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Provenienz eines Psychopathen

Der siebzigjährige Dr. August von Rottberg sitzt in seinem barocken Arbeitszimmer in Schloss Weihersbach und schaut aus dem Fenster zum See, der das Schloss umgibt. Gerade ist ein Regenschauer über den See gepeitscht, und das Schwanenpaar, das seine Runden darin dreht, hat die Köpfe eingezogen. Nun aber strahlt alles wieder in der Sonne, und die Schwäne paddeln majestätisch-gelassen dem rechten Ufer zu, dahinter erhebt sich der lindgrüne Mischwald, und im Hintergrund sind die sanften Wellen des Steigerwalds zu sehen, gespickt mit den roten Dächern von Weilern und Kirchtürmen. Auf der anderen Seite des Sees geht eine Frau in Gummistiefeln und gelbem Friesennerz spazieren. Sicher seine Frau Sophie. Was ihr auch immer einfällt, um ihre Tage auszufüllen. Eine fränkische Idylle, ein Dürer-Aquarell, eine Allegorie wovon? Scheiß drauf, für solche Überlegungen hat Dr. von Rottberg jetzt keine Zeit. Er muss nachdenken.

Sein Gesicht ist bäuerlich-quadratisch wie seine Figur, und seine Augen liegen unter buschigen Augenbrauen weit zurückgesetzt in ihren Höhlen, wie Raubtiere, die im Unterholz lauern. Sein Mund zieht sich an den Winkeln leicht nach oben. Trügerisch. Denn es ist kein Lächeln, es ist der Gesichtsausdruck, den er vor sechzig Jahren als Voreinstellung gewählt hat. Seit fünfundfünfzig Jahren hat er keinen Grund mehr gesehen, ihn zu verändern. Dr. August von Rottberg wurde am 19.8.1948 als erstes Kind von Adolf und Liesl Albrecht in Reichelshofen bei Rothenburg ob der Tauber geboren, und aus Mangel an Ideen nach seinem Geburtsmonat August genannt. In seiner jetzigen Erscheinungsform hat er mit dem Gustl Albrecht, der er hätte werden können, so viel gemein wie ein Schmetterling mit der Raupe, aus der er hervorgegangen ist, also nichts. Sein Vater war Bierfahrer bei der Landwehr-Bräu und dachte sich nicht viel bei der Namensgebung. Männer in der Familie trugen immer Vornamen mit A, und Adolf war schwer aus der Mode gekommen.

