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Ich schlug Henriks Angebot aus, mich zurück in die Stadt zu fahren. »Wie kommst du dann nach Hause? Es ist weit zu laufen.«

»Ich laufe gerne und außerdem kann ich den Bus nehmen. Jetzt, wo ich schon einmal in der Nähe bin, werde ich ins Kunstmuseum gehen. Es ist Jahre her, dass ich das letzte Mal dort war.«

Er umarmte mich kurz, fast brüderlich, bevor er sich ins Auto setzte. »Schön, dass du wieder zu Hause bist.«

Ich lächelte schief. »Hoffen wir, dass du in einem Monat noch das Gleiche denkst.«

»Das werde ich«, versicherte er. »Wir sehen uns morgen.« Er setzte sich ins Auto und ließ das Fenster herunter. »Ich freue mich wirklich, dass du Ja gesagt hast.«

Ich nickte. Ich tat das nicht, aber jetzt war es zu spät, das zu sagen.

Ich wollte eigentlich ins Museum gehen, aber das Wetter war so schön, dass ich stattdessen durch den Hafen schlenderte und mir die Boote ansah, die auf dem Wasser lagen und in den Vertäuungen schaukelten, während der Wind es in den Takelagen wie von hunderten von Schellen klingeln und bimmeln ließ.

Ich wusste noch immer nicht genau, um was es in meinem neuen Job ging.

»Das wirst du morgen erfahren«, hatte Henrik gesagt. »Wir treffen uns um neun in meinem Büro. Dann erkläre ich dir, worum es bei dem Ganzen geht und was deine Aufgabe ist.«

Das war alles, was ich aus ihm herausbekommen hatte.

Ich landete schließlich bei den Ruderklubs. Die alten Holzgebäude liegen seit undenklichen Zeiten dort. Der Damenruderklub, die Seepfadfinder, der Kajakklub, Ägir und so weiter. Alles sah genauso aus wie immer. Vielleicht ein bisschen heruntergekommener. In den drei Jahren, die ich aufs Gymnasium gegangen war, hatte ich hier gerudert. Rudern und Schwimmen waren die einzigen Sportarten, aus denen ich mir wirklich etwas mache. Allie behauptete immer, das komme daher, dass ich im Zeichen der Fische geboren bin; ich sagte, sie sei geisteskrank, wenn sie an so etwas glaube.

Das Tor zu dem Weg, der zu dem grasbewachsenen Platz hinter meinem alten Klubhaus führte, stand offen. Ich erlag der Versuchung hineinzugehen und hatte fast das Gefühl, auf verbotenen Pfaden zu wandeln. Die Türen zur Bootshalle standen weit offen, die meisten der Boote schienen drinnen zu sein und nirgendwo war eine Menschenseele zu sehen.

Hinten bei dem Bollwerk stand ein Tisch mit ein paar befestigten Bänken. Ich setzte mich auf eine der Bänke und zündete mir eine Zigarette an. Es war ein altes Laster, das ich voller Freude wieder aufgenommen hatte, nachdem ich nach Hause gekommen war. In den USA war ich mir wie ein Paria vorgekommen, wenn ich rauchte, und ich hatte bereits festgestellt, dass es hier kaum anders war, sodass es sicher darauf hinauslaufen würde, dass ich wieder aufhörte, aber nicht gleich.

Es war seltsam still hier. Ich hörte nur das Glucksen des Wassers gegen das Bollwerk, die Schreie der Möwen und in der Ferne wie ein schwaches Dröhnen den Verkehr.

Ich blies einen dünnen Streifen Rauch in die Luft und betrachtete durch ihn hindurch die Aussicht. Rechts von mir lag die Eisenbahnbrücke und etwas weiter entfernt die Straßenbrücke. ›Die neue feste Brücke‹, wie Großmutter sie immer genannt hatte. In ihrer Kindheit – vor fast hundert Jahren – war dort eine Pontonbrücke gewesen, weshalb die Straßenbrücke für sie immer ›die neue feste Brücke‹ blieb.

