Читать книгу Zu lebendig zum Sterben - Skandinavien-Krimi - Kirsten Holst - Страница 6

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Ich hatte den Wecker für den folgenden Morgen auf Viertel vor sieben gestellt, eine halbe Stunde früher als gewöhnlich. Ich zog mich schnell an, trank ein Glas Saft und radelte zum Schwimmbad in der Östre Allee. Seit ich wieder zu Hause war, war ich jeden Morgen geschwommen. Tausend Meter. Heute hatte ich es eilig, ich wollte zu meiner Verabredung mit Henrik nicht zu spät kommen. Normalerweise gehe ich eine Viertelstunde in die Sauna, bevor ich ins Becken springe, aber das ließ ich aus. Ich schwamm die tausend Meter in einer halben Stunde. Das reichte an meine beste Zeit bei weitem nicht heran, aber mir taten von der gestrigen Ruderpartie noch immer die Muskeln weh.

Denn natürlich war es darauf hinausgelaufen, dass ich gerudert war. Die Jungen hatten meine gesamten Einwände beiseite gefegt, aber ich will ihnen nicht die Schuld geben. Ich bin ein großes Mädchen, ich hätte also Nein sagen können. Ganz einfach.

Nach dem Schwimmen wusch ich mir unter der Dusche im Umkleideraum die Haare und brauchte fast zehn Minuten, um sie mit dem Föhn zu trocknen. Sie sind lang und dick und brauchen so lange, aber sie abschneiden zu lassen, bin ich nicht bereit. Ich nahm bei allem die Zeit, um genau zu wissen, wie viele Minuten ich morgens einplanen musste. Ich liebe es, die Dinge unter Kontrolle zu haben. Das ist auch eine meiner Schwächen.

Es war erst Viertel nach acht, als ich wieder in der Stadt war. Ich hatte massenhaft Zeit. Wenn ich richtig zu arbeiten anfing, würde ich direkt vom Schwimmbad zur Arbeit fahren. Dann hätte ich, wenn ich Viertel vor sieben aufstand, sowohl für die Sauna als auch für die Sonnenbank Zeit. Doch heute fuhr ich nach Hause, um mein citydress anzuziehen. Ich stellte die Küchenuhr auf zehn vor neun und machte Kaffee und Toast, während ich mir ein taubenblaues Kostüm aus Seidenleinen mit einer passenden dünnen Seidenbluse anzog.

Ich zog die Augen mit Kajalstift nach und legte hellblauen Lidschatten auf, der meine Augen noch blauer aussehen ließ, als sie von Natur aus waren. Ich beendete das Ganze, indem ich die Wimpern mit schwarzem Mascara tuschte und die Lippen korallenrot nachzog.

Als Letztes zog ich ein Paar hochhackige Schuhe an, sah mich prüfend im Spiegel an und nickte zufrieden.

So! Einfach und gepflegt und sehr, sehr damenhaft!

Die Küchenuhr schellte, ich nahm meine Tasche, ging hinaus, schlug die Tür hinter mir zu und rüttelte ein einziges Mal an dem Türgriff, um mich zu versichern, dass sie geschlossen war.

Henriks Firma heißt NSC, Nordjütisches Sicherheits-Consulting!

»Das klingt wie der Zusammenstoß zweier Kulturen«, lachte ich – ein bisschen höhnisch –, als ich es hörte.

Henrik zuckte nur mit der Schulter. »Stimmt, aber das ist es im Grunde genommen wohl auch.«

Ich wohne mitten in der Stadt nur ungefähr fünf Gehminuten vom NSC entfernt, das direkt am Boulevard liegt, aber ich hatte ein paar Extraminuten einkalkuliert wegen der Treppe und der hochhackigen Schuhe.

Ich schellte genau in dem Moment, in dem die Kirchenuhr neun Uhr schlug.

Henrik öffnete mir selbst die Tür. Er riss die Augen auf, als er mich sah.

