Читать книгу Liebe, rette mich! - Kilda Cirus - Страница 4

Liebe

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Die Schmerzen in meiner Blase dehnen sich auf den gesamten Unterleib aus, ich fange an zu schwitzen. Ich atme flach, wie von allein ziehen sich die Muskeln zusammen, obwohl ich versuche, sie zu entspannen, um die Schmerzen ein wenig länger auszuhalten. Seit geraumer Zeit atme ich durch den Mund und trotzdem infiltriert der widerliche Geruch der Toilette den gesamten Bus. Schon der Gedanke, diesen Ort zu betreten, ruft Übelkeit in mir hervor. Als ich mich erhebe, gehorchen die verspannten Muskeln nur widerwillig. Ich trete an meiner Nachbarin Mary, einer Engländerin, vorbei in den Gang. Sofort schnellt ein Mann zu mir, packt meinen Arm. Ich sehe in seine schwarzen Augen und ein Schauer durchfährt mich. Da ist nichts. Kein Mitleid, keine Frage, nur gebündelte Aufmerksamkeit. Ich würge „toilet“ hervor, er nickt und zieht mich nach vorn zur Toilette, öffnet die Tür und schiebt mich hinein. Er schließt die Tür, wartet davor. Ich verriegle sie und bereue, nicht länger ausgehalten zu haben. Beißender Geruch nach Erbrochenem steht in der Toilette, er wird nur vom Anblick des Ganzen übertrumpft. Prompt dreht sich mein Magen um. Ich würge und schlucke die Galle hinunter, bis ich mich beruhigt habe. Ich sehe auf den Boden, weiche den größten Pfützen und Dreckhaufen aus, beuge mich breitbeinig über den Sitz und achte darauf, nichts zu berühren. Der Bus ruckelt und ich versuche, die Bewegungen auszubalancieren. Plötzlich knallt es. Ich zucke zusammen, unwillkürlich stoppt der Urinstrahl. Wieder ein Knall. Stille. Sind das Schüsse? Hat jemand geschossen? Mit voller Wucht brandet die unterdrückte Angst in mein Bewusstsein. Ein kalter Schweißfilm bedeckt augenblicklich meinen Körper, ich ringe nach Luft. Bleibe ich besser in der Toilette, wo ich sicherer bin? Mein Blick flirrt, die Wände kommen auf mich zu. Ich stütze mich gegen sie, doch alles dreht sich. Schnell ziehe ich mich an, halte erneut inne, versuche, ruhig zu atmen. Die Panik lässt sich nicht besiegen. Ich öffne die Toilettentür und trete hinaus. In diesem Moment brandet Geschrei in meine Ohren. Frauen kreischen, Männer schreien. Der Bewacher vor der Toilette ist nicht mehr da, ich bleibe auf dem Treppenabsatz stehen.

Von meiner niedrigen Position aus sehe ich, wie manche Frauen wild um sich schlagen, die Männer halten sie kaum unter Kontrolle. Eine der Frauen tritt einem Entführer in den Schritt, er schlägt sie mit dem Handrücken ins Gesicht, sie bricht über dem Sitz zusammen. Andere Frauen werfen panische Blicke um sich, sie beobachten den Kampf, suchen nach einem Weg zu entkommen. Der Bus fährt mit unverminderter Geschwindigkeit, die Bäume wischen schemenhaft vorbei. Der Hebel über der hinteren Tür ist abgebrochen. Einen Sprung durch eines der Fenster, falls die Scheibe nachgeben würde, wäre der sichere Tod.

Ich sehe nach hinten zu dem Platz, auf dem ich gesessen habe. Der Sitz ist leer. Aus den Augenwinkeln bemerke ich eine Bewegung am Boden. Meine Nachbarin und eine andere Frau liegen ausgestreckt da. Auf Marys Brust zeichnet sich ein größer werdender roter Fleck ab. Ein kalter Schlag trifft mich am Rücken, die Härchen an Nacken und Armen stellen sich auf, Kälte durchflutet meinen Körper. Sie ist erschossen worden! Lebensgefahr. Ich denke nicht, aber das Wort schwebt bedrohlich in meinem Bewusstsein. Ich bleibe, wo ich bin, sehe wieder zu den beiden Frauen, erst zu Mary, dann zu der anderen. Ihr Kopf ist blutüberströmt. Wie hingerichtet. Ich schwanke, halte mich an der Stange fest. Das Bild verschwimmt vor meinen Augen, ich blinzle ungewollt, es wird wieder klar. Marys Gesicht ist blass, sie sieht mich an, so ruhig, ihre großen blauen Augen wie ein unschuldiger Himmel im Sommer. Ich atme drei Atemzüge mit ihr. Dann schließt sie die Augen. Die andere Frau starrt ins Leere. Stille senkt sich über den Bus. Die beiden reglosen Menschen fesseln die Blicke aller Frauen und Männern. Keiner rührt sich, sogar die Entführer nicht. Die Bewegungslosigkeit ist gnadenlos. Da liegt Mary, die ich seit ein paar Stunden kenne, über die ich nichts weiß außer ihren Namen, ihren Wohnort. Ein paar oberflächliche Worte hatten wir gewechselt, so wie man das macht, wenn man sich neben jemanden in den Bus setzt. Es wären zwei Wochen Zeit, in denen wir uns kennenlernen konnten, also nichts überstürzen. Erstmal losfahren in den Urlaub. Aber dann waren sie da, die Entführer, stürmten in den Bus, verboten uns zu sprechen und alle schwiegen. Das Brummen des Motors, der Fahrtwind waren die einzigen Geräusche.

Da liegt Mary in dem engen Gang des Busses. Das Blut läuft millimeterweise immer weiter nach links aus ihrem Körper heraus, in einem kleinen Berg mit einer runden, glänzenden Kante. Ihre Haut schimmert, die blonden Haare sind zerzaust, das helle T-Shirt zerknittert. In der Mitte ist der rote Fleck, hellrot am Rand, dunkler in der Mitte, fast schwarz. Der Brustkorb ist bewegungslos. Ich warte darauf, dass er sich hebt, doch er bleibt starr. Neben Mary liegt die andere Frau so nah an ihr, als wären sie Liebende. Ihre Arme und Beine berühren einander. Doch hier verlässt mich mein Gehirn, ich sehe nur das Blut, diese rote Masse ihres Kopfes, dass meine Augen von allein wieder zu Marys Leiche wandern. Fast erholsam rutschen sie zu diesem dunklen Loch in ihrer Brust und bleiben da. Niemand atmet. Der Fahrtwind rauscht. Der Motor rasselt dumpf.

