Читать книгу Der falsche Feldhase (eBook) - Killen McNeill - Страница 8
Оглавление30. April 2019 – Die Zeit ist reif
Die Zeit ist nie reif, deinem Ehemann, mit dem du seit über vierzig Jahren verheiratet bist, zu sagen, dass du ihn verlassen willst. Die Zeit ist überreif bis verfault, eine Birne, die seit Wochen im Sonnenlicht am Fenster liegt. Und sie kann nur noch fauliger werden.
Also besser spät als nie.
»Ambro?«, sagt Dorothea.
Ambrosius Siebenhaar, 69. Da sitzt er am Frühstückstisch und blättert die heutige Ausgabe der Fränkischen Landeszeitung durch. Atemberaubende Dummheit steht auf der Titelseite, und, etwas kleiner darunter: Österreichischer Vizekanzler redet sich um Kopf und Kragen. Aber Ambrosius hat noch keinen Artikel zu Ende gelesen, er blättert rasch weiter. Er trägt ein graues, mit Ölfarben beflecktes Sweatshirt und schiebt die fein behaarten Unterarme nach vorne. Ihr Muskelspiel beim Umblättern wirkt auf Doro immer noch erotisierend. Sein Bauchgewölbe ist unter dem Tisch verborgen, das graue Knäuel seines Pferdeschwanzes auf der rechten Schulter ruht wie eine eingeschlafene Katze, die wachen grauen Augen sind ganz begierig auf die Zeitung gerichtet. Gut schaut er aus für sein Alter. Mit seiner Hakennase, den tief sitzenden Augen unter den buschigen Augenbrauen, dem Grübchen im Kinn, den vertikalen Falten in den Wangen. Wie ein alter, stolzer Raubvogel.
»Ambro?«
»Ja?«
»Hörst du mir zu?«
»Gleich, Doro, gleich.«
Der Tisch ist eine alte Hobelbank, die Ambrosius vor fünfunddreißig Jahren einem Bauern aus Kornhöfstadt abgeschwatzt hat. Seit fünfunddreißig Jahren sitzt Dorothea an der Seite mit dem nutzlosen Schraubstock und haut sich die Schienbeine an der Querplanke des Untergestells an. Das passiert Ambrosius nicht, weil er die Planke abgebaut hat. Auf seiner Seite halt. Auf einer Seite muss sie ja bleiben, Doro, wegen der Statik. Weil sonst die Bank zusammenfällt.
»Ah. Es steht drin«, sagt er zufrieden mit seiner kieseligen Stimme.
»Was?«
»Wolfram-von-Eschenbach-Preisträger 2019 Ambrosius Siebenhaar. Ha, horch zu: … ein Künstler auf vielen Gebieten; Malerei, Karikatur, Grafik und Bildhauerei. Endlich wird seine Kunst erkannt als das, was sie schon immer war: unverwechselbar, prägnant, verstörend in ihrer Intensität und zugleich letztendlich zutiefst tröstend. Seit Jahren verzichtet er auf Pinsel, arbeitet ausschließlich mit Händen und Fingern. Seine Bilder sind mehr wie Skulpturen, fast dreidimensional, deren Kraft und Aussage, wie das Leben selbst, sich erst aus der Ferne erahnen lässt. Na? Ist das nichts? Da blickt doch mal eine durch, oder?«
»Könnte fast von dir sein.«
»Das ist von mir! Also, mehr oder weniger. So gut wie. Das junge Ding hat ja alles mitgeschrieben.«
»Aha. So langsam fügt sich ja alles für dich.«
»Läuft ganz gut, ja, kann man sagen. Ehrenpreis der Stadt Burgbernbach. Titelmotive auf dem Spiegel. Anfrage vom Economist. Ausstellungen in München, Frankfurt und Berlin. In der engeren Auswahl für die Gestaltung des Jugendstilsaals im Hauptbahnhof Nürnberg. Nicht schlecht für einen disziplinlosen Farbsetzer. Tja. Meine Zeit ist eben reif.«
Disziplinloser Farbsetzer, aha. So hatte ihn seinerzeit der Kunstlehrer des örtlichen Gymnasiums in seiner Funktion als Kunstkritiker der Fränkischen Landeszeitung tituliert. Vor fünfundzwanzig Jahren. Der Stachel sitzt noch tief. Aber Ambrosius hat recht: Seine Zeit ist reif. Nach den vielen langen Jahren als Kneipier, Möbelrestaurator, Hausmaler, Grafiker, Zeichner, Porträtist von Bürgermeistern, Pfarrern und Rektoren – Jahren, in denen Dorothea die Stadtbücherei in Burgbernbach geleitet, den Großteil ihrer gemeinsamen Einkünfte verdient und nebenbei noch zwei Kinder großgezogen und den Haushalt geführt hat – heimst Ambrosius endlich den Ruhm ein, den er schon immer für sich beansprucht hat.