»Hei, Bea! Du siehst fantastisch aus! Und pünktlich wie immer.«

»Hei«, sagte ich ein wenig überrascht. Hatte er nicht einmal eine Sekretärin?

Er deutete meine Überraschung richtig. »Meine Sekretärin – sie heißt Bente – kommt erst um zehn nach neun. Das passt besser mit ihrem Bus. Bis dahin bin ich fürs Praktische zuständig. Komm mit in mein Büro. Ich habe gerade Kaffee gekocht, willst du eine Tasse?«

Ich nickte. »Ja, danke.«

Ich hatte bereits zwei Tassen zu Hause getrunken, weshalb ich nicht Ja sagte, weil ich einen Kaffe brauchte, sondern um nicht ungesellig zu sein.

Das NSC war in einer großen herrschaftlichen Wohnung in der zweiten Etage untergebracht. Soweit ich sehen konnte, während ich Henrik in sein privates Büro folgte, gab es außer der Rezeption noch ein paar Büros, eine Kantine und diverse Archivräume. Das NSC schien ein blühendes Geschäft zu sein.

»Lass mich dich einmal richtig ansehen«, sagte er, als wir in seinem Büro waren. Einem großen, schönen Eckzimmer mit Stuckdecke, Rahmentür und stilvollen, aber nicht protzigen Möbeln, die Glaubwürdigkeit und Solidität förmlich ausstrahlten. Das war sicher auch beabsichtigt. Ich stand mitten im Zimmer und kam mir wie eine Idiotin vor, während Henrik mich ansah.

»Unglaublich!«, rief er endlich. »Was für ein Glück, dass ich gestern nicht mit dir gewettet habe. Heute hätte ich nicht einmal gewagt, dich zu einem Bier einzuladen.«

»Zu was dann?«

Er lachte. »Breakfast at Tiffany’s!«

»Dann warte erst mal, bis ich mir die Haare hochgesteckt habe. Champagner im Ritz muss es mindestens sein.«

»Zweifellos! Aber hier und jetzt musst du dich mit Kaffee begnügen. Bitte, setz dich.« In einer Ecke des Raums stand ein Konferenztisch mit acht Stühlen und Henrik zog einen für mich vor. »Wie trinkst du deinen Kaffee?«

»Schwarz, danke.«

Er reichte mir eine Tasse und nahm mir gegenüber Platz.

»Die anderen kommen erst um halb zehn, ich werde also die halbe Stunde nutzen, um dich auf den neuesten Stand zu bringen.«

»Die anderen?«

»Ja, es gibt noch drei andere«. Er lächelte. »Hast du geglaubt, du wärst alleine? Für eine Person ist die Aufgabe zu umfangreich. Obwohl ihr zu dritt seid, werdet ihr reichlich zu tun haben.«

»Sollen die anderen deine Ausführungen nicht auch hören?«

Er schüttelte den Kopf. »Das sind Veteranen, sie kennen das Geschäft. Zwei sind fest angestellt, die dritte arbeitet seit vielen Jahren freiberuflich für uns.«

»Drei Mädchen?«

»Ja. Oder Frauen. Du bist die Jüngste.«

»Warum?«

»Warum Frauen? Sie sind für diesen Job am besten geeignet. Noch sind es in der Regel die Frauen, die einkaufen, ein Mann würde da sehr schnell auffallen. Besonders weil es sich bei den Abteilungen, auf die wir uns vor allem konzentrieren wollen, um die Damenabteilung, die Pelzabteilung, die Parfümerie und die Fleischabteilung handelt.«

Zählen, zählen. Vier Finger! Er bemerkte meinen Blick und lächelte entschuldigend.

Die nächsten zwanzig Minuten nutzte er, um mir mit bewunderungswürdiger Klarheit und Präzision zu erklären, was ich zu tun hatte und worauf ich achten sollte. Zwischendurch hielt er hin und wieder inne und sah mich fragend an.