Dann beugt der Mann, der am nächsten an den zwei Frauen steht, das rechte Knie, hockt sich neben Mary und legt die Hand langsam an ihren Hals. Dasselbe wiederholt er bei der anderen. Er zeigt keine Reaktion. Er hebt Mary hoch. Ihre Arme und Beine hängen wie Säcke nach unten. Seltsam überdehnt. Er läuft den Gang entlang an mir vorbei. Mein Herz schlägt im Takt seiner Schritte. Ich starre Mary an, als ob sie jeden Moment aufspringt und mich anschreit. Der Mann kommt auf mich zu, das Blut in meiner Brust, in meinen Ohren, es schlägt gefährlich kräftig. Die Geräusche werden leiser, ein graues Rauschen ist in mir. Zu viel Stickstoff. Ich muss atmen, atmen, ganz langsam. Ruhig. Der Schweiß rinnt mir den Rücken hinab, er fließt zwischen meinen Brüsten in kleinen Rinnsalen und tränkt den BH. Klarheit. Sauerstoff. Bewusstsein. Ich nehme nur noch Marys fahle Stirn wahr, dann ist der Mann an mir vorbei. Er trägt sie nach vorn in den Bus. Ein anderer nimmt die zweite Leiche. Sie legen beide nebeneinander in den Treppengang.

Ich stehe noch immer an derselben Stelle. Es ist still. Die Frauen taxieren die Entführer mit großen Augen, einige weinen lautlos, manche verstecken sich in ihren Sitzen, ein paar Gesichter sind zu solch schrecklichen Grimassen verzerrt, dass ich wegsehe. Mein Herz pocht wie eine Maschine schmerzhaft in der Brust. Einer der Entführer nähert sich mir, er sieht mich direkt an, fast liegt etwas Bedauern in seinem Gesicht. Er stoppt vor mir und hält mir einen Eimer hin. Er deutet in Richtung des Blutes.

„Wash“, befiehlt er mir brüsk mit starkem russischen Akzent. Widerspruchslos, ja, geistlos nehme ich den Eimer. Der Mann schiebt mich zurück in die Toilette, er drückt mich weiter in den engen Raum, so dass ich zwischen ihm und der Toilettenschüssel eingeklemmt bin. Er fasst den Eimer, an dem meine Hand klebt, hebt beide unter den Wasserhahn, dreht ihn auf. Das Wasser läuft unendlich langsam, ohne Druck. Es ist widersinnig, dass sich dieses Element nicht der Situation anpasst. Es sollte überschäumend aus dem Hahn sprudeln und sich nicht alle Zeit der Welt nehmen. Es macht mich wütend. Der Mann steht zu dicht bei mir. Ich rieche seinen Atem, er stinkt nach altem Rauch. Die Körperwärme des Mannes löst einen Fluchtreflex in mir aus, als ob die Zellen meiner Haut von dieser Wärme abgestoßen werden. Der Mann rückt näher an mich heran, unsere Hüften berühren sich, er legt seine Hand auf meine. Eisige Stiche fahren in mich. Ich kann sein Gesicht nicht sehen, nur seine Hand. Sie ist kräftig, groß, die Finger sind dick. Das Wasser plätschert weiter. In einem plötzlichen Entschluss drehe ich den Hahn zu, packe den Eimer. Der Mann ist überrascht. Ich dränge mich an ihm vorbei aus der Toilette heraus und gehe in den hinteren Teil des Busses, wo das Blut auf dem Boden ist. Die Blicke der Frauen folgen mir, doch in mir ist die Wut über den aufdringlichen Mann, der Ausdruck ihrer Gesichter erreicht mein Bewusstsein nicht. Ich stelle den Eimer neben den blutigen Fleck, tauche die Hände in das lauwarme Wasser, wringe den nach Fisch stinkenden Lappen aus. Meine Oberlippe hebt sich und der Magen liegt wie ein Stein in meinem Bauch, er schmerzt durch die Rippen hindurch. Ich tauche den Lappen in das Blut, es bleibt an ihm kleben und an mir. Ich spüle den Lappen aus, doch je öfter ich das wiederhole, desto dunkler wird meine Hand. Ich versuche, es zu ignorieren, und konzentriere mich auf die Arbeit, auf die Bewegungen, die ich mit dem Arm ausführe, wische das Blut auf. Fast ist es wie rote Farbe. Wären nur die Hände nicht. Als der Boden sauber ist, reibe ich meine Hände kräftig in dem drüben Wasser und wende schnell den Blick ab, Übelkeit steigt in mir auf. Ohne hinzusehen, schrubbe ich meine Hände, bis ich irgendwann doch aufstehe und den Eimer nach vorn bringe. Der Mann, der mich in der Toilette bedrängt hat, steht in der Mitte des Ganges, er lacht mich schleimig an. Ich stelle den Eimer vor seine Füße und mache auf dem Absatz kehrt.

Die Sitzreihe, auf der ich gesessen hatte, ist leer. Mary ist weg, tot, mir ist schwindelig und übel, mich fröstelt. Ich möchte nicht allein sitzen, ich brauche Gesellschaft, auch wenn wir nicht reden dürfen, weil die Entführer alle Gespräche unterbinden. Deshalb setze ich mich auf den Platz, auf dem vorher die Frau saß, die nun tot vorn im Bus liegt. Ihre Nachbarin starrt auf meine Hände. Sie sind fast sauber. Ich zögere, versuche zu lächeln, doch ich merke, dass es missglückt. Ich spüre mein trauriges Gesicht. Die Frau zittert am ganzen Körper. Ich nehme sanft ihre Hand und streichle sie. Sie sieht mich irritiert an, starrt wieder auf meine Hände, lässt ihre aber in meiner und sieht apathisch zum Fenster hinaus. Die anderen Frauen halten den Kopf steif, sehen verstohlen auf die leeren Sitze hinter mir oder taxieren die Entführer angstvoll, nur zwei oder drei sehen die Männer voller Wut und Abscheu an, unverhohlen und ohne Angst. Im Gang, drei Schritte von mir entfernt, steht der Mann, der mir den Eimer in die Hand gedrückt hatte. Sein Grinsen ruft Ekel in mir hervor. Deutlich genießt er die Furcht, die im Bus spürbar ist. Durch die Angst der Frauen wächst die Macht der Männer. Je verschüchterter wir sind, desto leichter beherrschen uns die Entführer. Er sieht mich weiter mit diesem anmaßend widerwärtigen Grinsen an, als ob ich die Nächste sei, die seine Grausamkeit erleben wird. Abscheu steigt in mir auf. Diese widerlichen Männer. Ich würde sie umbringen, um uns zu befreien. Ich würde fliehen, rennen, lügen, alles tun, um hier herauszukommen.