Auf der anderen Seite des Fjords konnte ich die Bäume von Skansen und direkt unter ihnen die funktional gebauten Häuser sehen, in denen Großmutters Freundin, Tante Eja, gewohnt hatte. Manchmal besuchten wir, Allie und ich, sie zusammen mit Großmutter und jedes Mal wunderte ich mich darüber, dass die kleine, muntere, lebhafte Tante Eja und meine große, strenge Großmutter Freundinnen waren. Manchmal, glaube ich, wunderte das auch sie.

Weiter unten links erahnte ich etwas von der Kirche, in der Allie und ich getauft worden waren. Großmutter hatte das durchgesetzt. Ich war fast ein Jahr und Allie muss knapp sieben gewesen sein. Es war das erste Mal – aber bei weitem nicht das letzte –, dass unsere Eltern uns der Obhut unserer Großmutter überließen und von ihrer Seite war es die reinste Erpressung. »Ich passe nur unter der Bedingung auf sie auf, dass sie getauft werden. Ich will nicht die Verantwortung für ein paar ungetaufte Kinder.«

Vater begehrte auf. Er war gegen die Kindstaufe. Seiner Meinung nach war das nichts als sentimentaler Unsinn, doch war ihm für drei Monate eine Stiftungswohnung in Paris angeboten worden und Paris war nicht nur eine Messe, sondern auch eine Kindstaufe wert, sodass Großmutter – wie fast immer, wenn es um uns ging – ihren Willen bekam. Mutter und Vater nahmen noch obendrein an der Komödie teil, wie Vater das nannte. Wir haben ein Foto von dem Tag. Ich gleiche einem fetten, haarlosen Buddha, während Allie mit ihren goldenen Korkenzieherlocken und ihrem halblangen weißen Kleid mit der rosa Schleife um die Taille einem alten englischen Gemälde entsprungen zu sein scheint. Sie sieht aus wie ein Engel.

In der Kirche benahmen wir uns beide exemplarisch.

Als Allie an der Reihe war und der Priester sie – mit einem Blick zu Großmutter hin – fragte, ob sie dem Teufel und all seinen Werken entsagen wollte, knickste sie höflich und sagte Ja, danke. Sowohl der Priester wie auch mein Vater mussten zu Großmutters großem Ärger lachen, während Großvater, der schwerhörig war, verständnislos von einem zum anderen sah, ohne einen Ton von dem zu verstehen, was vor sich ging.

Meine Augen wurden nass, während ich dasaß und vor mich hin starrte. Ich schniefte und trocknete mir die Augen.

Der Klang von Stimmen ließ mich den Kopf drehen. Zwei große Burschen mit einem kleineren im Schlepptau kamen eifrig diskutierend aus der Bootshalle. Gymnasiasten, schätzte ich.

»Er hätte ruhig ein bisschen früher anrufen können«, sagte der Kleinste irritiert.

»Jetzt sei mal ein bisschen vernünftig, Anders«, sagte einer der anderen. »Das ist wohl nicht das Erste, woran man denkt, wenn man mit einem gebrochenen Arm in der Unfallstation sitzt.«

»Ich hätte das getan«, behauptete der Junge, der Anders hieß. »Du nicht auch, Martin?« Er wandte sich an den dritten.

»Nee. Ich habe kein Handy. Außerdem hätte das nichts gebracht. Es wäre trotzdem zu spät gewesen, um einen Ersatz zu finden.«

Sie waren von ihrem Gespräch so in Anspruch genommen, dass sie mich erst jetzt sahen. Sie starrten mich ungeniert an, als wäre ich ein merkwürdiges Tier.

»Hei, Mutter!«, rief Anders.

Mutter! Nicht Schwester. Genau das hatte mir noch gefehlt. Zuerst erinnerte mich Henrik daran, dass ich auf der falschen Seite der dreißig stand und jetzt Mutter! Was zum Teufel bildete der kleine Rotzlöffel sich eigentlich ein?

Ich sah ihn drohend an. »Nenn mich noch einmal Mutter und du fängst dir eine ein!«

Sie starrten mich verblüfft an und ich bereute die Worte in dem Moment, in dem ich sie ausgesprochen hatte. In Philadelphia bedurfte es weniger, um zusammengeschlagen zu werden, und sie waren zu dritt.