»Kannst du mir folgen?«

Ich nickte jedes Mal. »Ja, kann ich.«

»Das war es dann wohl«, sagte er schließlich und sah auf seine Uhr. »Die anderen müssen jeden Augenblick hier sein. Hast du noch Fragen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Im Moment nicht, aber ich habe bestimmt die Hälfte wieder vergessen, wenn ich erst bei K & L bin.«

»Unsinn. In Wirklichkeit ist alles furchtbar einfach, aber du siehst, dass ich für so einen Job nicht einfach irgendjemanden von der Straße einstellen kann. Ich muss mich hundert Prozent auf meine Mitarbeiter verlassen können. Und gleich noch eins: Sag niemandem, was du machst. Wenn jemand fragt, sagst du einfach, dass du in einer Beraterfirma angestellt bist.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Wer sollte mich schon fragen? Praktisch gesehen kenne ich niemanden.«

»René zum Beispiel.«

»Du meinst, dass niemand, überhaupt niemand, wissen darf, was ich mache? Was ihr macht?«

»Am liebsten nicht. Wir brauchen keine Reklame.«

»Wie um alles in der Welt kommt ihr dann an eure Kunden?«

Er lachte. »Wir stehen im Branchenverzeichnis unter Detektivbüros und mach nicht so ein Gesicht! Zum einen sagt das nichts darüber aus, was wir wirklich machen. Die Anzeige ist äußerst diskret, da steht nur Nachforschungen – Überwachung.Und zum anderen sehen die Leute nur in diese Spalte, wenn sie uns brauchen.«

Ich sah ihn skeptisch an. »Ja, aber ...«

Er unterbrach mich. »Und du hast Recht. Natürlich machen wir auch Reklame. Aber nur durch Direktmailings an größere Betriebe.«

»Ach so.«

Aus dem Vorzimmer waren Stimmen und Lachen zu hören und einen Moment später schellte eins der Telefone auf Henriks Schreibtisch. Das war bestimmt seine Sekretärin. Er nahm den Hörer ab und lauschte einen Moment.

»Gut«, sagte er dann. »Send in the clowns!« Er lauschte wieder. »Nein, das tue ich nicht«, lachte er.

»Was hat sie gesagt?«, fragte ich.

»Dass ich mich das nicht zu sagen traue, wenn sie es hören können.«

Das freute mich.

Es klopfte leicht an der Tür und meine drei zukünftigen Kolleginnen kamen herein. Ich sah sie verblüfft an. Ich hatte mir drei Frauen meines Alters vorgestellt, vielleicht etwas älter, mir jedenfalls ähnlich, eine Art Tick, Trick und Track, aber diese drei konnten nicht unterschiedlicher sein. Von mir und von einander. Die Älteste war eine große, ältere Dame mit dezent blaustichigem Haar. Um die sechzig, schätzte ich, und sehr distinguiert. Die Jüngste war eine Frau mittleren Alters, weder blond noch braun, die aussah, als hätte sie das Haus heute Morgen ein bisschen zu schnell verlassen. Die dritte entsprach so genau der Personenbeschreibung einer Ladendetektivin, die ich Henrik am Vortag geliefert hatte, dass ich beinahe lachen musste. Ich warf ihm einen schnellen Blick zu, aber sein Gesicht verriet nichts.

»Ich möchte euch eure neue Kollegin vorstellen, Beatrice ... äh ...« Er sah mich leicht verlegen an. »Wie heißt du eigentlich?«

Was für eine Vorstellung! Jedenfalls heiße ich nicht Beatrice Äh.

»Jantz«, sagte ich. Ich hatte meinen Mädchennamen wieder angenommen, als ich geschieden wurde. »Beatrice Jantz. Aber sagt einfach Bea.«

»Und wir sind also die Clowns«, sagte die hübsche, ältere Dame und gab mir die Hand. »Aber unser Gehör ist in Ordnung. Ich heiße Ruth.«

Ihre klugen, braunen Augen sahen mich forschend an. »Siehst du immer so aus?«

Ich lächelte. »Nicht wenn ich morgens aufstehe.«

»Das tut sie nicht«, sagte Henrik. »Ich habe sie gestern gesehen, und wüsste ich es nicht besser, würde ich nicht glauben, dass das dasselbe Mädchen ist.«

»Ausgezeichnet«, sagte Ruth. »Ganz ausgezeichnet. Du kannst das da hin und wieder brauchen, aber nicht zu oft.«

Die beiden anderen gaben mir auch die Hand. Sie hießen Inge und Karin. Inge war die ›Ladendetektivin‹.

