte ihn und den Bruder schon lange nicht mehr eingeladen zum Fernsehen in die kleine Wohnung in der Gabelsgate mit Blick auf den Hinterhof, auf den sie so stolz war. Man konnte zwischen den weißen Hausmauern sogar ein kleines Stück vom Frognervei sehen. Aber ganz besondere Angst hatte er, als er eines Morgens aufwachte und sah, dass er am ganzen Leib von roten Flecken übersät war, sogar im Gesicht. Wie sollte er das nur verbergen?
Er hatte keine Angst um sich, sondern davor, seinen Eltern noch mehr Sorgen zu machen. Die waren für Sorgen nicht geschaffen. Sie waren doch beide so stark. Gesunde, schöne Menschen, wie Onkel Aage immer sagte, wenn er zu Besuch kam. Es kamen so viele zu Besuch. Deshalb durften die Eltern sich nicht in ihren Ängsten verlieren. Sie mussten lächeln und froh sein.
Aber ein einziger Blick der Mutter machte ihm klar, dass hier etwas nicht stimmte.
»Lass mal sehen«, sagte sie.
»Das ist doch nicht wichtig«, sagte er. »Red keinen Unsinn«, sagte sie.
Nun hatte er nichts mehr zu sagen. So war das immer. Aber er fand es schrecklich. Das Wissen, das sie besaßen. Das sie dazu zwang, Dinge zu tun. Auf irgendeine Weise hatten sie entdeckt, dass aus seinem Po weiße Würmer krochen. Nun beugte der Vater ihn über seine Knie, wobei er auf der Badewannenkante saß und die weißen Würmer mit einer Pinzette hervorfischte. Konnte irgendwer begreifen, wie demütigend das war? Aber er ließ es sich brav gefallen. Das war sein Lebensziel, umgänglich zu sein, aber zugleich schwer, so schwer wie überhaupt nur möglich, um keine Beeren pflücken zu müssen, zum Beispiel.
Aber das hier war ein Ausschlag. Und Ausschlag wurde nicht mit der Pinzette weggezupft. Ausschlag entfernte man offenbar mit Pulver und Schwefel.
Die Mutter ging mit ihm zu Dr. K. in der Holtegate. Das war unheimlich, denn jetzt gab es zum ersten Mal einen Grund, warum er sich in den Untersuchungssessel setzen sollte.
»Lass dich mal ansehen«, sagte Dr. K.
Er hoffte, dass er seinen Po nicht vorzeigen müsste. Es juckte jetzt überall. Am Hintern, unter den Armen, an den Oberschenkeln und am Kopf. Vielleicht hatte er Läuse. Oder die Würmer waren aus ihrem Darmgefängnis entflohen, obwohl er immer wieder versuchte, gegen den Druck aus seinem Inneren die Tür zu verschließen.
Dr. K. sah sich seinen Bauch an. »Du hast Nesselfieber«, sagte er. Der Arzt musste nicht einmal zum Stethoskop greifen. Nesselfieber. Das klang gefährlich. Und das war es auch. Er musste ins Krankenhaus. Jedenfalls für eine Nacht. Vielleicht für zwei.
Ohne seine Eltern?
Ja. Auf die Kinderstation. Ullevål.
Er hatte gehofft, im Krankenwagen hingebracht zu werden, aber sie nahmen die Straßenbahn. Die Mutter hatte Brote geschmiert. Knäckebrot mit Ziegenkäse und dick Butter. Sie wusste, dass ihm das schmeckte.
Oft dachte er, er wäre lieber ein Obdachloser mit vielen kleinen Katzen gewesen.
Aber er brauchte keinen Schwarzgebrannten. Ihm reichte Leberwurst.
Sie begleitete ihn in das Sechsbettzimmer. Dort lagen fünf andere Jungen. Sie waren größer als er. Vielleicht waren sie schon neun oder zehn. Er hatte nicht das Gefühl, dass ihm etwas fehlte, abgesehen von diesen Flecken auf seiner Haut. Vielleicht steckte es in seinem Inneren. »Ganz bestimmt pyschisch«, wie Tante Svanhild immer sagte.
