Читать книгу Untreuen - Kirsty Gunn - Страница 8

Elegie

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In den Magnolienbäumen an der Euston Road nisteten wieder Blüten. Frühling in London. Wie ein Lied, dachte Elisabeth, als sie die rosa Blütenblätter an den Zweigen flirren sah: Frühling in London. Magnolien. Ein Lied.

Allerdings war es keineswegs warm, das hatte sie schon, als sie in King’s Cross aus dem Edinburgher Zug stieg, bemerkt. Genau genommen war es bitterkalt, draußen am Taxistand wehte ein scharfer Wind, und ihr Wintermantel fühlte sich dünn an. Doch als sie wenige Minuten später im Taxi dahinglitt und nach der langen Abwesenheit zum Fenster hinaus in einen Himmel sah, der zu jeder Jahreszeit gehören konnte, das weiche Taubengrau einer einst so vertrauten Stadt … war er wieder da, ja doch, im Pastell der sich in den kahlen Zweigen plusternden Blüten: Wieder Frühling, hatte sie sich gesagt, selbst jetzt. Durfte Frühling sein. Sollte doch bitte Frühling sein.

Das Taxi schien jedoch für den Weg furchtbar lange zu brauchen, bei allen Tagträumereien, Gedanken zur Heimkehr und Erinnerungen. Es war eigentlich nicht viel Verkehr, aber was immer der Grund – die stockende Fahrt des Taxis, die roten Ampeln alle paar Minuten und die sich auf der Überführung zur Abzweigung Richtung Westbourne Park stauenden Autos –, sie kamen nur langsam voran … Also war vielleicht doch viel Verkehr, und sie hatte bloß nach den vielen Jahren in Schottland vergessen, wie es in London war, was die Zusammenballung von Menschen hier bewirkte. Die Schlangen der vom Westway kommenden Autos – die ganzen Taxis und Geländewagen, die heutzutage offenbar alle haben mussten, die Motorräder und Transporter und Busse … So unnötig, fand sie, die verlorene Zeit, wo sie der Wohnung nach zehn Minuten Taxifahrt doch so nah war und normalerweise aussteigen und zu Fuß gehen würde, wenn sie sich nur kräftiger fühlte. Früher hätte sie es getan. Aber hey. Das war eben damals, nicht? Und dies hier war jetzt. Wäre sie noch auf der Insel, würde sie an den Verkehr gar nicht denken, an nichts von alledem. Ob sie gehen konnte oder nicht, den Fortschritt eines Londoner Taxis an ihrem eigenen sehr akzeptablen Schritt messen, der sie in ihren geliebten Hügeln auf dem morgendlichen Rundgang zum Strand, hinauf zum Aussichtspunkt und wieder runter zum Haus geführt hatte … Aber auch das war jetzt eben damals. Die Insel, ihr dortiges Leben. Damals hatte sie nie an kräftig oder nicht denken müssen, an nichts von alldem. Sie wäre … einfach …

Nun, egal, was wäre. Es sollte doch bitte Frühling sein, einfach Frühling. Weiter nichts. Einfach Magnolienbäume. Und Blüten. Ein Lied in – G-Dur. Ja, das ginge. Oder A. Zu Anfang ein herrlich sattes Glissando, und dann gleich hinein in einen hellen, ausholenden Melodiebogen, leicht zu bewältigen für einen Alt. Nur an ein solches Lied denken und alles andere beiseitelassen, nicht bei anderem verweilen. Und wenn es hier eben ein bisschen länger dauerte, von A nach B zu gelangen, und wenn hier eben ein paar mehr Menschen unterwegs waren, alle wie sie darauf erpicht, von A nach sonst wohin zu gelangen … So war das eben in Großstädten, nicht wahr? Sie war doch mal Großstädterin gewesen, schon vergessen? «Du bist hier nicht auf deinem Hügel», würde Edward zu ihr sagen, wenn er hier wäre. «Sieh mich an, Schatz. Sieh mich an. Es wird alles gut, hörst du? Sieh mich an. Ich versprech’s dir.»