Wenn die Zeit für Ambrosius reif ist, kann sie für Dorothea auch reif sein. Wenn er jetzt endlich gutes Geld verdient, muss sie nicht mehr für ihn sorgen wie für ein drittes Kind, muss nicht mehr immer nur mit dem Wohnmobil nach Italien fahren, nicht ständig hinter Ambrosius aufräumen, nicht mehr nur auf Rolling-Stones-Konzerte gehen, nicht mehr in einem als Holzstoß getarnten Auto fahren, nicht mehr auf seinen unbequemen restaurierten Möbeln sitzen. Sie kann endlich auf sich selbst schauen. Die Gitarre wieder herausholen. Nach Irland fahren. Abnehmen?
»Ambrosius, jetzt hör endlich zu.«
»Klar doch, liebe Thea.« Er lässt die Zeitung sinken und lenkt seinen Blick auf sie.
Jetzt nicht schwach werden. Nur weil ihn der Zeitungsbericht milde gestimmt und er »Thea« gesagt hat. Er sagt entweder Doro oder Thea zu ihr, manchmal auch Dorothea. »Doro« ist für den Alltag, für Fernsehabende, fürs Einkaufen und wenn sie für ihn etwas suchen soll: Brille, Schlüssel oder Geldbeutel. »Dorothea« hält sie auf Armlänge, ist für Zeiten, wenn er eingeschnappt oder sauer auf sie ist, wenn sie mit irgendwelchen Unannehmlichkeiten in seine bequeme, bunte Fantasiewelt einbricht. Mit Rechnungen, Versicherungen, Sachen für die Steuer. Mit dem Leben. »Thea« wird immer rarer, ist immer mehr der Vergangenheit verhaftet, immer legendenumwobener, fast nicht mehr wahr, wie Schnee im Winter. »Thea« ist fürs Bett.
»Ich habe mir Gedanken über unseren Lebensabend gemacht«, sagt sie. »Über meinen Lebensabend.«
»Über deinen Lebensabend?«
Das Telefon klingelt. »Ja, über meinen Lebensabend. Ich habe mir gedacht, dass wir eine Auszeit brauchen.«
»Wie meinst du das? Ich kann jetzt nicht in Urlaub fahren. Es passiert gerade so viel.«
Das Telefon klingelt erneut. Dorothea spricht lauter. »Ich meine eine Auszeit voneinander.«
»Willst du zu deiner Mutter fahren?«
»Meine Mutter ist tot. Seit sieben Jahren.«
»Ach ja.«
Das Telefon klingelt zum dritten Mal. Ambrosius wirft Dorothea noch einen fragenden Blick zu, dann sagt er: »Ich geh ran. Es könnte jemand Wichtiges sein.«
»Siebenhaar«, meldet er sich. Dann hört er eine ganze Zeit lang zu. Sein Gesicht nimmt die langgezogenen, ausdruckslosen, verbarrikadierten Züge an, die es bei Unannehmlichkeiten trägt. Es ist sein Dorothea-Gesicht.
»Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie sprechen«, sagt er nach einer Weile.
Dann: »Das ist sicher gut gemeint, aber Ihr Lob steht mir nicht zu. Damit habe ich nichts zu tun.«
»So, meinen Sie.«
»Aha. Interessant.«
»Nein, das ist nichts für mich.«
»Nein, das mache ich bestimmt nicht.«
»Tun Sie das ruhig. Sie werden schon sehen, wie weit Sie kommen.« Dann drückt er das Gespräch weg und steht auf.