»Passt auf«, sagte Henrik, als er uns um den Tisch herum platziert hatte. »Ich habe einen vorläufigen Plan erstellt, wann wer wo sein soll, damit wir euch zum einen an möglichst vielen verschiedenen Stellen einsetzen und zum anderen den größten Teil der Öffnungszeit abgedeckt haben. Wenn ihr Einwände habt, könnt ihr sie jetzt vorbringen. Übrigens treffen wir uns hier jeden Morgen um neun, um eure Beobachtungen zu vergleichen und zu sehen, ob wir uns auf jemanden besonders konzentrieren müssen. Das heißt auch, dass es zwischenzeitlich zu Änderungen kommen kann. Irgendwelche Kommentare?«

Die hatten alle drei, weshalb die Besprechung eine halbe Stunde dauerte. Sie waren alte Hasen, sodass ich nur schweigend zuhörte.

»Bea?«, sagte Henrik auffordernd. »Hast du noch Fragen?«

»Ja, was ist mit den ganz normalen Ladendieben?«

»Die sind nicht eure Aufgabe. Wenn ihr so etwas seht, merkt es euch zum späteren Gebrauch. Wer, was und wie. Dann reden wir bei unserer Morgenbesprechung darüber und nehmen es in unsere Kartei auf. Aber mischt euch nicht ein, auf keinen Fall. Das ist für unser eigentliches Vorhaben zu riskant.«

»Hast du Bea von Frau Back-Hansen erzählt?«, fragte Inge.

Henrik schüttelte den Kopf. »Nee, die hatte ich in der Tat vergessen. Gut, dass du mich daran erinnerst.«

»Ja, denn es wird sich kaum vermeiden lassen, dass Bea sie in Aktion sieht«, sagte Karin.

»Wer ist das?«, fragte ich. »Die Ladendetektivin?«

Alle vier brachen in Gelächter aus.

»Nicht ganz, nicht ganz!«, lächelte Ruth.

»Eher das Gegenteil«, fügte Inge hinzu.

Ich war nichts als ein lebendiges Fragezeichen.

»Frau Back-Hansen, sie heißt Marion, ist mit I. C. Back-Hansen verheiratet«, erklärte Henrik.

»Das sagt mir nichts«, räumte ich ein. »Wer ist das?«

»Entschuldige, ich habe vergessen, dass du lange im Ausland gelebt hast und nicht ganz up to date bist«, fuhr er fort. »In der letzten Zeit ist übrigens einiges über ihn in der Presse erschienen. Aber I. C. ist eine der Säulen der Stadt. Noch. Er ist Ende sechzig – soweit ich mich erinnere, wird er nächstes Jahr siebzig – und, wie gesagt, Marion ist mit ihm verheiratet.«

»Und was ist mit dieser Marion?«

»Sie ist Kleptomanin! Es wird nicht offen darüber geredet, aber im Grunde wissen es alle. I. C. ist Mitglied des Vorstands von K & L und hat eine Regelung durchgesetzt, dass niemand sich in ihr Tun und Lassen einmischt. Das Personal hält ein Auge auf sie, hat jedoch den strikten Befehl, nicht einzugreifen, falls oder wenn sie sehen, dass sie etwas klaut. Sie sollen einfach I. C.s Konto damit belasten, dann wird es bezahlt. Und offenbar hat er Marion so gut im Griff, dass sie ihre Diebstähle auf K & L beschränkt.«

»Heißt das, dass sie lediglich eine Rechnung an ihren Mann schicken und er bezahlt?«

»Ja«, nickte Henrik.