Ich beeilte mich zu lächeln, um zu zeigen, dass das nur ein Witz gewesen war.

Glücklicherweise grinsten alle drei. »Entschuldigung, die Dame, Entschuldigung! Nichts für ungut!«, sagte Anders.

Ich fand Dame nicht viel besser, aber ich ließ es durchgehen.

Sie schlenderten weiter zu dem Weg und blieben eifrig diskutierend an der Ecke des Klubhauses stehen. Der, der Martin hieß, drehte sich um und rief mir irgendetwas zu, das ich nicht verstand. Es klang, als würde er fragen, ob ich rodeln könnte.

»Ob ich was kann? Ich habe es nicht verstanden.«

»Rudern!«, rief er. »Ich habe gefragt, ob Sie rudern können!«

»Ja, kann ich«, rief ich zurück.

Er kam zu mir und die anderen folgten ihm leicht widerstrebend.

»Stimmt das? Können Sie rudern?«, fragte er. Es klang noch immer wie rodeln.

Ich lenkte ein wenig ein. »Jedenfalls konnte ich das, aber es ist zehn Jahre her, seit ich das letzte Mal gerudert habe.«

»Was haben Sie gerudert?«

»Einen Vierer mit Steuermann. Warum?«

»Glauben Sie, Sie können das noch?«

»Ja, davon gehe ich aus. Das ist doch wie Radfahren. Wenn man es erst einmal kann, verlernt man es nicht mehr. Aber ich bin überhaupt nicht in Form und du hast nicht gesagt, warum du das wissen willst.«

Aber ich hatte natürlich eine qualifizierte Vermutung.

»Uns fehlt eine Reserve«, erklärte er. »Unser Erster hat sich den Arm gebrochen. Wir haben es eben erst erfahren.«

»Was rudert ihr?«

»Auch einen Vierer.«

»Und wo ist euer Steuermann?«

»Wir rudern ohne Steuermann.«

»Ohne Steuermann. Dann ohne mich. Das kann ich nicht. Das habe ich nie ausprobiert.«

»Einmal ist immer das erste Mal.«

»Hast du nicht gerade gesagt, dass sich euer Erster den Arm gebrochen hat?«

»Ja, aber ...«

»Dann vergesst es! Soweit ich mich erinnere, steuert der Erste, wenn ohne Steuermann gerudert wird.«

»Ja, aber Joachim kann gut den Platz des Ersten übernehmen«, sagte er eifrig und nickte zu ihm hin. Er hatte noch kein Wort hervorgebracht. »Dann übernehmen Sie seinen Platz. Er ist der Zweite. Das ist auch gut für’s Gleichgewicht, denn Anders, der kleine Knirps, ist der Dritte.«

Der kleine Knirps war de facto etwas größer als ich. Das stellte ich später fest und ich bin eins siebenundsiebzig. Er sah nur im Verhältnis zu den anderen klein aus.

»Ich weiß nicht recht«, sagte ich zögernd.

Ich sah über den Fjord hinaus. Es könnte schon Spaß machen, es noch einmal zu versuchen. Nur ein einziges Mal.

»Ich bin nicht Mitglied«, sagte ich.

»Das brauchen Sie beim ersten Mal auch nicht. Wir können einmal zur Probe rudern, ob es funktioniert. Dann können Sie ja immer noch Mitglied werden.«

Sie mussten verrückt sein, wenn sie glaubten, ich würde regelmäßig mit ein paar Gymnasiasten rudern, die mich Mutter genannt hatten!

Ich sah noch einmal über das Wasser, dann holte ich tief Luft und drehte mich zu ihnen um. »Okay. Aber nur dieses eine Mal! Mit mehr könnt ihr nicht rechnen.«

Mein Weg zur Hölle muss mit übereilten Entschlüssen gepflastert sein!

Der Hausmeister fegte die Straße vor dem Haus, als ich endlich bei meiner Wohnung ankam. Ich war zum Umfallen müde und ich brauchte ein Bad.