»Was ist los?«, fragt Dorothea. »Wer war denn das?«
»Wir müssen nach Nürnberg«, sagt Ambrosius. »Sofort. Ich erkläre dir alles im Auto.«
August von Rottberg legt wieder auf und betrachtet das Schachspiel, das er gerade auf seinem Tablet gegen einen Computer führt. Das Gespräch ist nicht so gut gelaufen, wie er gehofft hatte. Die Menschen halt. Immer wieder der Schwachpunkt. Müssen sie so unberechenbar sein? Dabei ist es alles nur eine Frage der Vernunft, und alle hätten etwas davon. Aber so ist es wohl: Man plant jahrelang voraus, denkt an jedes Detail, und anstatt richtig zuzuhören, stellt sich der Kerl einfach quer. Das ist ja gerade so, als dürften die Schachfiguren bei den Zügen mitreden. Ach, nee, ich gehe nicht auf A5, das sehe ich gar nicht ein, ich schaue mal lieber, wie es mir auf C3 gefällt.
Na gut. Der Kerl muss trotzdem zur Vernunft gebracht werden. Wenn Reden nicht hilft, hat man ja noch andere Möglichkeiten. Man sorgt vor. Mit Weitblick.
Er greift noch mal zum Telefon und wählt. »Samo, der Mann, von dem ich erzählt habe, stellt sich dumm. Ich vermute, er fährt gerade nach Nürnberg. Zum Albrecht-Dürer-Haus. Wahrscheinlich will er seine Spuren verwischen. Er wird wohl versuchen, ein Bild aus dem Haus zu stehlen. Im vierten Stock. Warte da auf ihn, fotografiere ihn dabei und halte ihn danach draußen auf und nimm ihm das Bild ab. Und, Samo, noch was. Ich weiß, das ist nicht seine einzige Fälschung. Ich kenne wenigstens noch eine weitere. Schau, dass du möglichst viel dazu herausfindest. Wir brauchen wohl etwas Druck … Nein, nicht doch. Nicht wie damals. Wenigstens nicht gleich. Ja, genau. Stufe 1. Und halte dir die nächsten Tage frei, man weiß nie. Ja, eine Woche reicht, auf jeden Fall. Ein paar Tage, denke ich, mehr nicht. Wann kommt die nächste Lieferung? Klar, schaffst du locker.«
So. Und jetzt? Er spürt so einen unangenehmen Druck im Kopf, der in Schmerzen ausarten könnte, wenn er nichts dagegen unternimmt. Er beschließt, eine Kundenrezension auf amazon über Was zählt in der Kunst zu schreiben und den Schwachkopf von Autor so richtig in die Pfanne zu hauen. Danach wird er sich wieder besser fühlen.
Ambrosius und Dorothea rattern in ihrer Ente Richtung Nürnberg. Der Citroën 2CV hat verschiedene Inkarnationen durchlebt. Zuerst hat Ambrosius das Auto als die übliche Blumenwiese bemalt, später als Baguette, dann als Polizeiauto mit dem Schriftzug Polente auf den Türen, und, seit letztem Jahr, als Holzstoß. Von der Seite schaut der Betrachter auf die runden, gelben Schnittflächen, ebenso auf den Radkappen, von vorne und hinten auf die aufeinandergestapelten Stämme mit abblätternder Rinde. Der 3-D-Effekt ist verblüffend, das muss selbst Dorothea zugeben. Aber sonst ist sie von dem Ding nur genervt. Vor vierzig Jahren, als Ambro das Auto kaufte, ging so eine Ente noch als kauzig-originell durch, künstlerisch eben, aber inzwischen ist sie wie ein Witz, den man schon zu oft gehört hat. Oder als würde man immer noch Schlaghosen und gestreifte Pullis tragen. Bei Ambrosius’ Ente im Holzstoß-Look kommt noch dazu, dass jeder eine besonders witzige Bemerkung machen will. Meistens in der Art: Ach, ein Auto ist das? Gerade wollte ich es aufladen und zu Hause verschüren.