Es ist stockfinstere Nacht. Kein Licht brennt, wir sind weit außerhalb einer Stadt, das letzte Dorf haben wir vor zwei Stunden durchquert. Die russische Taiga umgibt uns wie eine endlose Aneinanderreihung des immer selben Bildes, wie etwas, das alle gefangenen Frauen in diesem Bus einlullt. Sie sind alle still. Jede von ihnen drückt sich in ihren Sitz, als ob die harte Lehne Sicherheit gibt. Einige schlafen oder stellen sich zumindest schlafend, andere sitzen apathisch mit offenen Augen und starren ins Leere. Der Busfahrer bremst leicht, fast lässt er den Bus nur ausrollen. Doch ich höre, wie der Fahrtwind nachlässt, schließlich kommen wir zum Stehen. Der Bus ist innen nicht beleuchtet. Nur durch die Scheinwerfer dringt schwaches Licht hinein. Trotzdem erkenne ich nichts. Was geschieht jetzt? Warum halten wir? Ich starre in die Dunkelheit. Ist dort ein Haus, ein weiterer Bus, irgendetwas? Aber ich sehe nichts, nur die Lichtkegel der Scheinwerfer, milchig, trüb und allein. Niemand rührt sich im Bus, nicht einmal die Entführer bewegen sich. Sie stehen an ihren Posten und beobachten uns aufmerksam. Selbst der vorhin so hämisch grinsende Mann sieht mich nicht mehr an, sondern hat seinen Blick auf die vor ihm sitzenden Frauen gerichtet. Der Busfahrer schaltet die Scheinwerfer aus. Alles wird schwarz. Den Sitz vor mir und die Frau neben mir erkenne ich für einen Moment nicht. Dann gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit. Außerhalb des Busses ist es heller. Der Mond steht im Viertel am Horizont. Welche Himmelsrichtung es ist, weiß ich nicht. Ich habe meine Orientierung verloren. Das kalte Mondlicht erleuchtet die kleine Ebene, auf der wir uns befinden, von der sich die Bäume durch schwarze Flächen abheben. Die Farben sind so still wie die Menschen atemlos. Ich betrachte den Mond und er beruhigt mich, entspannt mich. Ich verdränge den gesamten Bus aus meinem Bewusstsein und fühle keine Angst mehr in den verkerkerten Winkeln meiner Seele. Ich sehe den Mond in seinem klaren, ehrlichen Licht. Er verspricht mir etwas, so scheint es mir. In der Dunkelheit lächle ich leise vor mich hin, als sich die Türen des Busses geräuschvoll öffnen. Der Wind, der plötzlich hinein fegt, weht einen stechenden Geruch von Urin und Erbrochenem durch den Bus. Ich halte mir die Nase zu. Zwei der Entführer laufen im Bus nach vorn, ihre schwarzen Gestalten heben sich ungenau von der dunkelgrauen Masse ab, einer läuft die Treppe nach unten, der andere bleibt oben stehen. Sie bücken sich, heben eine der beiden toten Frauen hoch und tragen sie nach draußen. Wieder zucke ich zusammen, höre den Knall erneut, den zweiten Knall, rieche das Erbrochene, den Kot, den Urin der Toilette, auf der ich war, während Mary und die andere Frau erschossen wurden. Die Bilder überfluten meinen Kopf. Wieder wird mir übel und ich starre in die Dunkelheit, schlucke die Galle hinunter, versuche, mich abzulenken, aber der Mond steht auf der anderen Seite des Busses und ich sehe nicht, was die Männer draußen machen. Sie kommen wieder in den Bus und tragen die zweite Leiche hinaus. Mit ihnen verlässt der dicke Fahrer den Bus. Die drei Männer bleiben weg. Alle warten. Dann ein Geräusch. Ein Brummen, ein Motor, ein großes Fahrzeug, das sich nähert. Es klingt nach einem Lastwagen, der Motor rasselt jetzt, seine Scheinwerfer leuchten in den Bus.

Das kalte Licht lässt die Frauen blass und krank aussehen, die Ecken des Busses bleiben dunkel, schemenhaft verändern sich die Schatten, tanzen bizarr an der Decke, verstecken die Bewacher in ihren schwarzen Anzügen. Ich drehe mich im Sitz, sehe in das Licht, aber es blendet nur. Ich kneife die Augen zusammen, verfolge die Fahrt des ankommenden Lastwagens, bis er knapp neben dem Bus hält. Sofort erlöscht das Licht und vollkommene Schwärze umgibt uns. Die Türen klacken auf, leises Stimmgemurmel, ein lautes Knacken, das mich zusammenschrecken lässt, dann ein Summen wie von einem Elektromotor. Neugierig stehe ich auf, trete in den Gang, starre in die Dunkelheit. Was geht dort vor? Plötzlich ist jemand neben mir, greift so brutal in meinen Nacken, dass ich aufschreie. Ohne den Griff zu lockern, drückt er mich in den Sitz zurück. Dann lässt er los. Automatisch reibe ich die Nackenmuskeln und sehe den Mann an, doch er hat sich bereits von mir abgewandt, geht zwei Schritte weg, stellt sich in den Gang und lässt diesen gleichgültigen Blick über mich gleiten, dass mich schaudert. Die anderen Entführer beobachten die Frauen nun mit höchster Aufmerksamkeit. Die Tür ist geöffnet. Wenn ich vorn im Bus säße, würde ich dann versuchen zu fliehen? Ich weiß es nicht. Ich sitze hinten und vier Männer trennen mich von der offen stehenden Bustür. Wieder warten, doch die Frauen werden unruhig, ihre Köpfe bewegen sich, das Weiß ihrer Augen funkelt im schwachen Licht, sie suchen mit den Augen nach Verbündeten, nach einem Zeichen, damit alle gleichzeitig losstürmen und den Weg in die Freiheit finden. Aber die Entführer ahnen es. Schnell ziehen sie ihre Waffen, laden sie, halten sie schussbereit in der Hand. Ein verärgertes Raunen durchflutet den Bus, dann wird es wieder still. Kurz darauf verstummt das Summen außerhalb des Busses. Geräusche, die ich nicht zuordnen kann, erfüllen die Luft. Dann ist es still. Nichts rührt sich, keiner spricht. Mit angehaltenem Atem sehe ich zur Frontscheibe hinaus.