So strebte die vordere Hälfte des Namens nach Höherem, und die hintere Hälfte war fränkisch geerdet. Sein Leben hätte also so oder so verlaufen können, aber die Aspirationen seiner Mutter waren das Zünglein an der Waage. Sie war Flüchtling aus Ostpreußen und hatte im Dritten Reich als Küchenmädchen im adligen Haushalt der Dohna-Schlobittens auf Schloss Capustigall gearbeitet. In den letzten Monaten vor dem Zusammenbruch im Januar 1945 hatte sie sich unsterblich, aber vergeblich in Maximilian, den Sohn des Grafen, verliebt, ihre Tagträume von einer gemeinsamen Zukunft halfen ihr über die Schrecken der Flucht hinweg und trösteten sie angesichts der harten Realität ihres Daseins in Franken. Mit der Zeit übertrug sie die Visionen einer goldenen Zukunft auf ihren Sohn. Wenn schon nicht aus ihr, dann sollte aus August etwas Besseres werden. Gustl durfte ihn keiner nennen, nicht mal sein Vater. Als Kind kleidete sie ihn schon wie einen kleinen Erwachsenen, Jeans, Turnschuhe und T-Shirt kamen nicht infrage, sein Haarschnitt trotzte den schmierigen Tollen der Elvis-Ära – und erst recht der darauf folgenden Beatles-Frisur, zeugte vielmehr vom eindeutigen Bekenntnis zum Fassonschnitt, den er heute noch trägt. Hochdeutsch statt Fränkisch, statt Fußball beim SV Reichelshofen Malen nach Zahlen zu Hause; evangelische Jugend statt Saufen bei der Freiwilligen Feuerwehr, und Zeltlager mit den Pfadfindern im Taubertal statt Feiern mit den Ortsburschen auf Kirchweih. Latein statt Englisch auf dem Reichsstadt-Gymnasium in Rothenburg, Abitur 1967, Universität Konstanz, Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und Romanistik. Mitglied in der Studentenverbindung Corps Saxonia statt Engagement in der APO. Staatsexamen 1972, promoviert 1976. Dann absolvierte er noch einen Rhetorik-Kurs, bei dem er lernte, seine Quiekstimme um eine Oktave zu senken. Aber immer noch hieß er Dr. August Albrecht, immer noch strebte er nur mit dem Oberkörper, mit dem Namensanfang, nach Höherem, während sein Rumpf, sein Familienname, im Sumpf steckte. Dann lernte er auf einem Stiftungsfest des Corps Saxonia in Konstanz Sophie von Rottberg kennen, aus dem Adelsgeschlecht der von Rottbergs aus Landsberg am Lech. Sie war mit ihrem Vater Max, einem Alten Herren, angereist. Für Augusts Zwecke schien sie optimal geeignet; unscheinbar und schüchtern. Sie wirkte, als ob sie froh wäre, überhaupt wahrgenommen zu werden. August umwarb sie, heiratete sie, nahm ihren Namen an, und die Verwandlung war komplett. Ob er selbst jemals etwas anderes aus sich machen wollte als seine Mutter und wann die Mühlen dieser Transformation die letzten Reste von Empathie in ihm zermalmten oder ob er gänzlich ohne Empathie auf die Welt gekommen war, ist nicht mehr festzustellen.

Nur einmal drohte ein Besucher aus seiner Vergangenheit beim Aufbau des Bildes zu stören, das von Rottberg von sich zu vollenden gedachte. Es war auf dem Stiftungsfest in Konstanz, zwischen dem Begrüßungsabend am Freitag, an dem August Sophie zum ersten Mal sah, und dem Stiftungsfestball am Samstag, auf dem er sie zum Tanz auffordern wollte. Beim Sektfrühstück im Konzil am Samstagvormittag kam an der Theke ein junger Kerl auf ihn zu. »Endlich ein bekanntes Gesicht«, sagte dieser. Er war schlaksig, pickelig und mit seinen langen Haaren so gar nicht der typische Corps-Student. Heiner Hartl hieß er. Es stellte sich heraus, dass er auf dem Gymnasium in Rothenburg eine Klasse unter August gewesen war. Nun war er ein neuer Student in Konstanz. Er tat so, als ob er und August in Rothenburg die dicksten Freunde gewesen wären, was nicht stimmte, weil August auf dem Gymnasium, wie auch später an der Uni, oder überhaupt in seinem ganzen Leben, nie einen Freund gehabt hat. Es war Heiners Pech, dass er just zu diesem Zeitpunkt in Augusts Leben auftauchte; er hätte bestimmt bald gemerkt, dass August kein Interesse an einer Freundschaft mit ihm hatte, und ihn in Ruhe gelassen, aber leider nicht schnell genug für August. Denn dieses Wochenende war eine besonders heikle Phase in Augusts Verwandlungsprojekt, und Augusts Herkunft, seine wirkliche Provenienz, sollte an dem Abend beim Ball keine Rolle spielen. »Hast du schon das Aufnahmeritual bestanden?«, raunte er in Heiners Ohr, gerade laut genug, um das Stimmengewirr im Konzil zu übertönen.

»Welches Aufnahmeritual?«, antwortete dieser verunsichert.