»Du hast was, Ambro?«, fragt Dorothea. »Eine Dürer-Kohlezeichnung gefälscht?«
»Nicht direkt gefälscht.«
»Indirekt gefälscht?«
Ambrosius hebt die rechte Hand vom Lenkrad und dreht sie um, sodass die offene Handfläche wie ein Friedensangebot in Richtung Dorothea zeigt. »Von meiner Seite aus gesehen war es in erster Linie mehr so eine Hommage an Dürer«, sagt er. »Eine Ehrerweisung.«
»War das auch dem klar, der es gekauft hat?«
»Nicht so direkt. Ich habe aber nie gesagt, dass es von Dürer ist.«
»Aber auch nicht, dass es von dir ist.«
Er greift wieder zum Lenkrad. »Mein Gott, Dorothea, im Leben ist halt nicht alles immer schwarz-weiß!«
»Alles vielleicht nicht, Kohlezeichnungen aber schon. Hast du Dürers Logo, dieses Ding, dieses kleinere D, das im großen Pagoda-Haus A wohnt, auch gefälscht? Oder sollte ich fragen: Hast du Dürers Monogramm ebenfalls die Ehre erwiesen?«
»Ach Gott, es ist so lange her. Ich glaube, da ist irgendetwas drauf, so etwas Schemenhaftes, das man so interpretieren könnte. Wenn man wollte.« Jetzt fuchtelt Ambrosius eher vage mit seiner rechten Hand, wie wenn er etwas verscheuchen will.
»Natürlich. Wenn man wollte.«
»Genau. Die Ecke war angerissen.«
»Von dir wahrscheinlich. Oder hast du das Blatt so angerissen gekauft?«
»Mein Gott, nein, ich hab’s so angerissen.«
Dorothea hält sich an der Schlaufe oberhalb ihrer Tür fest. »Etz bleib halt hinten. Du kannst den Laster eh nicht bergauf überholen.«
»Kann ich doch.« Ambrosius greift wieder mit beiden Händen ins Lenkrad, als wollte er es zu sich ziehen. Der Motor heult gequält auf.
»Du siehst doch nichts.«
»Du siehst vielleicht nichts. Ich seh genug.«
»Oh Gott.« Dorothea schnappt nach Luft.
Ein entgegenkommendes Auto blinkt auf.
»Oh Gott.«
Das Auto kommt näher.
»Ja, soll ich vielleicht dem Laster bis Nürnberg hinterherfahren?«, sagt Ambro und schert vor dem Laster ein. Der Lasterfahrer hupt, der Autofahrer zeigt ihm den Vogel.
»Ja, ist schon recht«, sagt Ambro. »Alles im grünen Bereich.«
»Das habe ich nie begriffen«, sagt Doro. »Wenn du so fahren willst, warum kaufst du dann keinen BMW?«
»Schaue ich aus wie ein Bonzenarsch?«
Dorothea deutet auf ein Aufhebungsschild. »Da war Tempo 70.«
»Jetzt nicht mehr«, sagt Ambrosius. »Wer fährt hier, du oder ich?«
Der April war bisher verregnet und kühl, heute wechseln sich Regenwolken und blauer Himmel ab. Aber vom versengenden Sommer 2018 zeugen ganze Leichen von Fichtenstämmen, die aufgestapelt links und rechts am Straßenrand liegen. Ihre erkrankten, sterbenden oder schon verstorbenen Verwandten leuchten rot-gelb in den Wäldern wie verrostete, ausrangierte Maschinen in einer stillgelegten Industriesiedlung.
»Also das Monogramm ist drauf in irgendeiner Form, aha«, sagt Dorothea. »Und wie ist es da drauf gekommen?«
»Du kannst ganz schön penetrant sein, weißt du das? Das war, das war 1982 oder so, wir haben gerade das Haus gekauft, Hochzinsphase, kannst dich vielleicht erinnern. Neuneinhalb Prozent Zinsen haben wir bezahlt. Du hast gerade Benjamin bekommen und konntest nicht arbeiten …«
»So schnell wie ich hat keine Frau nach einer Geburt wieder gearbeitet.«
»Gut, aber da hast du eben nicht gearbeitet«, sagt Ambrosius. »Weißt du noch, wie der Sparkassendirektor mich zu sich zitiert hat? Nein, das weißt du nicht, erniedrigend war das. Drei Monate Zeit hat er mir gegeben. Schau dir den Deppen da an. Da kann man doch nicht überholen.«