Sich durch eine schwarze Silhouette von der schwach erleuchteten Ebene abhebend, kommt jemand die Treppen des Busses herauf. Durch das trübe Hintergrundlicht erkenne ich die Gestalt nur grob. Es ist ein Mann. Er ist im Vergleich zu den anderen Bewachern nicht groß, es ist keiner der beiden, die die Leichen aus dem Bus getragen haben, diese mussten die Köpfe einziehen, als sie den Bus verließen. Dieser Mann geht aufrecht in den Bus hinein. Dem bisherigen Anführer reicht er bis zur Schulter. Die Autorität des kleinen Mannes büßt dadurch nichts ein. Er spricht ein paar leise Worte, dann verlässt der große Mann den Bus. Ich starre den neuen Mann an. Ist er die Lösung des Ganzen? Klärt er alles auf? Wieso kommt er in diesen Bus? Wie hat er ihn gefunden? Oder ist das Ziel unserer Entführung erreicht und wir werden verkauft oder hingerichtet oder vergewaltigt? Die Gedanken schießen durch meinen Kopf, obwohl ich lieber an Flucht denken will oder an irgendeine List. Aber in dieser Hinsicht lässt mich mein Gehirn im Stich. Ich sehe den neu angekommenen Mann nicht, aber ich will es unbedingt. Ich will sein Gesicht sehen und ich will ein sympathisches Gesicht sehen, ein freundliches, das mich anlächelt und das mir sagt, dass mir nichts passiert. Stattdessen sehe ich nur einen schwarzen Umriss vor der großen Frontscheibe des Busses. Es fühlt sich an, als schweife der Blick des Mannes über jede einzelne der Frauen, als mustere er sie. Unwillkürlich zucke ich zusammen, als er in meine Richtung schaut. Ich fühle mein Herz gegen die Rippen pochen, Hitzewellen durchfluten meinen Körper, obwohl mir kalt ist und ich zittere. Lass diesen Mann die Lösung bringen! Tu irgendjemand irgendetwas, dass wir hier heil herauskommen! Er sagt nichts, rührt sich nicht. Ich wende den Blick ab, schlage die Augen nieder, hole tief Luft und versuche, diesen Mann mit seiner aufdringlichen Aura zu ignorieren. Er starrt mich noch immer an, ich fühle es. Ich schließe die Augen und beiße den Kiefer so fest zusammen, dass mir alle Zähne schmerzen und ich vom Sog zu dem Mann befreit werde. Ich konzentriere mich auf den Schmerz in jedem einzelnen meiner Zähne, bis das Bild dieser schwarzen Silhouette des Mannes mit dem durchdringenden Blick in mir selbst schwarz wird und sich auflöst. Ich öffne die Augen. Damit ich nicht wieder den Mann anstarre, sehe ich zum Mond. Immer noch steht er tief am Himmel, kahl, so gleichsam unspektakulär wie faszinierend und lächelt doch genauso wie der Allwissende selbst.

Schritte auf der Treppe lenken meine Aufmerksamkeit nach vorn, erneut betritt ein Mann den Bus, doch er setzt sich ohne einen Blick auf die Frauen hinter das Steuer. Der Busfahrer löst die Handbremse, mit dem typischen Zischen setzt sich der Bus in Bewegung. Alle sind still, bis auf das Brummen des Motors höre ich nichts. Die beiden Männer, die den Bus verlassen hatten, fehlen. Sie sind in der Dunkelheit geblieben, aber ihr Schicksal interessiert mich nicht. Sie können von mir aus in dieser Ebene verdursten und kein Tropfen Mitleid würde durch mein Herz fließen. Meine Nachbarin schließt die Augen. Ich kann nicht schlafen. Ich bin nicht müde. Ich betrachte wieder den Mond, die dunklen Schatten auf der hellen Oberfläche, Gebirge, Täler, die von der Entfernung aussehen wie halbdurchsichtige Löcher in einer Scheibe. Die seltsam formlose Landschaft schwimmt im milchigen Licht dahin. Sie lenkt mich nicht ab. Eine Unruhe hat mich gepackt, die ich nicht beherrschen kann. Meine Nachbarin schläft mit dem Kinn auf ihrer Brust wie ein übermüdetes Kind. Ihre Ruhe führt mir meine Nervosität deutlich vor Augen. Ich kann nicht schlafen, ich will leben. Und ich spüre Leben. Hier, in diesem Bus, ist so viel Energie, dass sie zwischen meinen Händen vibriert. Fast ist es, als könnte ich neues Leben formen. Ein Versprechen. Der Mond lächelt auf mein Gesicht. Die Zukunft gehört mir, egal was kommt, ich werde sie formen. Ich spüre einen Blick auf mir. Bin ich auffällig? Warum sieht mich jemand an? Konzentriert fahre ich die Reihen mit meinen Augen ab. Ich erkenne Schemen, dunkelgrau heben sie sich von der schwarzen Masse ab. Das Mondlicht reicht nur bis zur Fensterreihe, dort sind alle Köpfe still. Obwohl ich nichts sehe, starre ich noch eine Weile in Richtung des neuen Anführers. Er macht mich nervös. Ich fühle seine Anwesenheit, als ob er neben mir sitzt. Ich spüre seine Kraft und Entschlossenheit, den zwanghaften Willen, mit dem er alles unterwirft und seine Neugierde. Sicherlich ist er es, der mich ansieht. Wieder huscht ein Lächeln über mein Gesicht. In mir formt sich ein Bewusstsein, das alles andere untergräbt. Alle Angst, alle Unsicherheit stürzt bodenlos. Es bleibt ein seltsames Wissen in mir. Immer wieder sehe ich nach vorn, aber ich erkenne ihn nicht. Er ist in den Schatten verborgen. Der Mond löst sich im Nebel auf, völlige Finsternis umgibt uns. Mit hoher Geschwindigkeit fahren wir durch die Nacht, durch ein menschenleeres und in Dunkelheit liegendes Land, das mir weder Hoffnung gibt, noch Hoffnung nimmt. In seiner Unendlichkeit liegt ein Trost. Die Einbildung, dass das Ende nie erreicht wird.

