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Abiball

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„Cool, ist das die Frau aus deiner Topfpflanze?“, Naikes Kombinationsgabe und unaufgeregte Natürlichkeit waren einfach entwaffnend.

Jupp deutete auf seine Uhr.

„Meine Rede!“, fiel es mir siedend heiß ein. Chiòcciola konnte ich in dem Zustand nicht mitnehmen. Obwohl ich sie vorhin so gern an meiner Seite gewusst hätte. Schweißperlen standen ihr auf der Stirn und sie atmete heftig. Alleine lassen in diesem Zustand, kam ebenfalls nicht infrage. Aber ich konnte doch auch nicht einfach wegbleiben, meine Rede stand gleich am Anfang auf dem Programm. Der Schuldirektor, die Elternvertreter, dann war ich an der Reihe!

„Ich übernehme das“, meinte Dennis.

„Soll ich dir den eBook-Reader holen?“

Dennis zog seinen eigenen aus dem Jackett. „Meinst du, ich hätte dich ohne Backup-Lösung dahingehen lassen?“

Dennis ist ein Schatz. Wirklich. Toll, so einen Bruder zu haben.

„Ich bleibe hier! Das ist spannender, als so eine doofe Feier“, Naike wirkte entschlossen.

Dann brachen Jupp und Dennis auf. Ma würde, von den Terminen, die sie gerade in der Hauptstadt hatte, direkt dorthin fahren, hatte sie am Vormittag verkündet.

Chiòcciola schien inzwischen zu schlafen, sie wirkte erschöpft.

„Die ist wirklich sehr schön, die Frau aus der Pflanze.“

Ach Naike, was bist du doch für eine tolle Schwester geworden!

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‘Es gilt das gesprochene Wort.’ Das steht immer unter den Redemanuskripten die im Referat „Reden und Texte“ für Pa ausgearbeitet werden.

Dennis betrat das Rednerpult, als Annika aufgerufen wurde. Unter dem allgemeinen Gemurmel rückte er sich das Mikrofon zurecht.

Liebe Mitschülerinnen, liebe Mitschüler! Liebe Lernende, Lehrende und Erziehende! Liebe Anwesende und Abwesende, die uns in Herzen und Verstand verbunden sind!

Soweit sind das die Worte meiner Schwester, die im Redemanuskript stehen, und zu deren Folgesätzen ich gleich zurückkehren will.

Vorab möchte ich allerdings ein paar eigene Worte einflechten. Ich weiß, sie haben meine Schwester erwartet und sind zurecht zumindest irritiert. Meine Schwester lässt sich auf das Herzlichste entschuldigen. Fünf Minuten vor unserer Abfahrt haben sich bei uns sehr persönliche und unerwartete Dinge ereignet, die ihr die Anwesenheit an diesem Pult nicht gestatten. Deshalb bin ich eingesprungen, ihre ausgearbeitete Rede, die sie so gern selbst vorgetragen hätte, hier in ihrem Namen zu präsentieren. Manchmal macht es uns das Leben nicht einfach, die richtige Entscheidung zu treffen. Und oft reicht die Zeit nicht einmal dazu, lange über diese Entscheidungen nachzudenken. Aber ich glaube, Annika hat spontan die richtige Entscheidung getroffen. Eine, bei der Herz und Verstand zudem auf gleicher Wellenlänge sind.

Hoffen wir, dass ich ein halbwegs erträglicher Ersatz für sie sein kann. Und damit übergebe ich wieder an meine Schwester. Seien Sie also nicht zu irritiert, wenn Rede und Sprecher vielleicht für sie nicht immer im Einklang miteinander sind. Ich kenne die Rede meiner Schwester und es bereitet mir keine Schwierigkeiten, sie sowohl vorzutragen, als auch hinter ihr zu stehen.

Es ist mehr als ein Jahrzehnt vergangen, seit wir angefangen haben, die Schrift zu lernen und sie später auch zu gebrauchen. Die Schrift war es, die den Menschen erlaubte, Gedanken über Generationen hinweg zu konservieren, statt sie nur im direkten Austausch der Generationen im gesprochenen Wort zu vermitteln. So konnten Brücken geschlagen werden über Jahrhunderte hinweg. Die Gedanken vieler Generationen konnten gegeneinander abgewogen werden und zu neuem, zu lebendigem Denken in unserer Zeit verwoben werden.

Und wie jede Zeit, hat auch unsere Zeit neue Herausforderungen an uns. Wir, die wir heute handeln, handeln nicht automatisch besser oder schlechter als die, die vor uns gehandelt haben, aber unser Handeln muss sich an den konkreten Problemen und Konflikten, die uns aktuell begegnen, neu messen lassen. Dabei hilft uns das Handwerkzeug, das wir in den vielen Jahren, die hinter uns liegen, teils mit Freuden, teils aber auch mit Tränen erworben haben. Wir wissen nicht, wie unsere Vorfahren heute handeln würden, aber wir wissen, wie sie angesichts der Probleme ihrer Zeit gehandelt haben. Dieses Wissen, dieses Handwerkszeug, ist keine Garantie für eine sorgenfreie Zukunft mit kontinuierlich richtigem Handeln, sondern das Rüstzeug, um weiter durch das vor uns liegende Leben lernen zu können.

