Читать книгу Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad - Страница 20
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Die Schule geht wieder los. Jetzt die zweite Klasse. Nicht mehr die Kleinsten. In der großen Pause rücken wir ein wenig näher an die Großen heran. Ledsaak ist anders. Weniger streng, aber ziemlich temperamentvoll. Er will das Gewölbe über unserer Kindheit errichten, wie er sagt. Im Märchenerzählen ist er ein Meister.
Dieser Herbst beginnt hell. Sonne draußen und Sonne auf den großen Bögen, die wir mit Wasserfarben bemalen. Jetzt sind Buchstaben und Phantasie angesagt. B für Boot. D für Drache. A für Alles Mögliche Andere.
Es gibt viele B-Boote mit großen B-Segeln. Blaues Meer. Riesige Sonne am Himmel. Wir gehen in den Eurythmiesaal. Wir stehen kerzengerade da und sagen »Beee«. Wir strecken die Arme aus und sagen »Aaaa«. Wir gehen auf die Waldorfschule, und wir finden das wunderbar, denn es gibt so viel Jux und Spaß, und wenn sie ein seltenes Mal streng sind, ist uns klar, dass es nicht anders geht.
Aber wenn ich male, kommt immer eine Hand, eine freundliche, hilfsbereite Hand, die mir den Pinsel aus der Linken nimmt, langsam, fast liebevoll.
»Nimm die andere Hand. Das ist viel besser für dich.«
Ich gehorche der Stimme, aber sehe sie nicht an. Sie ist nicht Ledsaak. Sie kommt von irgendwo draußen. Sie ist alt. Sie sieht aus wie die Großmutter im Märchen. Oder die Hexe, die mit der Nase im Baumstumpf feststeckt. Sie trägt einen alten blauen Rock und eine grüne Strickjacke, in der Tante Svanhild sich niemals sehen lassen würde.
Dann male ich einige Sekunden mit der rechten Hand, ehe ich merke, dass das unmöglich ist.
Einige Sekunden vergehen. Ich male ein großes Boot in starkem Wind. B für Boot.
Aber dann ist die alte braune Frauenhand wieder da.
Ich sehe die Runzeln an. Die braunen Flecken, die alte Menschen oft bekommen. Warum muss sie so alt sein? Warum kommt sie ausgerechnet zu mir, wieder und wieder?
Das vertraute Gefühl: dass mit mir etwas nicht stimmt.
Aber sie ist nie so lange im Klassenzimmer. Sie ist fast wie eine Fee oder wie eine Hexe, die auf ihrem Besenstiel davonfliegt. Ich habe ihr Lächeln gesehen. Ich habe die Wärme ihrer Hände gespürt.
Ich habe keine Angst vor ihr. Trotzdem macht sie mir Angst.
Sie hat einen vornehmen Nachnamen. Irgendetwas aus dem Westend. Hæsjbærg oder so.
Die anderen nennen sie Fräulein Ätschbätsch.
Ich weiß noch nicht, dass ich einen Gehirnschaden habe. Das erfahre ich viele Jahre später, ungefähr zu dem Zeitpunkt, als ich mich hinsetze, um dieses Buch zu schreiben. Ein Gehirnschaden, der sich in frühem Alter einstellt, und der Zentren in der linken Gehirnhälfte trifft, sodass die rechte Gehirnhälfte einspringen muss. Oder es ist ererbt oder eine Verletzung durch ärztliche Untersuchungen. Aber weder mein Bruder noch mein Vater oder meine Mutter sind Linkshänder. Vielleicht lag es an den Untersuchungen? Während der Schwangerschaft? Haben sie die Wanderungen der Nervenzellen gestört? Bin ich zerstört? Ein Krüppel?
Als ich hier in den Deutschenbaracken in Smestad sitze und mich nach Mads sehne, der einige Tische weiter sitzt, spüre ich, dass die Sonne vor dem Fenster ein wenig erlischt. Ich male nicht mehr so unbeschwert. Jetzt merke ich auch, dass ich mir die Hand mit Farbe beschmiere, wenn ich von links nach rechts male.
Dann wird es ernst.
»Du gehst zu Frau H.«, sagt Ledsaak. »Jetzt sofort?«, frage ich.
Er nickt, ein wenig ausweichend.
»Fräulein Ätschbätsch«, rufen alle Mädchen wie aus einem Mund und lachen hysterisch.