Der Morgen graut in nebelverhangenen Wolken. So farblos wie die ganze Nacht war, wechselt das Licht in den Tag. Meine Nachbarin wacht mit einem Ruck durch ihren Körper auf, ihre Augen sind verquollen, sie hat oft im Schlaf geweint. Allmählich regen sich die anderen Frauen, tauschen sich leise mit ihren Nachbarinnen aus und sehen sich um. In ihren Gesichtern steht Verwirrung, als ob sie nicht wissen, wo sie sind. Andere spiegeln deutlich ihren angstvollen Zustand wieder.

Mit dem Tageslicht verändert sich die Stimmung im Bus. Die drückende Atmosphäre weicht lauter werdenden Rufen nach Essen und Trinken. Die Bedürfnisse des menschlichen Körpers untergraben scheinbar bei manchen die Angst vor der Ungewissheit. Zwei Frauen im vorderen Teil des Busses rufen abwechselnd „Wasser“ und „Essen“ auf Englisch. Fast klingt es wie auf einem Markt, doch die Entführer lassen nicht auf sich warten:

„Ruhe! Ruhe! Haltet den Mund!“

Zwei der Entführer schreien die Frauen vorn im Bus an, doch sie lassen sich nicht einschüchtern und fordern weiter Wasser und Nahrung. Plötzlich springt eine der Frauen auf, schlägt dem neben ihr stehenden Entführer mit der Hand ins Gesicht und schreit ihn mit weit aufgerissenen, fast aus den Höhlen springenden Augen an:

„Gebt uns Wasser!“

Der Mann packt die Frau sofort am Arm und schlägt mit der anderen Hand in ihr Gesicht, die Frau schreit auf. Sie fällt auf ihren Sitz zurück. Blut rinnt aus ihrer Nase. Alle sitzen gelähmt und still, starren auf die Frau, die sich nun ein Taschentuch vor die Nase hält und verletzt oder wütend faucht.

Aus der ersten Reihe erhebt sich der Anführer. Er stellt sich breitbeinig in den Gang, lässt den Blick erst über die linke, dann über die rechte Hälfte des Busses schweifen. Seine Augen verharren auf mir. Im Tageslicht sehe ich ihn zum ersten Mal. Er hat eine kraftvolle Figur, trainiert, sportlich. Geschmeidig federt er die Bodenwellen ab, steht ungerührt da, ohne sich festzuhalten. Er hat dunkelblonde, wirre Haare, eine gerade Nase, ein ausgeprägtes Kinn, auf dem sich ein rötlicher Stoppelbart abzeichnet. Das alles sehe ich nur aus den Augenwinkeln, denn ich starre in seine Augen.

Er lächelt mich an, seine durchdringend blauen Augen funkeln freundlich, interessiert, gewitzt, vielleicht auch herausfordernd, unsere Blicke verhaken sich. Ich versuche, in diesen Mann hineinzusehen, aber die blauen Augen schirmen alles ab. Sie sind ein Schild, eine Tarnvorrichtung, die die Aufmerksamkeit ablenkt, ohne dass der Kern je berührt wird. Ich bin der Hase, der vor der Schlange sitzt, denke ich, während ich ihn anstarre und den rechten Mundwinkel leicht zurückziehe, so dass die Andeutung eines Lächelns auf meinem Gesicht liegt. Ich fühle meinen Geist an einem Abgrund, als mir klar wird, dass ich weder Angst noch Unbehagen gegenüber diesem Mann empfinde. Je länger ich in seine Augen sehe, umso deutlicher fühle ich mich zu ihm hingezogen. Vielleicht will ich das blaue Tarnschild durchbrechen, um selbst beschützt zu werden? Ich weiß es nicht, viele Gedanken kommen nicht in meinem Bewusstsein an. Ich bin aufgeregt genug, wenn ich in diese Augen starre und ein Spiel beginne, dessen Ende das Gegenteil von gut sein muss. Bin ich noch klar bei Verstand? Nein. Mein Verstand wehrt sich gegen mein Gefühl, denn ich fühle klar, dass ich diesen Mann mag, dass ich mit ihm flirten will, aber mein Verstand hält dagegen. Mein Lächeln stirbt. Ich sehe aus dem Fenster, sonst würde ich weiter in die Augen des Entführers starren. Ich will meinem Verstand die Chance geben, die Oberhand zu gewinnen.

„Ihr werdet bald Essen bekommen. Wir fahren noch zwei Stunden, dann stoppen wir. Es gibt Wasser, Brot und Käse“, sagt der Anführer ruhig, in gutem Englisch, mit einer angenehmen, fast aufreizend tiefen, weichen Stimme. Ich blicke ihn wieder an. Er wartet kurz, spricht dann weiter:

„Und macht Euch keine Hoffnungen, wenn wir halten, sind wir hundert Kilometer von der nächsten Siedlung entfernt.“

Er lässt den Blick durch die Reihen schweifen, legt den Kopf leicht schief und bewegt sich langsam den Gang entlang nach hinten. Neben mir bleibt er stehen. Ich starre auf seine Hüfte. Er trägt ausgewaschene Jeans, an den Rändern der Taschen sind die Nähte aufgeplatzt und der weiße, dicke Baumwollfaden ist aufgezwirbelt. Mit geblähten Nasenflügeln ziehe ich die Luft ein. Ich fühle seinen Blick auf meinem Gesicht, langsam hebe ich den Kopf. Er lächelt. Seine Hand legt er in einer endlos ruhigen Bewegung unter mein Kinn. Sie ist warm und fest, ein wenig rau. Ein Schauer jagt durch meinen Körper. Langsam hebt er meinen Kopf etwas höher. Der freundliche, fast zärtliche Blick seiner Augen, erschüttert mich im Innersten. Er ist zu schön, zu vertrauensvoll, fast so, als würde er jemand anderes als mich sehen. Erinnere ich ihn an eine Frau? Dieser Blick ist so intensiv, es ist, als gäbe es keine Grenze zwischen uns.