Ein Monster von einer Frau in Weiß kam herein und sagte, jetzt müsse die Mutter gehen. Plötzlich war er allein mit den Jungen. Die Stimmung war nicht gut. Er hatte schon immer auf Stimmungen reagiert. Hier sollte er also eine Nacht mit wildfremdem Pöbel verbringen. Sie redeten über Boxen. Er fand das beunruhigend. Floyd Patterson. Ingemar Johansson. Ihm taten die Kiefer weh, wenn er nur daran dachte. Bald würden sie wieder kämpfen. Beim letzten Mal hatte Johansson gewonnen, aber schon in einigen Tagen würde der neue Kampf stattfinden. Sogar sein Bruder hatte davon gesprochen. Der eine Junge im Schlafzimmer, ein unangenehmer langer Lulatsch, fing an zu sabbern, während er immer erregter über Floyd sprach, dass Floyd dem Schweden den Schädel einschlagen sollte. »Scheißschwede«, rief er, als ob Johanssen bei ihnen im Zimmer stünde. Da erwachte der kleine Albino in der rechten Ecke und setzte sich auf: »Hältst du etwa zu dem Neger? Hä?« Der Lulatsch nickte eifrig, aber der Albino hatte rote Augen, und das wirkte bedrohlich. »Neger fressen ihre eigene Kacke«, sagte der Albino. »Deshalb sind sie so braun in der Fresse.«
Er fühlte sich nicht wohl in dieser Gesellschaft. Es ist so seltsam, wenn mehrere Menschen zusammenkommen, dachte er. Man wusste sofort, wenn etwas nicht stimmte. In der Schule, zum Beispiel. In zwei Klassen dort war die Stimmung um einiges schlechter als in seiner. Es gab sogar Klassen, in denen alle einfach gemein wirkten und auf dem Schulhof aufeinander einprügelten, während in anderen Klassen alles harmonisch und freundschaftlich vor sich ging und Jungen und Mädchen sich gegenseitig umarmten. Wie konnte es so weit kommen? Waren die Lehrer schuld? Er hatte schon jetzt Sehnsucht nach dem Melumvei, nach den ruhigen Nachmittagen und Abenden. Nach dem Bruder, der so schön auf dem neuen braunen Klavier spielte, das Onkel Aage ihnen geliehen hatte. Nach Mutter, die immer mit Nähen und Retuschieren beschäftigt war. Nach Vater, der Orientering las mit besorgt gerunzelter Stirn.
Er schloss die Augen, hoffte, die Tatsache, dass er selbst nichts sehen konnte, werde ihn auch für andere unsichtbar machen. Er lag stocksteif da und hoffte auf das Beste. Und lange sah es aus, als hätten die anderen ihn vergessen.
Aber als es Nachmittag wurde, lange nachdem die Krankenschwestern ihn vor aller Augen ausgezogen und mit Salbe eingeschmiert hatten, wurde er von den roten Sonnenstrahlen geweckt, die ihn mitten im Gesicht trafen. Er begriff nicht, dass es ihm wirklich gelungen war, mitten am Tag einzuschlafen. Und er wusste nicht, wie dieses Gefühl hieß, das er jetzt verspürte. Erst später sollte er begreifen, dass manche es Melancholie nannten. Tristesse. Angst. Depression. Er fühlte sich wie betäubt. Leer. Es war nicht nur die Sonne, die bald über dem Dach im Westen untergehen würde. Es war, als werde gerade die ganze Welt dunkel. Als solle der Vater recht behalten. Als drohe ein gewaltiges Ereignis.
Als lese der Albino seine Gedanken, fragte er: »Bist du jetzt wach?«
»Ja.« Er hielt sich die Hand über die Augen. Das Sonnenlicht war so grell.
»Dann steh auf, ich will dir was zeigen«, sagte der Albino.
Er wagte keinen Widerspruch, sondern stieg aus dem Bett in dem hellblauen Krankenhaushemd, das keine Hose hatte und deshalb offenbar für Mädchen gedacht war.
»Sieh mal, die Sonne«, sagte der Albino.
»Die sehe ich«, antwortete er.
»Aber nicht so, wie du glaubst«, sagte er Albino. »Diese Sonne leuchtet nicht mehr.«
»Ach?«
»Nein, die ist eben erloschen. Sie ist gestorben. Alles wird schwarz werden. Aber wir werden das erst viele Minuten später merken. Weißt du nicht, dass das Sonnenlicht sieben Minuten braucht, um durch den Weltraum zu reisen und die Erde zu treffen?«
»Nein, das habe ich nicht gewusst.«
»Jetzt weißt du es. Mit uns ist es aus. Die Vögel werden aufhören zu singen. Die Sowjets schicken eine Rakete. Amerika schickt eine zurück. Es wird so kalt wie am Nordpol. Denn die Sonne hat aufgehört zu scheinen. Du kannst auch gleich versuchen, das zu begreifen. So einfach ist das. In wenigen Minuten schon ist Schluss.«