Soll wirklich ich diese Ehre haben? Ganz allein?
Ich stehe auf, hummerrot im Gesicht. So eine Röte habe ich noch nie gespürt. Sie brennt.
Ich muss auf die andere Seite des Schulhofs. Zu dem anderen Hang. Zum Haus im Wald, wie einige voller Schadenfreude sagen. Dorthin, wo die seltsamen Kinder sind. Die, die Hilfe brauchen. Die Mongos. Die Spastis. Es gibt einen Witz, der wie ein Ball bei allen Kindern an dieser Schule herumfliegt. Wir schlagen die Hände vors Gesicht und rufen »Uääääh!« Wir äffen die Verrückten nach. Diese Schule ist so lieb, dass sie auch Verrückte aufnimmt. Wir sind lieb zu den Verrückten, aber sobald sie uns nicht sehen können, machen wir uns über sie lustig. Ihr Geschrei. Es ist so leicht, sie zu verspotten. Auch sie können hummerrot im Gesicht werden.
Vielleicht bin ich verrückt? Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Mongo? Spasti? Im Kino läuft ein Film namens Blick zurück im Zorn. Mads und ich haben in den Schaukästen beim Scala-Kino Bilder von Richard Burton und Claire Bloom gesehen. Ich spüre plötzlich den Zorn. Ledsaaks freundliches Gesicht, wenn er mich auffordert, das Klassenzimmer zu verlassen.
Aber ich will doch nicht zu Fräulein Ätschbätsch. Wir sind mitten in einer spannenden Geschichtsstunde. Wir erforschen die Märchen. Wir beschäftigen uns mit Formzeichnung. Wir malen Engel, Sonnen, Bäume und tausend Sterne. Unsere Kindheit blüht, wie die Erwachsenen sagen. Wenn ich in das Haus im Wald gehe, komme ich als Mongo oder Spast wieder heraus. Muss ich dann für den Rest meines Lebens durch den Melumvei gehen und »Uääääh!« rufen? Muss ich sabbern und trockene Haut bekommen, die schuppt? Muss ich dann Nägelkauen?
Aber das tu ich doch schon!
Das hier ist gefährlich. Mehr als gefährlich. Aber ich habe nichts zu sagen, als ich nun losgehe, mit krummem Rücken und für krank erklärt, über den Schulhof, auf dem sonst niemand herumläuft. Natürlich nicht. Alle Gesunden haben ja Unterricht. Muss ich die nächsten Minuten in einem Raum verbringen, wo Kinder schreien und sich gegenseitig mit Brei bewerfen?
Aber dort ist niemand. Nur sie. Die Hexe. Fräulein Ätschbätsch. Ach, was ist sie alt. Der Geruch von fauligen Pilzen, Kalk und Lavendel. Aber der Lavendel ist eine Fälschung, ein Hilfsmittel aus einer Flasche. Was verbirgt sich in diesem Haus? Folterkammern? Riemen und Nägel? Schallisolierte Zimmer?
Sie zieht mich in die Dunkelheit.
Ein undefinierbarer, süßsaurer Geruch. Eine Spur Kacke, eine Prise übelkeiterregender Zucker.
»Hast du Hunger? Möchtest du ein Karamellbonbon?«
Sie zeigt auf eine kleine Schale, in der einige unförmige, aneinander klebende Kugeln liegen. Bestimmt Spucke und Rotz der Hilfsbedürftigen. Ich weigere mich.
»Iss schon, greif einfach zu.«
»Aber ich will nicht!«
»Die sind lecker, das ist doch klar!« Sie presst mir den Spuckeklumpen in den Mund.
»Igitt! Ich will nicht!«, sage ich. Ich bin jetzt allein mit ihr. Ich halte Ausschau nach einer Waffe.
»Jetzt hebst du es auf! Es liegt dort auf dem Boden!«
Ja, da lag es in seiner ganzen Ekelhaftigkeit. »Das ist Rotz!«, rufe ich. »Den will ich nicht!«
»Du hebst es auf!«
Sie hebt den Arm. Großer Gott. Ich könnte sie jetzt umbringen. Ihr eine Faust in den schlaffen, bebenden Bauch rammen, sie umstürzen und auf ihr herumspringen, wie die Jungen aus der Klasse im vergangenen Winter auf dem Eis des Smestaddam herumgehüpft sind, bis das Eis barst und die Jungen einbrachen. Fast wären sie ertrunken.
