Читать книгу Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad - Страница 10

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Er liegt schon lange still da und wartet, hofft, nicht gesehen zu werden. Er liebt seine Eltern. Betet sie beide auf unterschiedliche Weise an. Dennoch weiß er, dass sie einmal begreifen werden, dass dieses Kind, das er mit seinem launischen Körper darstellt, ein Irrtum war, etwas, das sie vergessen konnten, und das sie vielleicht vergaßen, wenn er still genug war, wenn er zu Hause vorsichtig genug die Türen öffnete und schloss, und wenn er nicht mit ihnen darüber sprach, was in der Schule vor sich ging.

Noch hatten sie nicht begriffen, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Aber er hat es an den Blicken gemerkt. Die ersten Tage und Monate in der Schule waren ebenso licht gewesen wie die rosa Farbe an den Wänden des Klassenzimmers. Er fuhr jeden Morgen gemeinsam mit seinem Bruder mit der Straßenbahn von Røa nach Smestad. Das waren fünf Haltestellen. Und wenn sie bei dem roten Klinkerbau ausstiegen, traf der Bruder Klassenkameraden, während er zumeist allein den Weg hinunter zu den alten Deutschenbaracken ging, in denen die Schule am Smestaddam untergebracht war. Er hatte nicht das Bedürfnis, sich irgendjemandem aufzudrängen. Die Unsichtbarkeit, die er zu Hause anstrebte, versuchte er auch im Klassenzimmer zu erobern. Der sein, der sich niemals zeigte. Der niemals gesehen wurde. Das Sicherste war es, allein zu sein. Dann konnte niemand ihm etwas nachweisen.

Der Lehrer schien aus einer anderen Welt geholt worden zu sein. Mild und energisch. Streng, aber nicht gefährlich. Sowie er die Arme hob, wurde es still. Warum war das so, dass der eine den Zauberstab des Gehorsams in Händen hielt, während andere vergeblich gegen eine Wand aus Lärm die Klasse anschrien?

Eines Tages sprach der Lehrer über das Böse. Das hatten wir in uns.

Ja, dachte er, als er da in seiner Schulbank saß. Es war das Böse, das ihn dazu gebracht hatte, die Menschen zu verletzen, die er liebte. Als Tante Svanhild an jenem Abend zur letzten Straßenbahn nach Hause gegangen war, stand er leer und verzweifelt in der Türöffnung und blickte ihr hinterher. Er wollte nicht, dass sie ging. Er wollte ihr hinterherlaufen, die Arme um sie schlingen und rufen, dass er dumm gewesen sei, dass er nicht wisse, was in ihn gefahren war, dass es auf der ganzen Welt keinen Menschen gebe, den er lieber zu Besuch haben wollte als sie.

»Gesteht!«, sagte der Lehrer.

Ja, dachte er. Aber er sagte nichts. Zu gestehen würde auch bedeuten, sich sichtbar zu machen.

»Denn auch wenn ihr Kinder seid, habt ihr gesündigt«, sagte der Lehrer.

Niemand wollte das erste Geständnis ablegen. Draußen war Winter. Der Schnee türmte sich zu Wehen auf, nur nicht auf der Ullernchaussee, wo Salz gestreut worden war und die Autos vorsichtig in braunem Matsch hin und her fuhren.

Er sehnte sich nach Stille.

Aber in dieser Stille hier konnte er es nicht aushalten. Diese Stille war wie das Geräusch von Metallplatten, die sich ineinander bohrten. Sie war der Schrei, den er immer im Traum hörte, ehe er aufwachte.

Er hob die Hand.

»Ja«, sagte der Lehrer, streng und beifällig zugleich.

Er schaute sich um. Diese vielen Gesichter. Dreißig Kinder in seinem Alter. Aber er dachte nie daran, dass sie Kinder waren. Kluge Gesichter. Freundliche. Gemeine. Geruch und Ausdünstungen der vielen Körper. Ungewaschene Kleider und Pullover, die vage nach Parfüm rochen. Die Schlimmsten unter den Jungs, die nach ranzigem Fett und schalem Zigarettenrauch rochen. Die schönsten Mädchen, die nach Pfirsich und Flieder dufteten.

»Ja?«, wiederholte der Lehrer.

Er starrte das unscheinbarste Mädchen an, die mit den glatten blonden Haaren. Die in Huseby wohnte. Die Hübscheste. Die, die nie ein Wort sagte.

Er hatte sie nie angerührt. »Ich hab sie umgestoßen.«

Sie wurde rot, denn er starrte sie noch immer an. »Du warst gemein zu ihr?«

»Ja, ich habe sie umgestoßen. Auf dem Schulhof. Ich tu das nie wieder.«

»Bitte um Entschuldigung«, sagte der Lehrer. »Entschuldigung«, sagte er.

Sie deutete ein Nicken an und schlug die Augen nieder.

»Gut«, sagte der Lehrer. Er war zufrieden. Er setzte den Unterricht fort. Er hörte nicht, dass die Stille weiterging. Sie wuchs und wuchs. Wurde gewaltig. Dann fing sie an zu zittern.

Die Stille zwischen ihm und ihr.

Er glaubte, alle könnten das hören, noch viele Jahre danach. Aber er bekam sie nie.

Die Welt, die meine war

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