»Was ist denn mit Ihnen los?«, fragte er. »Sie sehen ja richtig verschlaucht aus.«

»Geschlaucht, Rade«, sagte ich. »Geschlaucht. Ich bin nur müde.«

»Ihr Freund hätte Sie ruhig nach Hause fahren können«, sagte Rade missbilligend. Er hatte gesehen, wie Henrik mich am Nachmittag abgeholt hatte. »Sie müssen ihn erziehen. Aber es ist gut, dass Sie jetzt einen Freund haben. Ein nettes Mädchen braucht einen Freund, nicht?«

»Das ist nicht mein Freund, Rade«, sagte ich. »Das ist mein neuer Chef. Ich habe eine Arbeit gefunden.«

Rades Gesicht überzog ein Netz von Lachfältchen. »Gut! Mit dem Chef befreundet, das ist noch besser.«

»Sie wissen doch, dass ich keinen anderen Freund haben will außer Ihnen.«

Rade lachte. »Ich bin zu alt.«

»Wenn Sie das sagen.«

Eigentlich heißt Rade Radoslav und ist Jugoslawe. Er und seine Frau sind vor 31 Jahren hierher gekommen. Er ist gerade siebzig geworden. Er hat bei Eternit gearbeitet und hatte das Glück, eine der kleinen Wohnungen hier im Haus zu bekommen. Die Frau des Eigentümers war selbst Jugoslawin und mehr als gerne bereit, einem Landsmann zu helfen, also wurde Rade Hausmeister und das ist er immer noch. Er und eine alte Dame, die in einer der Parterrewohnungen in unserem Aufgang wohnt, sind die Einzigen, die hier zur Miete wohnen. Alle anderen Wohnungen sind in Eigentumswohnungen umfunktioniert worden, nachdem die alten Mieter gestorben oder weggezogen sind.

Jeden Abend zwischen sechs und sieben fegt Rade den Bürgersteig. Ich habe ihn einmal gefragt, ob er wirklich Geld bekommt, um jeden Abend zu fegen. Er hat nur mit den Schultern gezuckt.

»Ich bin hier Hausmeister, nicht? Hier soll es ordentlich aussehen.«

Es ist ordentlich. Keine Graffiti. Keine kaputten Scheiben. Keine Hundescheiße auf dem Bürgersteig, nichts, das im Hof oder im Keller herumliegt. Jeden Samstag wird die Treppe geputzt. Sowohl die Vordertreppe wie die Hintertreppe. Freitagabend stellen die Bewohner die Fußmatten hoch und Samstagmorgen ist die Treppe geputzt. Als wären im Laufe der Nacht die Heinzelmännchen da gewesen. Das hat Rades Frau immer gemacht, bevor sie krank wurde, hat er erzählt, dann hat er auch das übernommen. Da war er ja schon in Pension. Sie ist in dem Jahr gestorben, bevor es in Jugoslawien knallte.

»Damals habe ich Gott verflucht!«, hat mir Rade erzählt. »Wir hatten all die Jahre gespart. Das Geld dort unten auf der Bank deponiert. Ein schönes kleines Haus gekauft, das wir vermietet hatten. Wir wollten runterziehen, wenn wir erst pensioniert waren. Das war unser Traum. Unsere letzten Jahre zu Hause zu verbringen und dort zu sterben. Dafür haben wir gespart. Jetzt ist das Haus weg, das Geld ist weg, das Dorf, die Familie ...« Er zuckte mit den Schultern. »Es gibt nichts, zu dem man nach Hause kommen kann. Jetzt danke ich Gott, dass sie das nicht hat erleben müssen. Am Tag vor ihrem Tod hat sie gesagt, dass wir runterziehen sollten, sobald sie wieder gesund genug ist. Wir hatten ja unser Auskommen. Ich habe Ja gesagt und sie geküsst und in der Nacht ist sie gestorben. Ich habe bei ihr gesessen und ich weiß, dass sie glücklich gestorben ist. Damals habe ich es nicht verstanden, aber jetzt weiß ich, dass es das Beste war, was ihr in ihrem Leben passiert ist. Dass sie zur rechten Zeit gestorben ist. Manchmal weiß Gott, was er tut, nicht?«

»Auch in Jugoslawien?«, fragte ich.