Er öffnet den Mund und sagt auf Englisch: „Komm!“

Seine weiche Stimme ist ebenso intensiv wie die Berührung. Er lässt mein Kinn los, fasst nach meinen Händen und zieht mich nach oben. Ich lasse es willenlos mit mir geschehen, denn mein Verstand hat nicht gesiegt und ich höre auf mein Gefühl, dass mir beruhigend sagt, dass ich keine Angst haben muss. Er führt mich in den vorderen Teil des Busses, wo die ersten Bänke wie in einem Zugabteil gegenüber aufgestellt sind, so dass man sich ansehen kann. In der Mitte davon ist ein ausklappbarer Tisch. Das hatte ich vorher nicht bemerkt. Verwundert nehme ich es wahr, doch es ist nur ein weiterer kleiner Tropfen in meinem flüssigen Bewusstsein, in dem ich benommen und zitternd schwimme. Allein die Nähe dieses Mannes ist wie eine Berührung. Das Herz pocht in meinem Kopf.

Am Tisch sitzen zwei der Entführer und spielen Karten. Sie blicken hoch, als sich ihr Anführer nähert. Er nickt kurz, sie stehen auf. Sie stellen sich in den Gang, einer neben den Fahrer, der andere zwängt sich an mir vorbei. Der Anführer zieht sanft an meinem rechten Arm, ich sehe ihn an. Sein Gesicht ist nicht mehr freundlich, es ist ausdruckslos, seine Augen wieder ein Tarnschild. Sehr leise sagt er: „Setz Dich!“

Er drückt mich mit den Händen auf meinen Schultern auf den Sitz und nimmt mir gegenüber Platz. Er starrt mich an, mustert mich. Von meinem Gesicht gleitet sein Blick nach unten, über das grüne Baumwollshirt zu dem schwarzen, kurzen Rock, der über den Knien endet, zu den Beinen. Jetzt lächelt er wieder freundlich. Ich mustere ihn ebenfalls. Aus der Nähe wirkt er recht friedfertig, ich entdecke keine Spur der grausamen Gleichgültigkeit, die in den anderen Gesichtern der Entführer lag. Ich sauge die Schönheit dieses Mannes in mich auf. Seine helle Erscheinung strahlt durch die Dunkelheit, durch die Angst. Ich genieße diesen Anblick, genieße seine Nähe, seine Aufmerksamkeit. Er lächelt mich an und nimmt meine kalten Hände in seine großen, warmen. Kurz schaudert mich und obwohl mein Herz aufgeregt springt, entspannt mich diese Geste und ich wundere mich nicht, als ich ihn anlächele. Der Puls schlägt heftig gegen meine Schläfen, doch langsam fließt die Ruhe dieses Mannes in mich, seine Kraft und Gelassenheit. Ich bin sicher bei ihm. Solange ich in diese Augen schaue, passiert mir nichts. Die Entführung, die Toten, selbst die Zukunft, alles wird vor seinem Blick zu einem nichtssagenden Erlebnis. Als würde ich mich zwischen Leben und Tod entscheiden, rette ich mich überwältigt in die Einladung der Augen dieses Mannes, der mich warmherzig anlächelt. Verzückt bemerke ich, wie Vertrauen mein Bewusstsein mit Lichtgeschwindigkeit durchflutet. Vertrauen. Ich vertraue diesem Mann. Ich starre in seine Augen. Eine Minute verstreicht bewegungslos. Sein Blick fließt in mich, durch mich, sammelt alle Kräfte in dem warmen Zentrum unter meiner Brust. Mein Herz schlägt machtvoll, als ob es durch diese blauen Augen zum Leben erweckt wird. Ohne einen klaren Gedanken zu fassen, beflügelt von der Euphorie, die er in mir auslöst, rücke ich auf dem Sitz ein Stück vor, beuge mich zu dem Gesicht des Mannes und berühre seine Lippen. Sie sind warm und fest. Der angenehme Hauch seines Atems streift meinen rechten Nasenflügel. Das Blut rauscht mir durch den Kopf, verdrängt die Angst, vertreibt alle Gedanken der Vernunft. Seine Lippen, obwohl er sie nicht bewegt, bringen meine Lebensgeister zurück. Ich vergesse alles, was außerhalb der Reichweite meiner Arme liegt. Ich fühle die fremde Haut, schmecke und rieche diesen fremden Mann, dass es alle Sinne beansprucht, meinen Verstand lähmt und Hormone die Macht übernehmen. Mit geschlossenen Augen, lehne ich mich zurück, rieche, schmecke, höre auf das Rauschen in den Ohren, höre das Summen in meinem Kopf. Ich lächle und öffne die Augen. Er starrt mich an. Seine blauen Augen sind dunkel geworden. Er lächelt nicht, die warmen Lippen sind geschlossen, sie zeigen eine gerade Linie, ganz neutral, als wäre nichts geschehen. Ich zwinkere häufig, hole flach Luft. Sein ausdrucksloser Blick dämpft meine Stimmung. Ich sehe nach unten. Der Rausch endet in grausamer Ernüchterung. Es gibt kein Vertrauen, keine Sicherheit. Ich bin eine Entführte, der Kuss ändert daran nichts. Oder doch? Habe ich eine Wahl? Die Nähe des Mannes ist berauschend, seine Wärme, sein Geruch. Langsam nähere ich mich ihm, hebe meine Augen, sehe in seine, sehe die Überraschung, den Unglauben in ihnen, die Verwirrung. Die Erkenntnis, dass ich diesen Mann verwirren kann, gibt mir ein Gefühl von Stärke. Erneut berühren meine weichen Lippen seinen geschlossenen Mund. Ich fühle die reglose Starre, in die er verfällt, öffne meine Lippen und streichele seinen Mund mit der Zunge. Seine Lippen sind nicht voll, auch nicht dünn. Wie gern würde ich die Feuchte in diesem Mund spüren, nicht nur die trockene Wärme! Endlich gibt er nach, öffnet die Lippen und ich schiebe meine Zunge in seinen Mund. Die warme Feuchte lässt mich vollständig vergessen, wo ich bin. In einem Rausch meiner Hormone küsse ich ihn heftiger, dringe weiter in ihn, fahre die scharfe Kante seiner Schneidezähne, dann an der Zunge entlang, schmecke ihn. Langsam beginnt er mit mir zu spielen. Wie ein Kind freue ich mich über die Reaktion. Ich verliere mich in diesem Mund, vergesse zu atmen, vergesse zu sehen, bin völlig vereinnahmt von der warmen Feuchte in ihm, dass ich das Gefühl habe, ich schmelze an seinem Körper. An meinen Knien, die durch die Strumpfhosen empfindlicher sind, spüre ich seine Erektion. Ich drücke mein Knie spielerisch gegen sein Glied, schiebe es hin und her, genieße meine Macht. Ich lasse von seinem Mund ab, lehne mich zurück und sehe ihm in die Augen. Wir fangen gleichzeitig an zu lachen. Wie Teenager sitzen wir uns gegenüber und lachen lauthals. Die Stille im Bus stört uns nicht, wir nehmen nichts mehr wahr. Wir lachen gemeinsam in dieser absurden Situation und das letzte Misstrauen verschwindet in meiner Seele. Ich habe mich verliebt.