»Mmh«, grübelte August. »Das ist keine einfache Sache, wenn man unvorbereitet damit konfrontiert wird. Ach, weißt du was, ich helfe dir.« Er klopfte Heiner auf die Schulter. »Das üben wir heute Abend. Wir treffen uns um 17 Uhr am Münster. Aber erzähl keinem was davon. Ich darf dir das eigentlich gar nicht verraten.«

Dass Heiner niemandem davon erzählen sollte, hatte natürlich auch damit zu tun, dass es kein Aufnahmeritual für das Corps Saxonia gab. Das entsprang ganz Augusts Fantasie in diesem Moment, bunt und hübsch wie ein Zwerghuhnei, darauf war er stolz. Ab dann war die Sache relativ einfach. August wusste, wie alle Corps-Mitglieder, dass die Kasse für den Turm des Münsters ab 17 Uhr unbesetzt war, weil der Kassierer um diese Zeit seinen Posten verließ, um seinen ersten Schoppen im Weinglöckle zu sich zu nehmen. Um die Zeit konnte man umsonst, und was für August viel wichtiger war, unbemerkt auf den Turm steigen. Es klappte alles; niemand saß an der Kasse, August nahm den Stuhl des Kassierers mit, weil er wusste, dass das Geländer auf dem Turm brusthoch war. Oben befand sich sonst niemand, und der Blick war wirklich atemberaubend. Die Altstadt, der Bodensee, sogar die fernen, schneebedeckten Alpen in der Schweiz konnte man sehen. Gerade fuhr eine Fähre von Meersburg in den Hafen. Alles unter einem strahlend blauen Himmel. Eigentlich ein Geschenk, dass es das Letzte war, was der arme Heiner sehen sollte.

»Danke, August, dass du mir das zeigst!« Es war fast rührend, wie dankbar Heiner für Augusts Zuwendung war. »Hat das Aufnahmeritual mit dem Stuhl zu tun?«

»Genau. Grundsätzlich ist das gut zu machen«, sagte August. »Nur wenn man nicht damit rechnet, scheitert man mitunter; das ist schon manchem passiert. Also, ich stelle den Stuhl hier an der Brüstung auf. Du musst dich draufstellen, zuerst nach unten schauen, dann in den Himmel, dann wieder nach unten. Du darfst dabei nicht wackeln. Man wird deine Knie genau beobachten, und beim kleinsten Zittern bist du durchgefallen. Mehr ist es gar nicht. Aber du musst mir versprechen, dass du niemandem erzählst, dass ich dir das vorher verraten habe. Du musst ganz überrascht tun.« Nicht so überrascht, wie du es gleich sein wirst, dachte sich August.

»Na, das werde ich wohl schaffen«, sagte Heiner.

August stellte den Stuhl hin, und Heiner stieg darauf.

»So, jetzt nach unten schauen«, sagte August. Er hielt sich dabei im Hintergrund auf, sodass ihn von unten keiner sehen konnte. Heiner schaute ganz wagemutig in die Tiefe, vierzig Meter hinab zu den Sonnenschirmen auf dem Münsterplatz, zu den Autos und den Menschen.

»Gut gemacht«, sagte August. »Und jetzt in die Höhe schauen.«

»Na«, sagte Heiner, »ich muss schon zugeben, das ist doch nicht so einfach. Ich glaube, ich steige lieber ab.«

»Kannst du machen. Aber dann kannst die Mitgliedschaft im Corps vergessen. Komm, sei kein Feigling.«

»Hältst du den Stuhl auch wirklich fest?«

»Klar«, sagte August. »Ich halte ihn ganz fest.« Tatsächlich hielt er ihn hinten an den beiden Knäufen. Immer noch niemand sonst hier oben. Er wandte sich kurz um. Auch keiner am Zugang zur Plattform. Bis zu diesem Moment hätte August einen Rückzieher machen und alles als Jugendstreich abtun können.

»Also gut«, sagte Heiner und drehte den Kopf ganz langsam nach oben.

August kippte den Stuhl nach vorne.

Heiner schrie kurz auf, »Mensch, August!«, und versuchte, nach rechts zu fallen statt vornüber. August ließ den Stuhl los und stieß ihm mit beiden Händen in den Rücken. Heiner knallte mit den Knien auf die Brüstung, wedelte mit den Armen. Kurz sah es aus, als würde er sein Gleichgewicht wiedergewinnen und nach hinten auf die Plattform fallen, und August musste ihn noch einmal schubsen, bis er endlich lautlos und immer noch mit den Armen wedelnd nach unten stürzte.