»Das ist nicht Gottes Werk. Das ist das Werk der Menschen.«

Das mochte ich nicht kommentieren. Ich weiß nicht, ob Rade mir von seiner Frau erzählt hat, um mich zu trösten, als er begriffen hatte, wie krank meine Schwester Allie war. Vielleicht. Aber ich glaube es nicht. Ich glaube, dass er einfach Lust hatte, von sich zu erzählen. Das konnte er mir geben. Seine Geschichte. Dass ich ihn sah, wie er war. Dass ich ihn kannte und an der richtigen Stelle in meiner eigenen Geschichte einordnen konnte. Ich mag ihn sehr. Das sage ich ihm regelmäßig.

»Sie erinnern mich an den Griechen Sorbas«, habe ich ihm bei einem der ersten Male gesagt, die wir miteinander gesprochen haben.

Er lachte. »An Anthony Quinn? Ihm ähnele ich nicht.«

Aus dem einen oder anderen Grund verblüffte es mich, dass er den Film gesehen hatte, dass er irgendetwas mit Sorbas verband. Aber warum nicht? Er hatte jahrelang hier gelebt. Er war mit seiner Frau oft ins Kino gegangen, obwohl sie nicht besonders viel mitbekam, da sie kein Englisch verstand und die dänischen Untertitel nicht lesen konnte.

»Nein, ich meinte nicht Anthony Quinn. Sondern den richtigen Sorbas. Den aus dem Buch. Ich habe das Buch gelesen, bevor ich den Film gesehen habe, und Sorbas gleicht ihnen.«

»Eigentlich mag ich die Griechen nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil sie unsere Nachbarn sind. Die Leute mögen ihre Nachbarn nie, nicht? Wir mögen die Griechen, die Albaner und die Italiener nicht. Die Dänen können die Deutschen und die Schweden nicht leiden.«

Ich verdrehte die Augen. »Einige meiner besten Freunde sind Schweden!«

Rade lachte. Er spricht Dänisch mit einem furchtbaren Akzent, aber er versteht fast alles. Ihm entgeht kaum etwas, weder Ironie noch Sarkasmus noch Untertreibungen oder versteckte Zitate, das ist schon imponierend. Man kann Witze mit ihm machen. Die in einer fremden Sprache zu verstehen gehört mit zum Schwersten; ich spreche aus Erfahrung.

In der ersten Zeit war Rade der Einzige im Haus, mit dem ich gesprochen habe. Vielleicht ist das nur natürlich, er war der Hausmeister, zu ihm ging man, wenn der Wasserhahn tropfte oder die Sicherungen heraussprangen, aber ich fand es seltsam, dass die anderen Hausbewohner nur nickten, wenn man sich auf der Straße oder der Treppe traf. Zehn Jahre war ich die amerikanische Aufgeschlossenheit gewohnt gewesen, wo man neue Nachbarn willkommen heißt. Aber vielleicht hing das damit zusammen, dass ich zu seltsamen Zeiten kam und ging und nicht richtig am Leben des Hauses teilnahm. Die meiste Zeit verbrachte ich bei Allie in Großmutters Haus, das auch – mehr oder weniger – unser Kindheitsheim war.

Rade sorgte dafür, dass ich ein Türschild bekam und dass auf Briefkasten und Sprechanlage mein Name angebracht wurde.

»Nicht Beatrice, Mädel, nur B«, sagte er.

Ich lachte. »Wozu soll das gut sein? Alle und jeder können sich doch ausrechnen, dass hier eine Frau wohnt, wenn an Stelle des Vornamens nur ein Buchstabe steht.«

»Hier nicht«, sagte Rade und zeigte auf die anderen Schilder. Er hatte Recht. Nicht ein einziger Vorname stand da, nur Anfangsbuchstaben.

»Geschickt, was?«, sagte er zufrieden.