Viele der Anwesenden haben mich in den letzten Jahren als eine Person kennengelernt, die nicht immer bequem ist, wenn es um Denkstrukturen geht, die aktuell en vogue sind, mir aber nicht spontan einleuchteten. Und so will ich da heute Abend auch keine Ausnahme von machen.

Wir treten hinein ins Leben als Erwachsene. Doch was heißt das? Welche Ziele verfolgen wir, was hat das Leben mit uns vor?

Jede Zeit, hat ihre eigenen eingetretenen Pfade. Wie in Geleisen verläuft das kommende Leben für viele von uns. Andere suchen sich ihre eigenen Pfade und hoffen, ihr Glück auf eigenen Wegen zu finden. Dennis, mein Bruder, beschäftigt sich mit dem Thema Weltraum, seit ich denken kann. Sein Weg als Raufahrt-Ingenieur war ihm vielleicht schon in die Wiege gelegt. Wenn mich jemand hingegen mit fünfzehn gefragt hätte, was ich einmal werden will, hätte ich bestenfalls Tierärztin sagen können. Mehr wäre mit beim besten Willen nicht eingefallen.

Nun bin ich ein paar Jahre älter, und es scheint mir heute so selbstverständlich, was ich machen will, dass sich mich für einen Studiengang in Molekularbiologie beworben habe. Eine Menge Ereignisse in meinem Leben waren notwendig, dass es dazu gekommen ist. Und das war gut so.

Gut kann es aber auch sein, wenn sich jemand nach dem Abitur aus ganzem Herzen für die Rolle als Mutter entscheidet und eventuell später erst andere Wege geht. War es für unsere Großmütter eine Selbstverständlichkeit, so erfordert ein solcher Weg heute sogar fast mehr Mut als der Gang in die Universität. So wichtig die Errungenschaften der Emanzipation auch sind, und den Kämpferinnen des vergangene Jahrhunderts gebührt unser Respekt und Dank, diese neuen Freiheiten dürfen letztlich nicht dazu dienen, andere Menschen im umgekehrten Weg ein Leben aufzuzwingen, das ihnen nicht liegt, oder schlicht jetzt noch nicht zusagt. Das Leben ist im stetigen Fluss und deshalb erlauben Sie mir die letzte These noch einmal umzukehren. Wir müssen als Gesellschaft natürlich ebenso akzeptieren, dass Väter sich nach dem Abitur eine Auszeit nehmen, die Familie versorgen, während ihre Frauen oder Männer der Erwerbsarbeit nachgehen, um die junge Familie zu versorgen.

Ein Raunen ging durch die Menge.

Ich habe niemanden versprochen, dass meine Rede angenehm weichgespült sein wird. Wir stehen an einem Wendepunkt - eine Reifeprüfung sollte eine solche Zäsur sein - und da bietet sich auch ein Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse an, wie sie waren, wie sie sind, und wie sie perspektivisch seien könnten.

Viele von uns, deren Schulzeit nun hinter uns liegt, schreiten in eine Zukunft, die bereits jetzt geplant ist. Diese Phase der Muße, diese Monate des Nichtstuns, die nun vor uns liegen, sind willkommen, um Kraft zu sammeln für die kommenden Anstrengungen. Andere benötigen diese Phase vielleicht, um noch den zu gehenden Weg abzustecken, zwischen verschiedene Optionen zu entscheiden. Und wieder andere stecken im Gestrüpp der Entscheidungen so fest, dass sie gar keinen Weg finden.

Uns allen möchte ich Mut machen, uns in den kommenden Wochen Zeit füreinander zu nehmen. Offen miteinander ins Gespräch zu treten und auch offen denen unseren Dank auszusprechen, die uns in den letzten Jahren, Monaten und Wochen mit Rat und Tat unterstützt haben auf dem Weg zu diesem Etappenziel, das wir heute feiern wollen.

Während der Rede scheinen einige vergessen zu haben, dass es gar nicht Annika war, die auf dem Rednerpult stand, sondern Dennis. Jedenfalls kam Jessica hinterher spontan auf Dennis zu, umarmte ihn und sagte „Danke, Annika!“

Der Rest der Feier war zwar recht nett, aber Dennis, hatte nicht so rechte Lust, lange zu bleiben.

Er kassierte noch vereinzelt Lob, für die Gedanken, die sich seine Schwester gemacht hätte und seinen Mut, diese so vorzutragen. Eine feministisch äußerst aktive Lehrerin unterstellte ihm erbost, dass er seine eigenen, stark rückwärtsgewandten Familienideologien heimlich im Namen seiner Schwester vorgetragen hätte, und er somit eine Situation der Hilflosigkeit schamlos ausgenutzt hätte.

Der Direktor kritisierte, dass er seine Redezeit überschritten hätte, das müsse beim nächsten Mal anders werden. Dennis versicherte ihm, dass er sich bei seiner nächsten Abi-Feier kürzer fassen würde.

Jessicas Eltern lobten, dass die Rede nicht zu zeitgeistig wäre und auch heutzutage nicht hofierte Gedankengänge enthalten hätte.

Nachdem er seine Mutter im Gewühl gefunden hatte und sie artig alle nötigen Hände geschüttelt hatten, sagten sie Jupp Bescheid, dass er Feierabend machen könne, und fuhren dann relativ früh mit Mas Auto vom Ball zurück nach Hause. Unterwegs erzählte er ihr von Chiòcciola, dass sie wieder zurück sei. Allein, und doch irgendwie zu zweit.

Geliebtes Alien

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