Ich schüttelte ungläubig den Kopf. »Das erfordert wirklich Vertrauen!«

»Sie vertrauen ihm natürlich voll und ganz.«

Das war eigentlich nicht gerade das, woran ich gedacht hatte. Mein Blick begegnete Ruths und sie sandte mir ein kleines mitwisserisches Lächeln. Sie jedenfalls hatte verstanden, was ich gemeint hatte.

»Wie sieht sie aus?«, fragte ich.

»Sie ist Anfang dreißig«, begann Henrik.

»Erst Anfang dreißig?«, rief ich. »Hast du nicht gesagt, dass ihr Mann fast siebzig ist?«

»Doch. Der Altersunterschied ist ziemlich groß.«

»Ja, und ob!«, sagte ich verwundert.

»Und sie sieht gut aus. Groß, blond, sehr elegant. Ich glaube, wir haben irgendwo ein Foto von ihr, das du dir ansehen kannst.«

Ich warf ihm einen nachdenklichen Blick zu. Mir ging langsam auf, dass NSC mehr mit K & L zu tun hatte, als ich zuerst angenommen hatte.

Warum sollten sie sonst ein Bild von Marion Back-Hansen haben und warum sollten wir uns mögliche Ladendiebe notieren, um gegebenenfalls später darauf zurückgreifen zu können?

»Wie viele Angestellte hast du eigentlich?«, fragte ich ein wenig später, als ich mit Henrik allein war.

»Noch immer genauso neugierig, was?«, sagte er zufrieden. »Damit habe ich auch gerechnet.«

Aber ich bekam keine Antwort auf meine Frage.

Wir verließen das Büro nacheinander mit einem zeitlichen Abstand von einigen Minuten.

»Wir können es kaum vermeiden, uns bei K & L zu begegnen«, sagte Ruth, als sie ging. »Vergiss nicht, dass wir uns nicht kennen.« Sie sah auf meine Schuhe. »Und kauf dir Badesalz für die Füße. Du ahnst nicht, wie anstrengend das ist und wie weh dir die Füße tun werden.«

Ich lächelte und dachte nachsichtig, dass zwischen sechzig und dreißig trotz allem ein Unterschied war, aber das Lächeln war steif geworden, als ich sieben Stunden später mit einem Paket Fußbadesalz unter den vielen anderen Einkäufen und pochenden Kopfschmerzen nach Hause hinkte.

Ich dankte meinem Gott und Schöpfer, dass ich heute Abend nicht rudern musste. Ich wollte nur noch nach Hause und – die Füße in einem Eimer Wasser, ein Glas Rotwein vor mir und Chopins Nocturnes im CD-Player – auf meinem Balkon sitzen.

Wenn das so weiterging, würde ich schreiend davonlaufen, bevor die Woche um war.

»Du warst müde gestern«, sagte Ruth, als wir uns am nächsten Tag im Büro trafen. »Ich habe dich gesehen, als du gegangen bist.«

»Ich war gestern müde und ich bin heute müde«, sagte ich kurz angebunden.

Karin lächelte. »So ist es mir auch gegangen, als ich angefangen habe.«

»Mir auch«, nickte Inge.

»In Wirklichkeit habe ich große Kaufhäuser immer gehasst«, sagte ich. »Ich weiß, dass viele Leute sie lieben, aber ich gehöre nicht dazu. Mir sind da zu viele Menschen, zu viele Waren, zu viel Berieselungsmusik, zu viel Lärm ...«

»Kurz gesagt, alles ist einfach zu viel!«, lachte Ruth. »Aber es hilft, wenn du dir die tricks of the trade aneignest.«

»So lange halte ich das nicht durch«, sagte ich missmutig.

»Aber sicher doch«, sagte Karin. »Das lernst du schnell.«

»Okay«, sagte ich herausfordernd. »Bringt sie mir bei!«

Es war Ruth, die die Herausforderung annahm.