Rade hatte mir Lampen aufgehängt, Nägel in die Wände geschlagen und die Ikea-Regale zusammengebaut, die mich an den Rand der Tränen gebracht hatten. Er hatte mir auch geholfen, das riesige Wasserbett zu leeren und zu entsorgen, auf dem die vorige Besitzerin Selbstmord begangen hatte. Ich hatte es nicht behalten wollen, obwohl ich es umsonst bekommen hatte.

Rade trägt unser aller Lasten. Jedenfalls die, die mit dem Besitz einer Eigentumswohnung verbunden sind.

J. Rindom, die in der ersten Etage links wohnt, kam um die Ecke getrippelt und steuerte auf Rade zu. Mir nickte sie im Vorbeigehen gnädig zu.

»Ach, Rade«, gurrte sie. »Mein Wasserhahn tropft.«

»Ja, dann sollten wir wohl besser einmal danach sehen«, sagte Rade.

»Könnten Sie das gleich machen?«, gurrte sie und klimperte mit den Augenwimpern, die schwer und schwarz von Mascara waren. Sie muss um die sechzig sein, aber sie gurrt und blinzelt und flirtet wie eine Siebzehnjährige. Ich glaube nicht, dass Rade ihrem Charme gegenüber vollkommen gleichgültig ist, deshalb nickte ich den beiden zu und überließ sie sich selbst und ihrem Flirt.

Meine Wohnung liegt in der vierten Etage. In den ersten Wochen arbeiteten meine Lungen wie ein Blasebalg, wenn ich endlich oben angekommen war, aber jetzt habe ich mich daran gewöhnt. Ich gehe davon aus, dass das gesund ist. Ich hielt mich eigentlich für ziemlich fit, aber Treppen sind etwas ganz Besonderes. Sie bringen mehr als eine halbe Stunde joggen.

Ich schloss auf und betrat die Wohnung. Ich hatte ein Fenster im Wohnzimmer offen gelassen, aber trotzdem waren es um die dreißig Grad, obwohl es schon nach sechs war. Ich warf meine Tasche auf das Sofa und ging weiter ins Schlafzimmer, wo ich mich auszog.

Ich warf alles auf einen Haufen, nahm die Sachen mit ins Badezimmer und schmiss sie in den Wäschesack. Ich duschte schnell, zuletzt kalt, und tapste auf nackten Füßen, ohne mich abzutrocknen, ins Schlafzimmer. Ich zog mir ein Höschen und eine ärmellose Bluse an und ging in die Küche. Ich öffnete den Kühlschrank, nahm den Eiswürfelbehälter aus dem Gefrierfach und ließ drei Würfel in ein hohes Glas fallen. Das füllte ich mit Eistee auf und ging auf den winzigen Balkon hinaus, den meine Vorgängerin, die mit dem Wasserbett, hatte anbringen lassen.

Ursprünglich war hier in der Schräge ein ganz gewöhnliches Dachfenster gewesen, das sie durch eine Konstruktion mit Balkon und Glastür hatte ersetzen lassen. Es war der Balkon, der es mir angetan hatte, als ich die Wohnung zum ersten Mal sah. Ich konnte mir genau vorstellen, wie herrlich es sein musste, dort mit einem Drink in der Abendsonne zu sitzen.

Obwohl es mir der Balkon angetan hatte, war es der Preis, der den Ausschlag gab. Die Leute reißen sich nicht um einen Nachlass, weil man sich später nicht über Mängel und Fehler beschweren kann. Dass es sich zudem noch um einen Selbstmord handelte, steigerte das Interesse nicht gerade.

Es gab übrigens noch einen Grund, weshalb der Preis so niedrig war. Meine Vorgängerin hatte ebenfalls einen Nachlass übernommen. Ihr Vorgänger war ermordet worden. Glücklicherweise nicht in der Wohnung, aber trotzdem!

Das wusste ich nicht, als ich sie kaufte. Rade erzählte es mir, während er Lampen aufhing und Nägel einschlug. Wäre ich abergläubisch gewesen, hätte ich das als schlechtes Omen betrachtet, aber ich glaubte nicht an so etwas.

Vielleicht hätte ich es doch tun sollen.

Zu lebendig zum Sterben - Skandinavien-Krimi

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