Tja. Elisabeth lächelt. Edward und sein «Sieh mich an». Er hatte sein Bestes gegeben, und dafür liebte sie ihn, für seine ruhige, unaufgeregte Art. Dafür, dass er nicht ein Mal, nicht ein einziges Mal Angst gezeigt hatte, Schwäche oder Sorge. Er war gewesen wie sonst auch: Eins nach dem anderen, bloß nichts überstürzen, keine voreiligen Schlüsse ziehen. Wenn es der eine Arzt so sah, würden sie eben einen zweiten konsultieren. Das hatte er gesagt, ganz am Anfang. Es gebe schließlich noch die Spezialisten, die, die mehr davon verstanden als die Kollegen vor Ort mit ihren Diagnosen, oft genug musste man sie nur finden, sie und die richtigen Ansprechpartner. Es würde alles gut. Also hatte sie ihn angesehen, ihm fest in die wunderbar steten Augen gesehen. «Alles klar?», hatte er gesagt. «Ich versprech’s dir.» Und es waren Briefe und Anrufe gefolgt, es hatte die Termine in den besten Krankenhäusern Schottlands gegeben, den Spezialkliniken … sie hatte sich der ersten OP unterzogen, der zweiten …

Sie würde ihn von der Wohnung aus gleich anrufen. Immerhin hatten sie beide den gleichen Gedanken gehabt, nämlich es in London zu versuchen, jetzt wo alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft waren, und er hatte sie begleiten wollen, sie selbst hingegen schließlich gesagt, sie wolle lieber allein fahren. Er würde wissen wollen, natürlich würde er das, wie die Reise verlaufen war, wie sie sich fühlte. Er schien irgendwie schon weit weg, Edward. Weit weg, wie ein anderes Leben. «Wenn du mich brauchst, nehme ich den nächsten Flieger», hatte er gesagt. Also würde sie ihn von der Wohnung aus sofort anrufen – obwohl …

«Nun, wir werden sehen.»

«Wie war das, luv?»

Der Taxifahrer sah sich halb nach ihr um, suchte ihren Blick im Rückspiegel. «Hab ich nicht mitgekriegt, was haben Sie gesagt?»

«Nicht so wichtig.» Elisabeth sah zum Fenster hinaus, die Bäume waren jetzt hier in diesem Teil von Paddington wieder kahl. Keine Spur von den herrlichen Blüten. «Ich habe bloß gedacht …», sagte sie und kehrte in die Gegenwart zurück. «Der Verkehr. Ist der in London schon lange so schlimm? Ich erinnere mich zwar an Verkehr, aber so …»

«Kennen Sie das nicht, wie?»

Der Taxifahrer lachte auf. Er war ihr noch immer halb zugewandt – es gab da doch diese Redensart, nicht wahr, draußen solle man hundert Augen haben? Wenn er das wenigstens im Straßenverkehr beherzigen würde. «Vorsicht», wollte Elisabeth sagen, obgleich sie selbst nicht mehr fuhr, auch nicht auf der Insel, warum sollte sie auch. Dennoch – Vorsicht.

«Jedenfalls kommen wir nicht sonderlich schnell voran, oder?», sagte sie stattdessen zu ihm.

«Nie, luv. Das hier ist London.» Er schüttelte den Kopf. «Geht weder jetzt schnell noch später. Eigentlich nie. Wo kommen Sie denn her?»

«Schottland.»

«Ach ja?»

«Von einer kleinen Insel ganz weit im Westen.»

Der Mann pfiff beeindruckt. «Von so weit oben, wie? Was wollen Sie dann hier? Zu wenig los da oben? Mal ein bisschen Großstadtluft schnuppern?»

«Tatsächlich werde ich sogar bleiben», sagte Elisabeth. «Ich kehre zurück, verstehen Sie. Ich habe hier mal gelebt. Ja, ich werde bleiben. Eine Zeit lang jedenfalls.»

«Ach ja?»

«Ja.»