»Dein Problem ist, dass du deine Rolle nicht definiert hast, Bea«, sagte sie. »Wenn du da durch die Tür gehst, gehst du nicht in ein großes Kaufhaus.«

»Doch, weiß Gott, dass ich das tue!«, protestierte ich. »Mit Sicherheit.«

»Und da irrst du dich! Du bist nicht in einem großen Kaufhaus.«

»Verdammt. Wo bin ich dann?«

Ruth lächelte. »An deinem Arbeitsplatz. Darauf musst du dich konzentrieren. Du kommst dir wie eine Kundin vor, wenn du durch die Tür gehst, und dann wird alles einfach zu viel. Niemand kann acht bis zehn Stunden Kundin sein. Aber du bist keine Kundin. Dir sind die Waren egal, die Preise, die Reklame, die anderen Kunden und der Lärm, all das ist dir völlig egal. Du machst keinen Einkaufsbummel. Du musst dich lediglich auf die Abteilungen und die Personalgruppen konzentrieren, die auf deinem Tagesplan stehen. Die Sachen kaufen, die wir besprochen haben, und aufpassen, wie die Käufe ablaufen.«

Die beiden anderen nickten zustimmend.

»Es ist genau wie beim Autofahren«, fuhr Ruth fort. »Wenn du von Punkt A nach Punkt B willst, konzentrierst du dich darauf. Du machst dir keine Gedanken, was an anderen Orten in der Stadt passiert, du beachtest die Schaufenster nicht, die Leute auf der Straße oder den Verkehrslärm. Du machst keine Spazierfahrt, du bist auf dem Weg von A nach B. Sonst würde dir das auch zu viel.«Sie sah mich an. »Kannst du mir folgen? Verstehst du, was ich meine?«

Ich nickte. »Aber ich glaube, das ist leichter gesagt als getan.«

»Wenn wir das können, kannst du das auch«, sagte Karin aufmunternd.

»Du brauchst nur hinter den knack of it zu kommen«, fügte Ruth hinzu.

Ich warf ihr einen schnellen Blick zu und hatte eine persönliche Frage auf der Zunge, aber in dem Moment kam Henrik herein und erst nach dem morgendlichen Treffen, als Ruth und ich als Letzte noch übrig waren, bekam ich die Gelegenheit, sie zu stellen.

»Darf ich dich etwas Persönliches fragen oder ist das gegen die Regeln?«

Sie lachte. »Nein, frag nur.«

»Du gebrauchst manchmal englische Ausdrücke. Ich weiß, dass das ziemlich üblich geworden ist, aber du gebrauchst sie anders. Du klingst fast amerikanisch.«

Ruth lachte. »Das ist nicht so verwunderlich. Ich bin Amerikanerin.«

Ich sah sie erstaunt an. »Amerikanerin? Aber du sprichst doch ...«

Sie unterbrach mich. »Ja, ich bin in den USA geboren, aber meine Eltern waren beide Dänen und in meiner Kindheit haben wir zu Hause Dänisch gesprochen. Ich habe in den USA gelebt, bis ich über vierzig war. Habe da gearbeitet, war verheiratet, wurde geschieden und habe wieder gearbeitet.«

»Warum bist du dann nach Dänemark gekommen?«

»Meine Eltern sind zurückgegangen, als sie pensioniert wurden. Sie hatten immer davon geträumt, nach Hause zurückzukehren, außerdem reichte ihr Geld hier bedeutend länger. Aber dann ist meine Mutter gestorben und mein Vater wurde krank und kam nur schlecht alleine zurecht, deshalb bin ich nach Hause gekommen. Er ist ein paar Monate später gestorben, ich glaube, er konnte nicht ohne meine Mutter leben.«

In gewisser Weise glich ihre Geschichte meiner.