Bevor Heiner aufschlug, hatte August sich schon von der Brüstung weggedreht. Den Stuhl ließ er stehen. Er hastete zum Südausgang hinaus, damit er nicht an der Leiche vorbeimusste.

»Selbstmord aus Einsamkeit«, hieß es in den Zeitungen, und im Corps rief man die Mitglieder auf, sich doch besser um neue Studenten zu kümmern.

Ab da war der Weg für August frei. Verbindungen aus dem Corps verhalfen ihm zu ersten Rezensionen bei der FAZ und der Süddeutschen Zeitung, zu ersten Kunstexpertisen für das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg, die Alte Pinakothek in München und die Albertina in Wien. Dann wagte er den großen Schritt; die Herausgabe der Zeitschrift Alte Meister.

Seit den Neunzigerjahren ist er nun der unumstrittene Experte im süddeutschen Raum für Kunstwerke aus dem Mittelalter und der Renaissance. Über die Jahre hat er die Verwaltung über die Werkkataloge von Albrecht Dürer, Lucas Cranach und Matthias Grünewald diskret an sich gezogen. An ihn wendet man sich, wenn es darum geht, ob bisher unbekannte Werke echt sind oder Fälschungen. Und sein Urteil ist so unerbittlich wie in einer mittelalterlichen Darstellung des Jüngsten Gerichts von Stefan Lochner, Hie­ronymus Bosch oder Marx Reichlich, mit August von Rottberg persönlich als Jesus-Figur; hebt er die rechte Hand, wird das Werk von Engeln begleitet in den künstlerischen und materiellen Himmel gehoben; hebt er die Linke, purzelt es jammernd und von Teufeln mit Mistgabeln malträtiert in die ewige Verdammnis.

Auf diesem Kunstexpertengipfel hat nur einer Platz, und beim Aufstieg dorthin hat ihm auch nur einer jemals Konkurrenz gemacht: Professor Dr. Martin Derra von der Staats­galerie im Schloss Johannisburg, Aschaffenburg, der ebenfalls gerne von der Süddeutschen Zeitung um Gastbeiträge gebeten wurde. Er war ein netter, zugänglicher Altachtundsechziger mit langen grauen Haaren und John-Lennon-Brille. Die beiden Kunstexperten lernten sich in der Tagungsstätte Wildbad bei Rothenburg ob der Tauber bei einem Seminar über Lucas Cranach den Jüngeren kennen, dessen Leitung sie sich teilten. Natürlich kam Derra bei den anwesenden Damen viel besser an als von Rottberg, und bei einer besonders; einer hübschen Dame aus Erlangen. Von Rottberg war nicht romantisch bedingt neidisch auf Derra, berufsbedingt aber sehr wohl. Denn im Kulturbereich tummeln sich seit eh und je überwiegend Frauen; man kommt an ihnen gar nicht vorbei, und dass Derra in Fällen, wo Frauen zu entscheiden hatten, immer den Vorzug bekommen würde, war klar und konnte von August so nicht hingenommen werden. Im Lauf der Woche in Wildbad entwickelte sich zwischen Derra und der Dame eine Romanze oder eher eine Affäre, weil beide ja Eheringe trugen. Sie waren wohl geübt in solchen Dingen, andere bemerkten nichts davon. Nur von Rottberg bekam alles mit, da er das Zimmer neben Derra hatte. Er lernte auch ihre Geheimsprache: Wenn die Dame die Nacht bei Dr. Derra verbringen wollte, klebte sie mit Tesafilm eine Mon-Chéri-Praline an seine Zimmertür.

Also beschaffte sich von Rottberg von seinen Lörracher Kontakten Strychnin, spritzte es in eine Mon-Chéri-Praline, fuhr damit nachts bis Aschaffenburg und klebte sie an den Scheibenwischer von Derras Jaguar vor seiner Villa in der Stiftsgasse. Es war nicht gesagt, dass die Aktion klappen würde, aber von Rottberg hatte Glück. Derra vermutete wohl eine Botschaft von seiner Geliebten, aß die Praline und liegt seitdem im Wachkoma.

