Читать книгу Untreuen - Kirsty Gunn - Страница 4

So fängt es an …

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«Diese Geschichten lagen immer bei mir», sagte ich.

«Wie meinst du das?»

Richard bedachte mich mit diesem gewissen Blick, einem Blick, der mit der späten Stunde und dem gemeinsam in einer schicken Bar konsumierten Tequila zu tun hatte, aber eben auch ein Blick, der verriet, dass er mich sehr gut kannte.

«Wie meinst du das?», fragte er noch mal.

Wir hatten über meine Erzählungen gesprochen, den Band, den ich zusammengestellt hatte, über die Art Geschichten, die mich interessieren und die Richards Ansicht nach genau die Art von Geschichten waren, die sich nicht verkauften. «Kurzgeschichten liest sowieso niemand», hatte er zuvor schon bemerkt. «Die Leute finden, es passiert darin nicht genug.»

«Ich meine, dass von Anfang an ich dahinterstand», sagte ich. «Die Auswahl, die Ideen zu den Geschichten, die ich geschrieben habe. Es lag ganz bei mir. Das war immer ich, dahinter, ich stecke mit drin. In der zum Beispiel, von der ich dir gerade erzählt habe, von der Frau und ihrem Mann, der Geschichte, die ich ‹Untreue› nenne … Du weißt schon. Aber in jeder von ihnen. In allen Geschichten. Ich könnte nie so tun, als wären sie wie von selbst auf dem Blatt erschienen, weißt du. Ich war ja da.»

«Puh», meinte Richard. Er leerte sein kleines Tequilaglas und setzte es ab. «Das warst du allerdings.»

«Wie ich jetzt hier bin.»

«Alles dein Werk, keine Frage.» Auf Richards Gesicht erschien das lange, langsame Lächeln, das ich so gut kannte. «Du stehst abseits, das hat schon der alte James Joyce vom Künstler gesagt.» Er klopfte an sein kleines Glas. «Der irgendwo im Hauseingang lungert und Fingernägel kaut oder was immer –»

«Nicht ‹kaut›» sagte ich. Ich trank jetzt selber von meinem Tequila. Hundertprozent Agave, wie es meine Freundin Jennifer aus Mexiko forderte, was anderes komme nicht in Frage.

«‹Schneidet› heißt es», sagte ich zu Richard und nahm einen weiteren Schluck. «Sich die Fingernägel schneidet. So formuliert es Joyce, so lautet seine Definition des Künstlers – abseits –, aber ja, du hast recht, da sind sie: er, sie …»

Richard schüttelte den Kopf und machte noch mal «Puh». Ich beugte mich vor und küsste ihn rasch, nicht auf die Stirn oder die Wange, sondern auf den Mund. Da schloss er die Augen. Und ich schloss meine. Als ich sie aufschlug, waren seine längst wieder offen, sein Blick tief.

Richard. Richard, Richard, Richard. Noch immer er selbst, noch immer der Alte nach so langer Zeit, derselbe wüste und bildhübsche Kerl, der es mir vor so vielen Jahren schon angetan hatte. Derselbe Richard. Der es mit dem Trinken übertrieb. Der es mit allem übertrieb – aber so, als könnte ihm nichts etwas anhaben. Käme nichts an ihn ran. Er trug noch immer Klamotten, wie er sie getragen hatte, als wir ein Paar waren, roch noch genauso – nach Rauch und Leder und irgendeinem altmodischen Rasierwasser, nach legendärem Club aus den Achtzigern. Richard. Richard, Richard, Richard.

«Der Künstler steht abseits, gleichgültig», sagte ich und merkte, dass ich die Stimme stark gesenkt hatte. Ich flüsterte fast. «Joyce sagt ausdrücklich ‹abseits›», erklärte ich. «Aber ich … ich bin nicht so. Ich bin nicht wie er. Ich stoße nicht zufällig auf etwas und verwende es. Ich stoße nicht auf eine Geschichte und schreibe sie auf. Nein. Ich bin von Anfang an da. Ich bin kein bisschen gleichgültig, verstehst du. Ich bin mittendrin.»

Inzwischen hielt Richard meine Hand. Mit dem Daumen rieb er sanft über meinen Zeigefinger.

«Ich sollte gehen», sagte ich. «Es ist spät. Das ganze Gerede über Kurzgeschichten, meinen Band … ich hätte nie davon anfangen dürfen. Dich da reinziehen.»

«Und prompt willst du plötzlich nach Hause.» Richard klopfte mit dem Daumen an meinen Finger. «Aber du musst nicht, noch nicht. Ruf deinen Mann doch einfach an, deine Kinder.»

«Für Anrufe ist es zu spät.»

«Wie dem auch sei», sagte Richard. «Ich möchte, dass du bleibst, dich nicht vom Fleck rührst. Wir sind hier doch gut aufgehoben, wir beide …» Mit einer knappen Kopfgeste erinnerte er an unsere Umgebung, das Restaurant mit den gelben Leuchten und dem vielen Marmor, den blanken Kübeln, dem Sekt, den Austern und dem Eis. «Ich möchte hier noch mit dir sitzen», sagte er. «Ein Weilchen. Bitte. Geh noch nicht.»

«Ach du», sagte ich.

«Kurzgeschichten liest sowieso niemand», sagte er zum zweiten Mal an diesem Abend. «Also brauchst du dir gar keine Sorgen zu machen. Nichts kann uns was anhaben. Dir und mir. Und was du geschrieben hast … ist alles nur hier» – er tippte mir an die Schläfe – «und hier» – und berührte mein Herz. «Nirgends sonst.»

«Es steht alles in dem Buch», sagte ich. «Untreuen. Schon vergessen? Der Band ist fertig, er ist komplett.» Und ich beugte mich vor und küsste ihn richtig, ich küsste ihn auf seinen herrlichen Mund.

«Ich bin froh, dass wir zusammen weggegangen sind», sagte er, als ich von ihm abließ. «Lass uns wegbleiben. Wer weiß. Vielleicht gehen wir nie wieder heim, du und ich. Vielleicht sagen wir einfach, wir kommen nicht wieder.»

Untreuen

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