Da spürte sie wieder den Druck, ein Brennen. Idiotisch. Das kam davon, wenn sie sich nicht vorsah, sich gehen ließ. Nicht auf die Blüten achtete. Zweifach idiotisch. Denk an das Lied. Sie würde keinesfalls weinen.

«Dann bleiben Sie über Ostern?», meinte der Taxifahrer. «Da kommen Sie gerade rechtzeitig, haben zum Auftakt gleich die Feiertage. Haben Sie Freunde in der Stadt. Familie?»

«So in der Art.» Elisabeth war nicht mehr zum Weinen zumute. Jetzt wollte sie nur noch in die Wohnung, die Überführung hinter sich lassen, in den Westbourne Park und nach Hause.

Nach Hause.

Komische Vorstellung. Die Mieterin war doch gerade erst ausgezogen und Elisabeth selbst seit Jahren nicht mehr in der Wohnung gewesen, da konnte man doch kaum sagen «nach Hause», oder? Aber Edward hatte bloß gemeint: «Wir rufen einfach an und erklären es ihr. Alice wird das verstehen.» Und das hatte sie, die reizende Alice Fairburn, die ideale Mieterin, hatte Elisabeth schon immer gefunden. Was hatten sie mit ihr für ein Glück. Nur Stunden, nachdem Edward mit Alice gesprochen hatte, war diese offenbar mit Sack und Pack zu ihrer Schwester nach Islington gezogen. «Nutzt sie, solange ihr wollt», hatte sie zu Edward gesagt, so hatte er es wiedergegeben. Kein Druck, keine endgültigen Entscheidungen. Weil es ja nicht sehr lange sein wird, denkt Elisabeth und hatte sie gleich gedacht. Während sie jetzt in die Straße einbogen, in der sie einst gewohnt hatte und die aussah wie eh und je, auch der Magnolienbaum an der eigenen Haustür in Blüte … Entgegen dem, was sie dem Taxifahrer gesagt hatte, war es das, was sie dachte, als das Taxi um die Ecke bog … Sie war nämlich doch nur zu Besuch da. Sie würde nicht bleiben.

Wie vertraut aber alles war. Ein Gefühl der Heimkehr, als sie über die Schwelle trat. Es war herrlich, wie bestimmte Häuser einem das gaben. Denn obwohl es etliche Jahre her war, viele Jahre, seit sie zuletzt in Circus Gardens gewesen war, erstand, als sie den Schlüssel im Schloss drehte und es Klack machte und sie in die Diele trat … ihre ganze Vergangenheit vor ihr auf, und es war wirklich, als wäre überhaupt keine Zeit vergangen zwischen damals und jetzt, kein bisschen. Dort vor ihr schwang sich die Holztreppe hoch, die Stufen hier und da zerschrammt wie eh und je, die Farbe teils abgeplatzt, dort oben war der Treppenabsatz mit der Glastür zur kleinen Terrasse, auf der sie sich früher gesonnt hatte … Nichts hatte Alice verändert. Die Glastür – genauso. Die Terrasse. Wie viele Jahre war das eigentlich her? Seit sie dort draußen als junges Ding mit einem Buch und einer Tube Sonnencreme gesessen hatte? Das Leben ist eben doch lang. Siehst du? Dort draußen in der Sonne erschien hinter ihr Edward und schloss sie in die Arme. «Das treibst du also den liebelangen Tag, wie?», sagte er. «Und mir erzählst du, du komponierst?» – und sie lachte und bestand darauf, dass es stimme, sie habe dieses Stück geschrieben oder jenes begonnen. Oder denke an was Neues, ein größeres Werk vielleicht. «Eine Oper etwa?», sagte er dann. «Nein, nur ein Streichquartett.» «Ah ja. Verstehe. Ein Streichquartett.» Lachte und küsste sie noch mal.

Also …

Das Leben ist lang.

Da war die Glastür. Die kleine Terrasse.

Siehst du?