»Lass ihn«, beschwichtigt Dorothea. »Der fährt eben einen BMW. Warte mal. 1982. Benjamins Geburt. Da haben wir doch die Kneipe gehabt. Hinkelstein. Die ist doch gut gegangen. Die war jeden Abend voll. Die hat richtig Kohle gebracht. Aber du hast gesagt, die nimmt dir die ganze Kraft zum Malen.«
»Hat ja auch gestimmt.«
»Du hast gesagt, die Kneipe nimmt dir die ganze Kraft zum Malen, und hast sie aufgegeben. Und hast dann drei Monate lang nicht gemalt, sondern einen Dürer gefälscht.«
»Ich habe einen Dürer gezeichnet.«
»Mensch, Ambro. Du übersiehst da eine Kleinigkeit. Nur ein Dürer kann einen Dürer zeichnen. Also nur jemand mit dem Namen Dürer. Wenn andere Menschen, die anders heißen, zum Beispiel Ambrosius Siebenhaar, wenn die ein Bild zeichnen, dann ist das kein Dürer, sondern höchstens ein Siebenhaar. Und wenn solche Leute so tun, als ob das eine Dürer-Zeichnung wäre, ist es trotzdem immer noch keine Dürer-Zeichnung, sondern eine Dürer-Fälschung.«
»Mein Gott. Du kannst einen mit deiner Logik erschlagen.«
»Weich mir nicht aus. Du hast es für Geld verkauft. Und jetzt hängt es im Dürer-Haus.«
»Moment mal. Langsam.« Ambrosius hebt einen Zeigefinger. »Das stimmt so nicht ganz. Ich habe es nicht an das Dürer-Haus verkauft.«
»Sondern an wen?«
»Das willst du nicht wissen, Doro.«
»Doch.«
»An den Pettkus.«
Dorothea schlägt mit ihren Handflächen auf ihre ausladenden Oberschenkel. »Das gibt’s doch nicht. Ihr habt ja nicht mal miteinander geredet.«
»Damals schon. Da hatte er noch nichts für die Zeitung geschrieben.«
»Da vorne ist eine Baustelle. Die Ampel ist gelb.«
Ambrosius gibt Gas. »Gelb ist mir grün genug.« Der Motor heult auf.
»Jetzt ist sie aber rot.«
»Ach was.«
Godehard Pettkus war eben der Kunstlehrer am Burgbernbacher Gymnasium, der Ambrosius vor fünfundzwanzig Jahren einen disziplinlosen Farbsetzer schimpfte. Das war bei Ambros erster und letzter Bilderausstellung im Burgbernbacher Schloss. Danach waren die zwei einander spinnefeind: Es ging um die Kunst, um das Leben, um die Welt. Um alles. Für Ambrosius war der Pettkus kein Künstler, sondern ein Beamtenpinsel, der seine Seele für ein gutes Gehalt und eine gesicherte Pension an den Staat verkauft hat. Für den Pettkus war Ambrosius’ Leben als Künstler eine ständige Erinnerung an den eigenen Ausverkauf; eine Mahnung.
Ambrosius und Dorothea rumpeln als Nachsatz, als schon fast vergessene Nachgeburt, durch die Baustelle.
»Der da vorne will losfahren«, sagt Dorothea. »Er hat bestimmt schon Grün.«
»Der soll halt warten. Ja, genau, du mich auch.«
»Hast du es dem Pettkus als Dürer verkauft?«
»Nein, natürlich nicht. Ich habe ihn selbst darauf kommen lassen.« Ambrosius nickt zufrieden. »Das ist ja gerade der Clou. Du musst die Leute immer denken lassen, dass sie die Schlauen sind. Dass sie dich übers Ohr hauen können.«
»Das klingt so, wie wenn du das öfters gemacht hättest.«
»Jetzt lass mich doch mal ausreden, Doro. Ich hab damals gesagt, die Gräfin wäre etwas in Geldnot und hätte mich gebeten, wenn ich schon im Schloss bin, ob ich nicht mal ihre Bibliothek durchforsten könnte, ob da etwas dabei wäre, was man verkaufen könnte.«
»Und hat sie das? Lass mich raten. Nicht direkt, gell?«
»Fast. Ich kann mich gerne mal umschauen, hat sie gesagt. Oder so ähnlich. Und das habe ich getan. Und weißt du, was ich gefunden habe? Einen uralten Papierstapel. Jahrhunderte alt. Das heißt, aus Lumpen hergestellt und nicht gechlort. Optimal.«
»Und was hast du dem Pettkus erzählt?«, bohrt Dorothea nach.