»Aber warum bist du geblieben? Du hättest zurückgehen können.«

»Die Hormone, weißt du. Ich habe hier meinen zweiten Mann kennen gelernt. Wir haben uns zusammengetan und diese Firma hier gegründet.«

»Ihr habt die gegründet?«

Sie lachte. »Ja, aber damals war das etwas ganz anderes. Jütisches Detektivbüro nannten wir uns. Meist ging es um untreue Ehepartner und so etwas. Wir waren nur zu zweit, mein Mann und ich. Er war ein großartiger Mann, aber er hatte keine großen Visionen. Das änderte sich gerade etwas, als er plötzlich starb, und deshalb habe ich mich entschlossen, an Henrik zu verkaufen, der gerade in die Firma gekommen war und sie gerne übernehmen wollte. Und ich habe es nicht bereut. Ich habe noch immer einen Anteil, der mir ein wirklich schönes Einkommen sichert, und ich arbeite als freie Mitarbeiterin, wenn ich Lust dazu habe und wenn mich die Aufgabe interessiert.«

»Wie jetzt?«

»Ja, wie jetzt, und jetzt sollte ich machen, dass ich aus der Tür komme.«

»Ja«, nickte ich. »Was hast du übrigens in den USA gemacht?«

Sie lachte. »Ja, was glaubst du? Ich war natürlich Privatdetektivin, private investigator. Ich hatte meine Lehrjahre in einem großen Büro, und als ich geschieden wurde, habe ich selbst eins aufgemacht. Hat es einen erst mal gepackt, dann ... Wart’s nur ab.«

So davon gepackt zu werden, glaubte ich nun nicht, aber ich war etwas vertrauensvoller, als ich an diesem Vormittag K & L betrat. Kein großes Kaufhaus, sondern meinen Arbeitsplatz.

Die Tage vergingen still und ruhig, und langsam erkannte ich wirklich the knack of it. Wir hatten immer noch nichts Definitives gegen irgendjemanden in der Hand, weil wir prüften und nochmals prüften. Keine ordentliche Firma möchte jemanden auf bloßes Misstrauen hin feuern.

Ich war abends nicht mehr so müde, glücklicherweise, weil die Knaben, wie ich sie nannte, mich überredet hatten, die restliche Saison regelmäßig mit ihnen zu rudern.

Das erste Mal war übrigens kein Erfolg gewesen, weshalb ich eigentlich nicht erwartet hatte, dass sie mich fragen würden.

Wir hatten eins der alten Boote genommen, weil wir nur zum Vergnügen ruderten. Außerdem mussten wir es selbst zum Bollwerk schleppen und ins Wasser lassen und es fühlte sich an, als würde es Tonnen wiegen. Ich wünschte, es wäre ein Leichtgewichtvierer oder -achter gewesen.

»Sie haben gesagt, dass wir bald eine Aufschlepphelling bekommen«, sagte Martin tröstend, als ich unter der Last stöhnte.

»Das haben sie auch schon vor zehn Jahren gesagt«, zischte ich. Weder meine Treppen noch meine täglichen Schwimmübungen hatten mich darauf vorbereitet, mehrere Tonnen zu schleppen.

»Haben Sie vor zehn Jahren hier gerudert?«, fragte Anders interessiert.

»Ja, oder genauer gesagt vor elf. Bis ich ins Ausland gegangen bin.«

Ich kletterte vorsichtig hinunter und setzte mich auf meinen Platz im Boot. Joachim reichte mir mein Ruder.

»Sie müssen ein bisschen mit dem Sitz aufpassen«, sagte er warnend. »Der ist ein bisschen ... äh ...«

»Vergammelt!«, schlug Anders vor.

»Nein«, Joachim hatte endlich das richtige Wort gefunden. »Unberechenbar.«

»Okay«, sagte ich, ohne mir näher Gedanken darüber zu machen, was er damit meinte, was natürlich eine weitere Dummheit war.

Sowohl er wie auch Anders wirkten noch immer skeptisch und die erste Viertelstunde Rudern verringerte ihre Skepsis mit Sicherheit nicht. Vielleicht verlernt man das Rudern nicht, aber bestimmt hatte ich den knack of it verloren. Ich fand den Rhythmus nicht und machte einen Fehler nach dem anderen. Als ich endlich das Gefühl hatte, ihn gefunden zu haben, und kräftig nach hinten rutschte, um mich richtig ins Zeug zu legen, glitt der Sitz aus der Schiene, sodass ich rückwärts auf den Boden des Bootes fiel, die Ruder in der Luft. Fast konnte ich fühlen, wie das Boot durch das unterdrückte Lachen der Knaben erschüttert wurde, bis sie es aufgaben, sich zu beherrschen, und einstimmig in Gelächter ausbrachen.

