Читать книгу Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad - Страница 8
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Zu Silvester 1959 hatten sich alle im Melumvei im Wohnzimmer versammelt. Tante Svanhild war auch da. Sie hatte einen Kellerkuchen in einer Brotform mitgebracht. Bis sie geklingelt hatte, hatte der Vater seine Zeitung gelesen. Der Vater hatte gesagt, dieser Abend sei eine Zeitenscheide. Aber der Sohn wusste nicht, was eine Zeitenscheide war. Bei diesem Wort wurde ihm unbehaglich zumute. Weil da offenbar etwas war, das er hinter sich zurücklassen sollte. Er hasste es, etwas wegzuwerfen.
Draußen war finstere Nacht. Aber im Zimmer brannten alle Kerzen, auf den Fensterbänken, auf dem Kaminsims und auf den Tischen. Die Mutter hatte sogar auf den Nähmaschinentisch und neben die Fotografien, die sie retuschierte, Kerzen gestellt. Er fand es schön, dass sie Kerzen so liebte. Sie konnte davon nicht genug bekommen. Und deshalb konnte er das auch nicht. Sie hatten Blätterteigmuscheln mit Fischpudding in Sahnesoße gegessen. Er hatte roten Saft getrunken. Er hätte satt und glücklich sein können, aber er hatte »einen Kloß im Hals«, wie seine Mutter das immer nannte, wenn sie ganz besonders unglücklich war. Er hatte alles ruiniert. Das konnte er sehen. Er sah, wie sie sich zusammenriss. Tante Svanhild war seine Lieblingstante. Sie wohnte in Frogner, in der Gabelsgate, und sie hatte seit vielen Monaten schon Fernsehen, obwohl der norwegische Rundfunk NRK offiziell noch gar nicht sendete. Aber es gab Testprogramme. Die Olympischen Spiele in Rom sollten übertragen werden, und sicher auch die Winterspiele in Squaw Valley. Sogar Finnmark sollte innerhalb weniger Jahre an das Fernsehnetz angeschlossen werden, vielleicht schon 1969. Ihm kam das unendlich weit weg vor. Aber Tante Svanhild versuchte, optimistisch zu wirken, obwohl er sicher war, dass auch sie am liebsten geweint hätte. Sie erzählte davon, dass die Sendemasten von Berg zu Berg aufgestellt werden mussten, durch Gudbrandsdalen und Østerdalen, dann weiter durch Trøndelag, wo es immer wieder zu schrecklichen Erdrutschen kam, ganz zu schweigen von Westnorwegen, zwischen den verschlungenen Fjorden und bei den vielen Schafzüchtern in verdreckten Kleidern, die noch nicht einmal anständig Norwegisch reden gelernt hatten. Sie sprach tapfer über ihre beiden neuen Idole Kari Borg Mannsåker und Erik Diesen, die die Testsendungen moderierten. Sie seien so zuverlässig und ruhig und gebildet, sagte sie. Die Redaktion für Fernsehspiele hatte zudem zehn Schauspieler verpflichtet, und man sollte einen Anspruch auf fünf Minuten Übertragung von Sportveranstaltungen haben, auch wenn der Sportverband überaus skeptisch war.
Er befand sich tief in seinem eigenen Kopf und hätte ihn gern gegen eine Wand geschlagen. Mal um Mal, immer wieder, bis es wehtat. Und selbst dann wäre er noch immer nicht gestraft genug. Warum hatte er das gesagt?
Die Eltern hatten sich gestritten. Es war erst vier Stunden her. Eine ihrer vielen schrecklichen Auseinandersetzungen über Dinge, die er nicht begriff. Ein Essen für Ingenieure. Die vielen dummen Mannsbilder, die die Mutter verachtete. Sie wollte nichts mit ihnen zu tun haben, nicht mit ihnen reden, nicht zwischen ihnen sitzen. Die langweiligen Gespräche über den Ausbau der Wasserkraftwerke, die Frauengeschichten, die immer ein bisschen zu weit gingen. Aquavit und Cognac. Die Mutter wollte das nicht! Damit basta. Ihr Vater war zudem Trinker gewesen. Hatte sich auf einem Kreuzfahrtschiff zu Tode gesoffen. War über Bord gefallen. Der verletzte Ausdruck im Gesicht des Vaters. Die Mutter, die bald in Tränen ausbrechen und sagen würde, sie wolle sich irgendwo ein Zimmer mieten. Wenn sie an diesen Punkt gekommen waren, legte er sich immer mit einem Kissen über dem Kopf auf das Sofa. Dennoch konnte er hören, was sie sagten, oder schrien. »Und dann auch noch Tante Svanhild!« Das hatte die Mutter gesagt, als das Geschrei abgeebbt war. Als sie im Badezimmer stand und versuchte, ihren Zorn wegzuschminken.
»Wir können anrufen und sagen, dass es doch nicht geht«, sagte der Vater. Er war immer loyal, nur dann nicht, wenn es um die Ingenieursfeste ging.
»Nein, das ist unmöglich.« Die Mutter seufzte. Aber er begriff, dass seine Eltern sich wieder versöhnt hatten.