»Na, da hätte ich eben in einem Buch aus dem 16. Jahrhundert, und zwar war das Reineke Fuchs, zweite Auflage 1545, ich weiß es noch genau, das habe ich auch tatsächlich gefunden, egal, da wäre eine Zeichnung drinnen gewesen …«
»… die aber tatsächlich nicht drinnen war«, ergänzt sie.
»… wäre eine Zeichnung drinnen gewesen, und ob er Interesse daran hätte. Ich hab’s ihm gezeigt, und da konnte man richtig zusehen, wie er denkt, wie die Mühle anläuft«, Ambrosius macht eine kreisende Bewegung mit dem Zeigefinger neben seiner Schläfe. »Er hat sich so richtig die Hände gerieben. Also mehr so innerlich.«
»Für wie viel hast du es verkauft?«
»Achthundert Mark«, sagt Ambrosius. »War ein Haufen Kohle damals. Das waren die Zinsen für ein halbes Jahr. Kohle für Kohle. Ha.«
»Da hast du dir aber auch innerlich die Hände gerieben. Hast du der Gräfin was davon gegeben?«
»Jetzt spinnst aber, Dorothea. Denk mal nach. Das Bild war ja von mir.«
»Ach so, ja. Stimmt. Ich bin ja so dumm.« Dorothea patscht sich an die Stirn.
»Na ja, und dann kam es irgendwie zum Diehl.«
»Zu was für einem Deal?«
»Nicht Deal, Diehl«, betont Ambrosius.
»Sag ich doch.«
»Ich meine nicht das Geschäft, Deal, sondern den Menschen Diehl.«
»Verstehe ich nicht.«
»Mensch, Doro, Diehl. Karl Diehl. Der Pettkus muss irgendwann das Bild dem Diehl untergejubelt haben. Von der Rüstungsfirma Diehl. Haben Zwangsarbeiter im Zweiten Weltkrieg zu Tode geschunden und dafür nach dem Krieg halb Nürnberg wiederaufgebaut.«
»Ach, der. Freund von Franz Josef Strauß.«
»Genau. Amigo. Der hat ja alles an sich gerissen, an dem der Dürer nur vielleicht mal geschnüffelt hat. Und der hat seine Sammlung dem Dürer-Haus gestiftet, und seitdem ist das Bild in einem Portfolio im Nebenzimmer. Es wird Albrecht Dürer nur zugeschrieben. Mit ziemlicher Sicherheit zugeschrieben. Es gilt als vorläufige Studie für seinen Feldhasen.«
»Und was willst du jetzt machen?«
»Klauen, natürlich.«
»Du spinnst.«
»Überleg doch mal, Doro. Es gibt nur die eine Möglichkeit.«
»Wie wäre das: Du gehst hin und sagst ›Oh, was ist denn das hier? Das ist ja von mir. Wie kommt das denn da hinein?‹«, sagt Dorothea.
»Und das angedeutete Monogramm?«
»Ich denke, das ist angerissen?«
»Das ist so angerissen, dass oben so ein ganz kleines bisschen das Dach vom A rausschaut, und links die Spitze vom Fuß vom A. Ich musste erst das Monogramm zeichnen und dann wegreißen. Was meinst, wie schwer das hinzukriegen war.«
»Ach Gottla. Du Armer.«
»Nee.« Ambrosius schüttelt den Kopf. »Das muss weg. Sonst kann ich meine ganze schöne Zukunft vergessen. Sonst stehe ich als Fälscher da. Wir gehen unauffällig in das Haus …«
»Unauffällig. Das hättest du früher sagen können. Schau uns doch an.«
»Was? So laufen wir doch immer rum.«
Ambrosius hat seine imposante Figur in einen Lodenmantel drapiert, Westernreitstiefel angezogen, und auf dem Kopf trägt er einen australischen Bushwacker-Lederhut. Dorothea war schon immer fast so groß wie er, und seit der Geburt der Kinder ist sie richtig in die Breite gegangen. Sie geht spielerisch-offensiv damit um, schminkt sorgfältig ihre großen Augen und ihr faltenarmes Gesicht, aus dem das Mädchen oder sogar das Kind, das sie war, noch herausschaut. Sie trägt am liebsten bunte Patchwork-Überwürfe, so wie auch heute, und ihr grün gefärbter Pagenschnitt lugt unter einem rosaroten Schlapphut hervor, aus dem sich seitlich eine riesige Pfauenfeder reckt. In ihrer alten Ente sind die beiden derart eng in die Vordersitze eingepfercht, dass sie wahrscheinlich auch unangeschnallt unversehrt einen Überschlag überleben könnten.