Langsam beruhigen wir uns. Aus schallendem Lachen wird ein allmähliches Lächeln, das unsere Lippen zeichnen. Ich betrachte den Mann, von dem ich nichts weiß, der das Versprechen dieses irrsinnigen Mondes ist, welcher mir in der Nacht, als er kam, zulächelte. Er ist nicht alt, nicht mehr jung, vielleicht etwas mehr als dreißig Jahre. Um die Augen und auf der Stirn zeichnen sich erste bleibende Linien in seinem gleichmäßigen Gesicht ab. Die Haare sind wirr und ohne eine zu erkennende Frisur sprießen sie in Vielzahl auf dem Kopf. Seine Haut ist wettergegerbt, ein wenig braun, etwas trocken, leicht gespannt über den hohen Wangenknochen. Seine gerade, schmale Nase reckt sich fast neugierig aus dem Gesicht heraus. Und der Mund, den kenne ich schon. Der gefällt mir gut. Aber das eigentliche Merkmal seines Gesichts sind die Augen: blau, tiefblau und dunkel. Das Blond der Haare findet sich in einem tieferen Ton in seinen Augenbrauen und Wimpern wieder. Sie umrahmen diese großen herausfordernden Augen wie ein Kranz. Sein Gesicht ist offen. Es gibt nichts in seinen Zügen, das mich warnt, nichts, das mich abschreckt. Ich beuge mich ein wenig zu ihm, lächle ihn an, flüstere ihm leise zu:

„Ich bin Miriam.“

Er mustert mich, starrt in mein Gesicht, in die Augen, in meine Seele, doch ich empfinde keine Angst und habe nichts vor ihm zu verbergen. Er weiß, dass ich verletzlich bin, aber das ist jeder andere Mensch auch, besonders in diesem Bus. Es gibt nichts, was ich vor ihm verbergen müsste. Er beugt sich vor und bedeutet mir, mit der rechten Hand, ihm entgegenzukommen. Mein Gesicht nähert sich seinem, meine Augen fliegen von seinem Mund zu den Augen und wieder zurück. Gleich werden wir uns küssen, aufgeregt und voller Vorfreude fahre ich mit der Zunge über meine trockenen Lippen. Aber sein Kopf hält nicht vor meinem inne, er stoppt erst, als mein Gesicht über seiner linken Schulter ist.

„Grigori“, flüstert er so leise an meinem Ohr, dass ich es nur im Nachhinein höre, nach einer kleinen Pause fügt er hinzu:

„Nenn' mich Grischa, aber nie vor den anderen!“

Diesen Satz betont er so eindringlich, dass ich sofort Gänsehaut auf meinen Unterarmen bekomme. Er lehnt sich zurück und sieht mich prüfend an. Ich nicke. Ich habe den Eindruck, er hat ein Zeichen der Zustimmung erwartet. Sein Gesichtsausdruck wird weich und er küsst mich unvermittelt auf den Mund. Nicht begierig, nicht leidenschaftlich, nur als wäre es das Normalste der Welt.

Grischa kramt in einer Tasche, die zwischen den Sitzen steht. Triumphierend holt er ein großes Stück Käse hervor, öffnet die Plastikverpackung und schneidet ein Stück davon ab. Er hält es mir mit der linken Hand hin und sieht mich spitzbübisch an. Sofort schießt Speichel aus allen Ecken meines Mundes. Erst jetzt merke ich, dass ich Hunger habe, so sehr, dass mir übel ist. Ich greife nach dem Stück, aber er zieht seine Hand weg. Er lacht leise in sich hinein. Wieder hält er mir den Käse hin, diesmal genau vor den Mund. Ich sehe ihn zweifelnd an und will hineinbeißen. Er zieht es wieder weg. Dieser Spieler, er weiß wohl nicht, dass ich zuletzt vor vierundzwanzig Stunden etwas gegessen habe.

„Das ist nicht witzig“, sage ich beleidigt. „Ich falle gleich in Ohnmacht und du treibst Spielchen mit mir!“

Da sieht er mich fast reumütig an und hält mir das Stück Käse abermals vor den Mund, er nickt aufmunternd. Ich beiße hinein und mein Mund füllt sich mit einem cremigen, sanften Geschmack. Das Stück ist so klein, dass es der im Überfluss quellende Speichel sofort auflöst. Der Käse zerfließt in meinem Mund. Ich beiße erneut ab und schließe die Augen dabei. Ich habe die Befürchtung, dass mich dieses Stück Käse eher hungriger macht, als dass es mich sättigt. Aber besser als nichts ist es allemal. Grischa gibt mir das letzte Stück des Käses in die Hand und kramt wieder in der Tasche, er holt ein großes, dunkles Brot hervor und schneidet den Kanten vielleicht vier Zentimeter dick ab.

„Iss langsam!“, murmelt er und reicht mir das Brot. Ich beiße hinein, es ist viel besser als der Käse, es bleibt in meinem Mund und ich kann darauf kauen. Es quillt zu einer einheitlichen Masse, die den übermäßigen Speichel bindet und mich wieder Mensch werden lässt.

„Hure!“

Böse und deutlich spricht eine Frau in meinem Rücken das Wort. Ich drehe mich, in der rechten Hand noch immer den Kanten, nach hinten um und mustere die Frauen. Sie sehen mich mit gierigen Augen an. Ich habe zu essen, sie nicht. Das wird mir mit einem Mal klar.

„Hure!“, tönt es wieder.

Ich habe die Frau nicht entdeckt, die es ruft, aber es greift mich an, es verletzt mich. Ich bin keine Hure. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Grischa an mir vorbei mit zwei Schritten zu einer Frau stürmt, sie bei den Schultern packt, hochzieht und auf Russisch anschreit. Er ist dabei so laut, dass alle erschrecken. Bisher hat er nie auch nur lauter gesprochen, immer mit einer sanften, zurückhaltenden Stimme. Jetzt steht er da, schreit aus allen Poren seines Körpers eine Frau an, die kreidebleich geworden ist und ihre Augen weit aufgerissen nicht von dem Mann nimmt, der wie von Teufeln besessen ist. Sie zittert am ganzen Körper als Grischa seine Tirade beendet, sie wieder auf den Sitz drückt und mir gegenüber Platz nimmt. Er sieht mich nicht an. Er schaut aus dem Fenster des fahrenden Busses. Ich blicke zu der Frau zurück, die verängstigt mit ihrer Nachbarin tuschelt.