Vielleicht, weil er von der Heftigkeit dieser Streitereien erschüttert war, von den hässlichen Wörtern, die diese gütigen Menschen einander sagen konnten, war ihm fast schwindlig, als er die Türklingel hörte und hinlief, um zu öffnen. Da stand sie. Die Lieblingstante Svanhild. Mit dem schwarzen Pelzmantel, den alle Persianer nannten und von dem er später erfuhr, dass er aus den Fellen neugeborener russischer und afghanischer Karakulschafe zusammengenäht war, von Lämmern, die nur einen Tag alt waren, noch feuchtes Fell hatten, nachdem sie in der beschützenden Feuchtigkeit und Dunkelheit ihrer Mutter gelegen hatten. Aber an diesem letzten Dezembermorgen der fünfziger Jahre war es draußen kalt. Bald würde in Europa ein neuer Kälterekord aufgestellt werden, Tante Svanhild hatte rote Wangen, von der Kälte und weil sie sich so freute, wieder dieses Haus in Røa zu besuchen, wo ihre Lieblingsnichte mit ihrem Mann und den beiden Söhnen wohnte. Sie war keine echte Tante. Sie war Großtante. Die Tante der Mutter. Was für ihn aber keine Rolle spielte. Sie hatte all die guten Seiten der Familie der Mutter. Sie war so sehr eine Tante wie jede andere. Er liebte sie. Warum sollte er sie nicht lieben? Diese besondere Vertraulichkeit, vielleicht, weil sie unverheiratet und allein war. Er war auch unverheiratet und allein. Kein blöder Partner mischte sich ein und bat zu Blaubeerpflücken oder Ingenieursessen. Warum also hatte er das gesagt?
»Mutter und Vater wollten eigentlich nicht, dass du kommst.«
Er merkte, wie ein Ruck durch ihren Leib ging, als sie da in der Tür stand. Sie hatte eine kleine, in Papier gewickelte Blume und die Brotform mit dem Kellerkuchen bei sich. Am dritten Weihnachtstag war sie zweiundsechzig geworden. Genau sein Alter jetzt, da er das alles aufschreibt. Aber damals war er erst sieben. Er hatte nicht geglaubt, dass es möglich wäre, sie zu verletzen. Er war doch ein Kind. Sie war ein erwachsener Mensch. Seine Eltern kamen angestürzt. Der strenge Blick der beiden. Er wand sich.
»Das stimmt nicht. Du weißt, dass das nicht stimmt!«
Aber er sah, dass Tante Svanhild traurig war. Sie glaubte den Eltern nicht.
Alles wurde so traurig. Wie 1954, als der Vater die Sonnenfinsternis gesehen hatte. Er selbst hatte offenbar im Kinderwagen gelegen und zugeschaut. Die Vögel, die aufhörten zu singen. Der Vater, der es mit der Angst zu tun bekam. Die Natur, die starb. Etwas starb in ihm, als er sah, dass Tante Svanhild mit den Tränen kämpfte. War es wirklich so schlimm, was er gesagt hatte? Dann musste sie doch einsam sein. Schrecklich einsam.
Und noch hatten sie viele Stunden vor sich. Es war noch lange, bis die Uhr zwölf schlagen würde. Im Radio hörte er Erik Bye »Anna Lovinda« singen.
»Ihr müsstet euch einen Fernseher anschaffen«, sagte Tante Svanhild. »Bald kommt alles im Fernsehen.«
In einem verstohlenen Augenblick ging er in sein Zimmer und machte kein Licht. Die Luna 3 hatte Bilder von der Rückseite des Mondes gemacht. Dort war alles ganz tot. Kein Mensch war zu sehen, auch wenn viele das geglaubt, gehofft, gefürchtet hatten. »Der Mond schüttelte sich wie eine verwundete Schlange«, hatten irgendwelche Mönche gesagt, vor achthundert Jahren, vermutlich, nachdem sie gesehen hatten, wie ein Meteorit mit gewaltiger Kraft auf den Mond auftraf. Die Menschen hatten sich ihr Teil gedacht, Generationen lang. Und noch wusste man nicht, was da oben vor sich ging. Er hatte »Anna Lovinda« im Kopf, als er am Fenster stand und die Straßenlaternen im Melumvei und die Schneewehen anstarrte. Das Liebeslied. Ein Mensch kniet vor einer Frau, die unter einem Kreuz auf einem Friedhof am Meer in der Nähe von Westport an der Küste von Neu-England liegt und zu Staub geworden ist. »Anna … Anna Lovinda.« Im vergangenen Sommer war er mit Münzen in der Tasche bei Hvalstrand durch den Regen gegangen und hatte sich in das Café geschlichen, wo die Musikbox stand. Anna Lovindas Geschichte, wieder und wieder. Die verzaubernde Melodie. Der Text mit dem melancholischen Sog. »Es kommt ein Schiff mit gelöschten Laternen …« Jetzt stand er am Fenster in seinem Zimmer und dachte, er könnte Tante Svanhild heiraten, wenn er etwas älter wäre. Niemand verstand ihn so, wie sie ihn verstand. Er fand auch, dass er sie verstehen konnte. Deshalb war es so traurig, dass er sie verletzt hatte. Die Liebe war grausam. Anna Lovinda war erst 20, als sie am 12. April 1872 starb. Und schon da war sie Witwe gewesen! Ebenezer Hunt, der Kapitän, war im selben Jahr mit seinem Schiff untergegangen, er war fünfundzwanzig Jahre alt. »Ja, schlaf unter Lilien, Anna Lovinda, schlaf süß unter Lilien und Laub. Ein Wanderer hat heute Abend sein Haupt entblößt. Ein Gedanke kniet vor deinem Staub.«
Er hauchte die Fensterscheibe an. Sofort war sie beschlagen. Er schrieb die Buchstaben S und K. Dann zeichnete er um sie herum ein Herz.
In diesem Moment hörte er den Lärm des Feuerwerks.
Er wischte rasch weg, was er geschrieben hatte. Draußen auf der Straße ging ein junges Mädchen vorüber, ganz allein. Woher kam sie? Wohin wollte sie? Und nun hörte er Rufe aus dem Wohnzimmer. »Ketil, jetzt musst du kommen! Du musst kommen, hörst du?«
Die vielen Raketen, die am Himmel barsten, zischten. Es klingt wie Krieg, dachte er.
Die sechziger Jahre hatten begonnen.