Damit war der Weg wieder frei für von Rottberg. Er erklomm den Gipfel und blickte nicht zurück. Erst recht nicht auf seine Herkunft, die Eltern in Reichelshofen, die er seit seinem Abitur nie mehr besuchte. Seine Mutter starb schon vor dreißig Jahren; seinen Aufstieg in den gesellschaftlichen Olymp konnte sie nur aus der Ferne verfolgen. Zu seiner Hochzeit hat er sie nicht eingeladen. Trotzdem blieb sie stolz auf ihren Sohn. Sein Vater lebte noch bis 2003. Ihm machte das Verschwinden des Sohnes aus seinem Leben gar nicht so viel aus. Schließlich konnte der alte Adolf sich an die mysteriösen Umstände um den plötzlichen Kindstod von Augusts kleiner Schwester Helena erinnern, die 1956 als Nachzüglerin geboren und nur ein halbes Jahr alt wurde. Wie der achtjährige August seine kleine Schwester immer so komisch anstarrte. So intensiv, so schweigsam. Einmal hat Adolf ihn erwischt, als er seiner Schwester mit einer Stecknadel in den Kopf pikste.

Adolf war es, der Helena tot in ihrem Bett fand. Er und seine Frau Liesl waren nur kurz nach Rothenburg zum Einkaufen gefahren und hatten August und Helena eine Stunde lang alleine gelassen. Helena atmete nicht mehr und war blau angelaufen, aber noch warm. Auf Adolfs Schrei hin ist Liesl ins Zimmer gekommen und hat das Kissen, das zwei Meter vom Bett entfernt auf dem Boden lag, einfach wieder hineingelegt. Das Wissen nahm Adolf mit ins Grab; mit seiner Frau hat er nie darüber gesprochen. Die kleine Helena strampelte schon und warf mit Sachen, aber ein Kissen so weit zu schleudern, das hätte sie nicht geschafft.

Seine Expertisen lässt August sich fürstlich bezahlen; Tausende von Euro können fällig werden. Kauft eine Galerie ein Werk aufgrund seiner Expertise, sind wiederum Zehn- oder gar Hunderttausende als Provision vom Kunsthändler fällig. Theoretisch (und praktisch) verdient er bei jeder positiven Begutachtung doppelt. Er ist Anwalt und Richter in einer Person, und er verdient nur, wenn der Angeklagte freigesprochen wird. Das darf aber nur in den seltensten Fällen sein, damit sein Ruf erhalten bleibt. Wenn er ein Werk in den Katalog des jeweiligen Künstlers aufnimmt, dann fotografiert er es und schreibt hinten auf das Foto: Das abgebildete Werk wird in das von mir verantwortete Werkverzeichnis aufgenommen. Dr. A. von Rottberg.