Und dann war auch das Wohnzimmer, als sie ihre Tasche am Absatz und an der Küche vorbei die Treppe hochgeschleppt hatte, genauso, wie sie es zurückgelassen hatte, der Studioflügel noch da – natürlich noch da. Sie ging hin und berührte eine Taste, das mittlere C. Sie fasste sich etwas staubig an, aber der Klang war rein. Sie spielte die Tonleiter mehrmals durch, dann D und dann E, spielte noch mal mit der linken Hand. Verstimmt natürlich, das war zu erwarten, aber nicht sehr. Sie setzte sich auf die Klavierbank. Sie hatte so viele ihrer frühen Stücke hier an diesem Klavier komponiert, selbst jetzt, wo sie oben im Bett liegt, scheint es unten auf sie zu warten wie ein guter Freund. Sie hatte weitere Tonleitern gespielt, C-Dur, D, E und F … Und das Klavier hatte treu auf den leisesten Druck ihrer Finger reagiert, wie eh und je. Dann fis-Moll. Autsch. Da. Der Ton. Da würde jemand gut zu tun haben, um den Ton wieder hinzustimmen – aber Elisabeth hatte trotzdem ihren Mantel abgelegt und Teile eines Préludes von Chopin gespielt, und es klang nicht einmal so schlecht, oder? Und danach ein Stück, das sie selbst geschrieben hatte, «Circus Gardens» betitelt. Sie hatte es einmal ganz durchspielen wollen, doch mitten im ersten Lauf hatte sie erneut den Druck verspürt, das Brennen. Und hatte die Hand vor den Mund legen müssen, um die Gefühle zurückzudämmen. Idiotisch. Idiotisch. Circus Gardens. Sie würde Edward vermutlich nicht wiedersehen.

Edward.

Die Anschaffung des Klaviers war seine Idee gewesen. Er hatte schon immer die besten Ideen gehabt. Es war Edward, der gesagt hatte: «Den kaufen wir», als sie den Studioflügel das erste Mal im Schauraum sahen, seine ideale Größe. «Spielen wirst zwar du, aber er ist für uns beide», hatte er gesagt – denn es sollte eine Art Prämie sein, irgendwie, eine Belohnung. Für die Uraufführung ihrer ersten Komposition, für den Roman, den er veröffentlicht hatte. «Mitgefangen, mitgehangen; wir sind ein Team», hatte Edward gesagt. «Lass uns den kaufen. Als Auftakt.»

Weißt du noch?

«Natürlich weiß ich es noch.» Sie sagt es oben im Bett laut zum Fenster, zum blauen Himmel. Das Klavier ist unten, stumm jetzt, aber es wartet.

«Ich weiß es alles noch.»

Sie hatte eine andere Melodie geklimpert, auch aus der Zeit damals, den frühen Jahren, als sie gerade erst eingezogen waren – aber dann aufgehört. Sie hätte wirklich dafür sorgen müssen, dass sich jemand um den Flügel kümmert. Alice war keine Musikerin, es wäre ihr nicht in den Sinn gekommen, jemand regelmäßig spielen oder das Instrument stimmen zu lassen. Vielleicht hätten sie jemand anders einziehen lassen sollen, der besser achtgegeben hätte – aber sie und Edward als Paar hatten nie zu denen gehört, die in der Weise vorausdachten, sie hatten die Dinge laufenlassen, losgelassen. Und so war es Jahre her, dass Elisabeth das Instrument selbst benutzt hatte, viele, viele Jahre, und damals war sie jung und, na ja, verliebt und stark gewesen und draußen vor dem Fenster eine ganze Zukunft, weit wie der blaue Himmel, als könnte es endlos weitergehen. Wie eine Oktave, die du mit den Fingern zauberst und wiederholst, immer weiter hinauf, Tonreihe um -reihe, weiter und höher und ohne Ende. Es gibt alle Töne der Klaviatur und über sie hinaus, die weißen Tasten, die schwarzen, ganze Töne, Akzidenzien und so weiter und weiter … Als spielte man sich durch alle Zeit, denkt Elisabeth, und da ist sie nun … Da ist sie … Als wäre das Ende erreicht, während doch tatsächlich alles zum selben Oktavraum gehört, das Ende der Melodie in den Noten schon angelegt, denn es gibt keinen Anfang, hier ausgestreckt auf dem Bett, und ebenso wenig ein Ende, also alles gut, schließ die Augen. Die herrliche Vergangenheit mit der vielen Musik um dich herum und der Sonne auf der Terrasse und deinen bloßen, lang ausgestreckten Beinen und der Hitze auf dem Scheitel, Edwards Armen … Schließ die Augen … Denn …