»Wie finden Sie denn, dass es geht?«, lachte Anders.

»Ihr habt das gewusst!«, rief ich vorwurfsvoll, als ich wieder auf die Beine gekommen war und den Sitz wieder an seinem Platz befestigt hatte. An der einen Seite fehlte der Stopper und war durch ein Stück Heftpflaster ersetzt worden. »Ihr habt gewusst, dass der Mist nicht halten kann, wenn man sich ordentlich ins Zeug legt.«

»Ich habe doch gesagt, dass der Sitz unberechenbar ist«, wandte Joachim ein und versuchte vergeblich, aufzuhören zu lachen.

»Du hast nicht gesagt, dass er lebensgefährlich ist!«

Glücklicherweise hatte ich das Ruder nicht verloren, das wäre die ultimative Niederlage gewesen, und sie warteten geduldig, während ich es in die Dolle schob.

»Alles klar?«, fragte Joachim.

»Ja«, sagte ich. »Aber sei so nett und gib den Takt an, Joachim. Ich bin das nicht gewohnt, verdammt nochmal! Und ich bin euch nicht gewohnt.«

Joachim rief gehorsam: »Uuuu-nd rudern! Uuuu-nd rudern! Uuuund rudern!«, sodass die restliche Tour einigermaßen glatt verlief. Ich begann das Rudern wirklich zu genießen und war lächerlich stolz, als sie mich nach einer kurzen Beratung fragten, ob ich regelmäßig mit ihnen rudern würde. Zweimal die Woche.

Ich hatte mich so geehrt gefühlt, dass ich Ja sagte.

Ich schwamm, ging zu meinen morgendlichen Besprechungen und zur Arbeit und abends, wenn das Wetter es zuließ, saß ich auf meinem Balkon und ein paarmal die Woche war ich Babysitter bei meinen drei kleinen Nichten, damit René seinen Kurs besuchen konnte. Ich hatte einen Alltag und begann zum ersten Mal in den Monaten, die ich hier war, mich zu Hause zu fühlen.

Ab und zu lud Henrik mich abends ein. Gewöhnlich machten wir eine Spazierfahrt und aßen irgendwo in der Umgebung ein spätes Abendessen. Als er mich das erste Mal einlud, fragte ich, was Maria dazu meinte. Er sah mich an, als hätte er keine Ahnung, wovon ich sprach.

»Maria? Ach, Maria. Wir sind längst geschieden. Wusstest du das nicht?«

»Woher sollte ich das wissen?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich dachte, Allie hätte es dir erzählt. Wir haben uns einmal getroffen und ein paar Worte miteinander gewechselt, sodass ich davon ausgegangen bin, dass sie es wusste.«

»Ich glaube nicht. Jedenfalls hat sie es nicht erwähnt.«

»Wir hätten nie heiraten sollen, Maria und ich. Eigentlich lief es von Anfang an miserabel, aber wir haben wohl geglaubt, dass alle Probleme sich wie Nebel in der Sonne auflösen und wir glücklich bis ans Ende unserer Tage leben würden, wenn wir nur heirateten. Jedenfalls glaubte Maria das.«

»Und wie lange habt ihr glücklich gelebt?«

Er lachte. »Einen Tag! Aber wir haben es zehn Monate miteinander ausgehalten. Dann bin ich ausgezogen und wir haben uns scheiden lassen.« Er sah mich an. »Das war 93. Natürlich hat es seitdem ein paar Frauen gegeben, aber nichts Ernsthaftes.«

Ich nickte nur.

Eigentlich konnte es mir ja egal sein, ob Henrik mit jemandem zusammen war oder nicht.

Zu lebendig zum Sterben - Skandinavien-Krimi

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