Es läuft also gut für ihn. Aber nicht so gut, wie es laufen müsste. Das Schloss ist teuer. Es ist von einem See umgeben, nur von einer Seite über eine Steinbrücke zugänglich, und das Wasser hat seit Jahrhunderten an den Grundmauern gefressen und ist die Wände hochgezogen. Die Sanierung und Isolierung hat Millionen gekostet. Das aber war die Voraussetzung für sein Lebensprojekt: das bedeutendste Museum für Renaissancekunst Süddeutschlands in Schloss Weihersbach einzurichten. Es kostet Überzeugungskraft, dass ihm staatliche Museen und Galerien ihre Schätze anvertrauen, weil die Aufbewahrungsmöglichkeiten im Schloss Weihersbach optimal sind. Und es kostet vor allem Geld für Sicherheitssysteme, für Klimaanlagen. Und für Neuanschaffungen. Spärliche, gut dosierte. Glaubwürdige. So wie die Vorstudie zum Feldhasen, angeblich von Dürer, die er bei der Durchsicht von Karl Diehls Sammlung gesehen hat. Das Bild zeugte von außerordentlicher Könnerschaft. So perfekt, dass es echt hätte sein können. So perfekt wie das angebliche Skizzenbuch von Kandinsky, das er damals für das Staatsarchiv der Bayerischen Kunst in Rothenburg begutachtet hat. Sein Instinkt hat ihn damals das Skizzenbuch für echt erklären lassen, obwohl ihm klar war, dass es gefälscht sein musste. Da waren Studien drin für zwei Bilder: Alte Stadt I und Alte Stadt II. Alte Stadt I wurde von Kandinsky nie fertiggestellt. Die Vorstudie dafür jedoch zeigte eine Ansicht vom Burggarten aus, und von Rottberg wusste von seinem Studium her, dass Kandinsky für das erste Bild die gleiche Perspektive wie für Alte Stadt II gewählt hatte. Der einzige Unterschied bestand da­rin, dass auf dem ersten Bild keine Frauenfigur war. Also musste das Skizzenbuch eine Fälschung sein, und trotzdem sorgte von Rottberg dafür, dass der Freistaat Bayern zwanzigtausend Mark dafür blechte. Warum? Weil von Rottberg sich gedacht hat, den Typen, der so etwas beherrscht, kann er brauchen. Irgendwann.

Beim Hasenbild hat ihn nur etwas an der hinteren Pfote gestört, der Winkel, in dem sie an der Flanke des Hasen saß, war ein My zu weit geöffnet. Aber nicht seine Kunstexpertise führte ihn zu der Erkenntnis, dass es sich um eine Fälschung handeln musste, sondern lediglich eine Ahnung. Und wenn der Siebenhaar nicht so panisch reagiert hätte, wäre von Rottberg sich immer noch nicht sicher. Solche Werke braucht er, nicht viele, aber immer wieder mal eins. Und den Mann, der so etwas kann, den braucht er auch. Freiwillig – oder mit Gewalt.

Die Provenienz des Bildes herauszufinden war aufwendiger, als die Expertise zu verfassen. An den Diehl verkauft hat es ein vermessener Kunstlehrer eines Gymnasiums in Franken, so einer, der sich einbildet, nach acht Semestern Studium mit ihm, Dr. August von Rottberg, mithalten zu können. Das Ärgerlichste bei dem Gespräch war, ihm in seiner Ignoranz dauernd recht geben zu müssen, ihn für seinen Kunstverstand und auch noch für sein eigenes jämmerliches Gekleckse loben zu müssen, das an allen Wänden seiner versifften Bude hing. Weil ja das Hasenbild echt sein sollte. Da versandete die Spur aber trotzdem, weil der Wichtigtuer sich weigerte, zu sagen, von wem er das Bild hatte.

Von Rottberg wartete ein paar Wochen, dann hetzte er Samo auf den aufgeblasenen Kerl. Samo wiederum kennt er seit einem Flirt mit Fälschungen von Werken der russischen Avantgarde, die über verschlungene Wege von Albanien nach Deutschland gekommen sind. Von Rottberg ließ schnell die Finger davon; nicht sein Revier, der Markt zu überschwemmt, alles zu riskant. Aber den Kontakt zu Samo hat er aufrechterhalten.

Dass Samo so hart mit dem Gymnasiallehrer umgehen würde, das hat von Rottberg ja nicht ahnen können. Wenigstens hat der Kerl den Namen herausgerückt, bevor der Herztod ihn ereilte. Pettkus’ Kontakte zu Strichjungen in Nürnberg waren natürlich ein Glücksfall, weil sie auf eine falsche Fährte führten und die Misshandlungen im Gesicht erklärten. Samo nahm alles Geld und sämtliche Wertsachen mit und hinterließ keine Spuren. Ein Profi halt.

Seitdem hat Dr. August von Rottberg das System mit den Stufen eingeführt. Es muss ja nicht gleich Stufe 3 sein, mit Stufe 1 steigt man ein, dann sieht man weiter.

Und inzwischen ist er sich sicher, dass es Siebenhaar war, der das Skizzenbuch von Kandinsky gefälscht hat.

Der falsche Feldhase (eBook)

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