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2.2.1 Inspiration durch die Familientherapie von Virginia Satir
ОглавлениеVirginia Satir wird auch als Mutter der Familientherapie bezeichnet. Sie lebte von 1916 bis 1988 in den USA, hatte soziale Arbeit studiert und eine psychoanalytische therapeutische Ausbildung absolviert. Am Mental Research Institute in Palo Alto bei Stanford (USA) entstand unter ihrer Leitung das erste familientherapeutische Ausbildungsprogramm der USA.
Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit war die Entwicklung der Familienskulptur. Bei dieser Technik erhalten die Klienten ein systemisches Verständnis über sich selbst und über ihre Beziehungen, indem das Verhalten und die Art der Beziehungen innerhalb einer Familie zueinander symbolisch als Skulptur dargestellt werden. So werden bis dahin nicht sichtbare Bindungen und »festgefahrene« Kommunikationsabläufe aus einer anderen Perspektive deutlich und haben die Chance zur Heilung. Die therapeutische Arbeit mit Seilen oder auch sogenannten Lebenslinien stellten ebenfalls ein Modul ihrer kreativen Arbeit dar.
Eine weitere Entwicklung von Satir war das dynamische Modell der Familienrekonstruktion, das Peter Nemetschek in ihren Workshops kennenlernte: Familienregeln, Schutzmechanismen, Überlebensstrategien, Verhaltensweisen und Ressourcen entstehen grundsätzlich in jeder Familie. Bei der Familienrekonstruktion wird nun über drei Generationen hinweg betrachtet, wie diese ungeschriebenen Gesetze von einer Generation zur nächsten transportiert und kontinuierlich weiterentwickelt worden sind. Ziel war es, den Klienten diese generationsübergreifenden Muster bewusst zu machen. Satir visualisierte die Regeln und die Weiterentwicklung von Generation zu Generation durch eine Abfolge von Skulpturen. Bei ihrer Arbeit beginnt sie mit der Liebesgeschichte der Großeltern aufseiten beider Eltern. So erscheinen die Großeltern als junge Menschen, die ineinander verliebt waren, mit ihren damaligen Eigenschaften, Hoffnungen, Verrücktheiten, Wünschen … Zudem werden die geschichtlichen, politischen, kulturellen und individuellen familiendynamischen Aspekte betrachtet: Was ist im Leben dieser Zwei passiert, als sie geheiratet, Kinder gezeugt haben und eine Familie wurden. Auch das Genogramm (Visualisierung des Familienstammbaums aus systemischer Sicht) wird zur Klärung und Unterstützung eingesetzt: Es entwickelt sich ein psychodramatisches Standbild anhand von Erinnerungen, Familiengeschichten, unbewussten oder bewussten Informationen oder auch Fantasien. So entstehen auch entsprechend die jeweiligen Beziehungsskulpturen der Großeltern. In der zweiten Generation begegnen sich nun die späteren Eltern als Liebespaar. Satir setzt Rollenspieler ein: Die Person, deren Familie rekonstruiert wird, schaut von außen zu. Sie sieht auch ihre eigene Entwicklung aus einer neuen Perspektive, kann ihre Zeugung und Geburt betrachten, sieht sich als Kind und Jugendliche, sieht ihr eigenes Heranreifen. Der Klient kann zum Beispiel hineingehen und sein inneres Kind in den Arm nehmen oder den Eltern versöhnlich die Hände reichen.
Bei den Arbeiten von Satir entsteht eine tiefe Alltagstrance, wobei sie den Prozess mit viel körperlicher und seelischer Nähe begleitet. Sie unterstützt beim Formulieren und lässt Raum für Prozesse: »Sag’s in deinen Worten« (Nemetschek 2006, S. 77). Auch aussöhnender Humor stellt eine wichtige Komponente dar im Sinne von »aus der Tragödie eine Komödie machen« (ebd.). Für die Familie entsteht mittels der Skulpturen eine Metapher, die sie sehen und fühlen kann – es entsteht ein gemeinsames Bild. Aus unterschiedlichen Betrachtungsweisen und Innenwelten entwickelt sich eine neue Perspektive, die zu neuem Konsens und einem gemeinsamen systemischen Rahmen führt.
Virginia Satir vermittelt in ihrem Fließmodell auch, wie aus der Arbeit mit mehreren Personen gleichzeitig eine neue ressourcenvolle Metapher entsteht: die Familie als sprudelnde Quelle von Ressourcen, als lebendiger Organismus, der sich in permanentem Fortschritt befindet – anstelle einer defizitären Betrachtungsweise. Bei ihren Arbeiten waren die Sinne im Fokus: jemanden berühren, etwas (auch körperlich) darstellen, mit allen Sinnen arbeiten, sich im Raum bewegen, statt nur zu sitzen, nachzudenken und zu reden.
Die Existenz von Selbstheilungskräften innerhalb der Familie und in den einzelnen Familienmitgliedern ist eine Grundannahme der systemischen Familientherapie.
All das sind Faktoren, von denen Peter Nemetschek sich hat inspirieren lassen und die Einfluss auf das Lebensflussmodell genommen haben.