»Na ja«, sagt Ambrosius. »Vielleicht können wir die Hüte weglassen.«
»Ach so. Dann wäre die Sache ja geritzt. Aber wer war das eigentlich, der dich vorhin angerufen hat?«
»Das weiß ich nicht. Er hat seinen Namen nicht gesagt.«
»War es ein Deutscher?«
»Ich denke schon. Hat so eine komische, tiefe, rumpelnde Stimme gehabt, wie so ein Hollywood-Action-Star. Oder ein deutscher Werbesprecher. Wie wenn er sich das antrainiert hätte.«
Sie kommen auf die Südwesttangente. Ambrosius bleibt links.
»Und woher weiß dieser Kerl, dass die Zeichnung eine Fälschung ist?«, fragt Dorothea.
»Das weiß ich auch nicht. Ich habe ja alles abgestritten. Hast ja gehört. Aber warte mal. Wir brauchen das Bild gar nicht zu klauen. Also schon mitnehmen …«
»Ach so, bloß mitnehmen, nicht klauen. Dann bin ich ja erleichtert.«
»Lass mich mal ausreden, Doro. Also mitnehmen, aber nicht irgendwie mit dem Bild unterm Arm oder in der Unterhose aus dem Haus marschieren. Wir müssen nur die Grafik im Haus entsorgen. Genau.«
»Wie denn?«
»Ganz einfach. Zerreißen und ins Klo runterspülen. Vor Ort noch.«
»Aha. Warum es nicht gleich ordnungsgemäß dem Altpapier zufügen?«
»Jetzt bleib halt ernst, Dorothea.«
»Weißt, Ambro, das hier ist wirklich kein BMW.«
»Ja und?«
»Du könntest mal rechts rüber.«
»Die fahren alle so langsam.«
»Nicht so viel langsamer.«
»Ich hab’s eilig. Den noch. So. Ja, schönen Dank auch.«
»Und wenn das Bild weg ist, dann bist du aus dem Schneider? Dann kann der Typ dich nicht anzeigen?«
»Ach so«, sagt Ambrosius, beißt sich auf die Unterlippe und trommelt mit den Fingern auf das Lenkrad. »Das habe ich dir noch gar nicht gesagt. Er will mich gar nicht anzeigen.«
»Nicht? Was will er dann?«
»Er war so richtig begeistert von meiner Kunst, verstehst du? So begeistert, wie noch niemand es war. Er hat gesagt, so perfekt hat noch niemand Dürers Dings nachgemacht. Seine Handschrift halt. Ach, ja, ›Duktus‹ hat er gesagt, genau. Er hat von meinem Fell so was von geschwärmt.«
»Von deinem Fell? Du hast doch gar kein Fell.«
»Von dem Fell von meinem Hasen natürlich. So richtig knuffig, hat er gesagt.«
»Ach so.«
»Ja. Also, er wollte mich nicht anzeigen. Im Gegenteil. Er wollte, dass ich weitermache. Dass ich noch andere Bilder fälsche, er hätte da Verbindungen, er könnte sie in Museen und Galerien unterbringen. Er wollte mit mir richtig ins Geschäft kommen. Er wollte, dass wir uns das Geld teilen. Wir könnten richtig reich werden, hat er gemeint. Ach ja.« Er seufzt.
Dorothea betrachtet ihn. Er hat den rechten Mundwinkel nach oben angehoben. Irgendwie resigniert. Nachtrauernd. »Sag mal, Ambro. Wenn du nicht kurz vor dem Durchbruch stehen würdest … Ich meine, wenn du jetzt nicht genug Geld auf legale Weise verdienen könntest …«
»Ja?«
»Würdest du mitmachen?«
Er schaut zu ihr hinüber und schüttelt kurz mit seinem großen Kopf. »Weiß ich nicht, Doro.«
»Aha. Und warum bin ich überhaupt dabei?«
»Na ja. Weißt du, wir müssen zu zweit sein. Einer lenkt ab, und einer klaut das Bild und entsorgt es.«
»Gut. Kann ich mir aussuchen, was ich mache? Dann lenke ich ab.«
»Das ist nicht so gut, Doro.«
»Irgendwie habe ich mir schon gedacht, dass du das sagst.«