Als sie meinen Blick spürt, unterbricht sie das Gespräch, gnadenlos sieht sie mir in die Augen. Kurz sticht mein Herz. Ich wende den Blick ab, nur um an den Augen ihrer Nachbarin hängen zu bleiben. Sie sieht mich ebenfalls voller Hass an. Meine Augen wandern zur Nächsten und finden dasselbe. Der ganze Bus hasst mich! Sogar ein Entführer sieht mich verächtlich an. Seine kleinen schwarzen Augen spucken mir entgegen. Sie sind so voller Hass, dass ich glaube, er bringt mich bei nächster Gelegenheit um. Kälte kriecht in meinen Körper. Versteinert wende ich den Blick ab. Was hat Grischa zu der Frau gesagt? Ich habe kein Wort verstanden. Fragend schaue ich wieder zu ihm, aber er sieht noch immer aus dem Fenster. Er wirkt abweisend, seine Augen konzentriert er auf etwas, dass ich nicht sehe. Die Landschaft rauscht an uns vorbei und ist dabei belanglos: Baum an Baum an Baum. Der gleiche Boden, der gleiche Wald, Monotonie, es gibt nichts, worauf zu starren sich lohnen würde. Ich fixiere Grischa, aber er rührt sich nicht aus seiner Position. Abwesend, gedankenverloren sitzt er da und nimmt mich nicht wahr. Will mich nicht sehen und will nicht wissen, dass er sich dazu herabgelassen hat, seine Gefühle zu zeigen, dass er sich hat hinreißen lassen, seine Unantastbarkeit zu verlieren. Es ärgert ihn. Ich ärgere ihn. Schon bereut er, dass er mich zu sich geholt hat. Was bleibt mir? Zurück auf meinen alten Platz kann ich nicht. Alle Frauen hassen mich, wenn sie mich angreifen, verteidigt mich niemand. Nicht einmal die anderen Männer werden mir helfen, wenn mich die Frauen schikanieren. Ich habe keine Wahl, außer hier vorn zu bleiben. Deshalb brauche ich Grischa, ich brauche ihn, um zu überleben.

„Sie haben doch Recht!“, werfe ich Grischa bewusst an den Kopf. Er reagiert nicht. Ich rede weiter:

„Wie wirkt das denn auf alle, so wie ich mich verhalte? Ich werde genau wie sie entführt und dann flirte ich mit dem Anführer. Der gibt mir Käse und Brot. Und sie alle, sie hungern. Sie sitzen da und sehen mich essen. Wir haben uns erst vor fünf Minuten geküsst. Ist da der Zusammenhang für die Frauen nicht eindeutig?“

Er reagiert noch immer nicht. Ich versuche, empört zu klingen:

„Was denkst du denn? Denkst du vielleicht, ich mache das, weil ich in dich verliebt bin?“

Welch schlechte Lügnerin ich bin. Und wie verwundbar ich mich fühle, nun, da es ausgesprochen ist. Sein Gesicht bleibt dem Fenster zu gewandt, doch seine Augen treffen auf meine. Sie sind so dunkel und durchdringend, dass ich zurückschrecke. Mit einem Mal schießt die Kälte in mein Herz, die ich in seinem Blick lese. Er braucht kein Messer, um mich zu verletzen, ebenso wenig wie ich selbst eines benötige, um ihm dasselbe anzutun. Plötzlich packt mich Grischa im Nacken und zieht mich zu sich heran. Er küsst mich wild und ich weiß es nicht, gefühllos, brutal, heißblütig, verletzend, verletzt? Es verwirrt mich und überrascht mich und rührt gleichzeitig mein unsicheres Herz zu neuer Wärme. Was immer er mir zeigen wollte, eines verstehe ich: Ich lasse ihn nicht kalt. Erleichtert vergesse ich alles Vorherige. Glücklich über diese Erkenntnis küsse ich ihn inniger, doch er lässt von mir ab. Sofort schnürt sich mein Herz zusammen. Ich blicke ihn an. Wird er mich wieder zurückstoßen? Seine Augen sind unergründlich, wenn auch nicht mehr so dunkel.

„Das dachte ich“, flüstert Grischa gerade laut genug, dass ich die Worte mit einer Bedeutung füllen kann. Was dachte er? Meine Gefühle sind so durcheinander, ich weiß nicht, was er meint. Ich sehe in sein Gesicht. Es ist emotionslos. Was erwartet er? Was denkt er? Ich starre in eine Maske, die all seine Gefühle verbirgt. Kann er nicht offener sein? Hilflos wende ich meine Augen ab, rutsche auf dem Sitz umher. Grischa wartet. Unsicher drehe ich den Kopf nach hinten und erschrecke über den Blick der Frau. Schlagartig kommt die Erinnerung zurück. Hure! Der Hass in den Augen meiner Nachbarin lässt mich frösteln. Das dachte ich. Ich lache ihn an. Dann sind wir uns einig. Ich bin keine Hure. Wir sind verliebt. Wenigstens bin ich es. Aber ich glaube, er ist das auch. Warum riskiert er so viel für mich, wenn ich ihm nichts bedeute? Wieso gibt er seine überlegene Position als Anführer auf, schreit eine Frau an und büßt Ansehen bei den anderen Männern ein, um eine fremde Frau zu verteidigen? Eine Entführte, eine Gefangene. Nein, ich bin sicher, Grischa ist in mich verliebt. Er hat mich verteidigt und das nur aus einem Grund. Von Neuem schlägt mein Herz mit freudiger Erwartung und Hoffnung gegen meinen Brustkorb. Ich bin verliebt. Ich bin verliebt. Immer wieder höre ich die Worte in meinem Inneren, mit jedem Schlag meines Herzens. Der Gedanke, dass ich eigentlich Grischas Gefangene bin, löst sich aus meinem Bewusstsein. Ich lebe in dieser Minute. Ich lebe in jedem Herzschlag, der mich glücklich sein lässt. Ich beuge mich zu ihm und küsse ihn ganz sanft und kurz auf den Mund.

Liebe, rette mich!

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