Aber hier bei Fräulein Ätschbätsch gibt es kein Wasser. Nur Kiefernholzboden. Ich fange an, groß und fett zu werden. Ich bin nicht ganz ungefährlich.
»Setz dich«, sagt sie und seufzt. Der Spuckeklumpen ist plötzlich vergessen. Ich begreife nichts mehr.
Sie sitzt neben mir. Nimmt meine Arme, fängt an, sie zu bewegen, wie Tormod und ich das gern vor dem Radio machen, wenn Mutter eine ganz besonders schöne Symphonie gefunden hat.
»Das ist dein Werkzeug«, sagt sie.
»Ach«, sage ich.
»Jetzt wirst du lernen, es richtig zu benutzen.«
Ich spüre es tief in mir. Sie versucht, das, was links ist, nach rechts zu verlagern. Aber das geht nicht im Handumdrehen, so wie sie glaubt. Nun beginnt sie mit Kinderversen. Den allerkindlichsten. Sie findet einen Rhythmus. Ich soll diesen Rhythmus mit Klötzen auf den Tisch schlagen. Das hier ist ernst. Sie hält mich für verrückt. Für einen kleinen Dreck mit Spucke und Schuppen und Krämpfen.
»Ich finde links gut!«, rufe ich plötzlich. »Und Vater ist auch ein Linker! Er sagt nein zur NATO! Nein zu Atomwaffen!« Aber sie hört nicht zu. Sie ist total in ihrer eigenen Welt. Die Klötzchen. Die Rhythmen. Plötzlich höre ich einen Furz. Der kam einfach so aus ihrem Hintern. Ein langes, trauriges Heulen.
»Du furzt«, rufe ich triumphierend.
Sie sieht mich an, ist plötzlich anwesend, ein bisschen traurig. Aber das dauert nur einige Sekunden. Dann ist sie wieder im Rhythmus. »Uääääh!«, rufe ich.
Ihr ist das egal. Sie ist daran gewöhnt. Ich bin jetzt ein Verrückter. Ein kleiner sabbernder Drecksack, der im Heim wohnt. Den Melumvei werde ich niemals wiedersehen.
Ein Zustand entsteht. Das Geräusch der Klötzchen, die auf den Tisch auftreffen, klingt wie die Maschinengewehre aus einem Weltkrieg. »Hoppi doppi stoppi ploppi!«
Was glaubt sie denn, mit wem sie redet? Für wen hält sie sich?
Ich springe auf. Versuche, den Tisch umzustoßen. Aber das schaffe ich nicht.
Wir stehen in der Türöffnung, alle beide. Sie drinnen. Ich draußen. Wir sind die Überlebenden einer Schlacht.
»Ich finde, das ging gut«, sagt sie. »Du warst tüchtig.«
Ich war tüchtig? Ich sehe sie mit Tränen in den Augen an. So einer Wut bin ich bisher nie auch nur nahegekommen. Nicht einmal, als mich die Nachbarjungen gezwungen haben, mich unter ihren Pointer zu legen. Wie rot bin ich jetzt? Kochrot? Hummerrot? Wenn ich noch röter werde, kriege ich Wundbrand im Gesicht. Mutter sagt, Wundbrand sei gefährlich.
»Kann ich gehen?«, frage ich und stelle im selben Moment fest, dass Pause ist, dass meine ganze Klasse in beruhigender Entfernung steht, nur einige Meter weiter.
»Ja, du kannst gehen«, sagt sie mit ihrem liebenswürdigsten Lächeln. Dann entdeckt sie die anderen. »Ist er nicht tüchtig?«, ruft sie ihnen zu. Die anderen nicken und kichern. »Bald schreibt er mit rechts!«
»Uääääh!«, rufen die anderen zurück.
»Fräulein Ätschbätsch«, rufen die Mädchen. Aber sie hört nichts.
»Geh jetzt«, sagt sie mit sanfter Stimme. Ich verspüre eine kolossale Erleichterung.
Aber dann fügt sie hinzu: »Das war vielversprechend für eine erste Stunde. Dann sehen wir uns nächste Woche um dieselbe Zeit. Und in der Woche darauf. Und in der Woche darauf. Sprich mir das nach und heb dabei die Hände in die Luft. Sei fest und rhythmisch. So, ja. Die Woche darauf. Die Woche darauf. Und die Woche darauf …«