Da ist sie

Sie weiß noch, dass sie das auch an dem Tag dachte, als sie in der Wohnung angekommen war und am Flügel stand. «Da bin ich», hatte sie zu sich selbst gesagt, der gefürchtete Augenblick löste sich, als sie aufhörte zu spielen, in der Stille auf. Eigentlich, hatte sie da gedacht, ist es gar nicht so schlimm. Allein zu sein. Allein beschlossen zu haben, was sie tun wird. Von ihrem Hügel herabgestiegen zu sein. Nicht so schlimm.

«Gut, fahr hin», hatte Edward gesagt. «Verschaffe dir Gewissheit. Lass die Tests machen. Suche die Leute von der Wigmore Hall auf, überrede sie, dich das Adagio so aufführen zu lassen, wie es dir vorschwebt. Nimm dir Zeit, regele das alles. Ich bin ja hier. Wenn du so weit bist, komme ich und hole dich. Ich warte solange.»

Weil sie im Grunde Bescheid gewusst hatte, nicht? Ab dem Moment, wo sie beschlossen hatte, allein zurückzukehren? Dass es nun ganz allein an ihr war, dass sie Edward nicht wiedersehen würde. Ab dem Moment, wo der Arzt das letzte Mal angerufen und sie zu sich gebeten hatte; weil seine Praxis in Edinburgh noch kälter schien als zuvor und keine Arzthelferin bei ihm war, weil er sie selbst an der Tür empfing … Weil ihr erster Gedanke nach der Unterredung gewesen war: Ich kriege das schon alles hin. Nach London fahren. Sie das Adagio spielen hören, sie im Wigmore spielen hören. Die rechtlichen Fragen klären, die medizinischen. Es blieb genug Zeit. In ein paar Monaten, zu Frühjahrsbeginn, würde noch genug Zeit sein für alles. Es würde Proben geben müssen, hatte sie Edward gesagt, und sie würde bei ein paar gern dabei sein, den Dirigenten kennenlernen, dem sie noch nie begegnet war, und – sagte sie ihm – den Spezialisten aufsuchen, von dem sie beide gesprochen hätten, die Tests durchführen lassen, die er anbot, die neue Behandlung, und Edward hatte Alice angerufen und mit ihr alles geregelt, und Alice hatte gesagt, sie solle sich «so viel Zeit nehmen wie nötig, kein Problem». Sie habe eine Schwester in Islington, hatte sie gesagt, Elisabeth könne einfach in die alte Wohnung zurückkehren und sich häuslich einrichten …

An der Diagnose war nicht zu rütteln.

Der letzte Termin, der Arzt, der selbst an die Tür gekommen war – wie hatte er sich dort in der Praxis in Edinburgh noch ausgedrückt? «Jetzt wissen wir, wo wir stehen» –, an ihn, David Sowieso, hatte Elisabeth dort in London am Flügel in Circus Gardens denken müssen. David Airdrie, so hieß er. Er kam ihr vor wie aus einem anderen Leben. Und wie aus einem Vorleben dazu ihr Termin bei Stewart Campbell in seiner Praxis im Dorf, in dem kleinen medizinischen Versorgungszentrum, in dem sie vorher so gut wie nie gewesen war – gelegentlich mal Antibiotika, einmal eine schwere Grippe –, aber Stewart hatte dagestanden und sich genauso ausgedrückt, beinahe jedenfalls. Sie würden ein paar Scans machen müssen, dann werde er sie an einen Kollegen überweisen. Auf dem Festland, in Inverness oder vorzugsweise Edinburgh, damit sie wüssten, «wie’s steht», lautete seine Version. Elisabeth hatte angesichts seiner Wortwahl an jenem Tag begriffen, dass die Leute nur so sprachen, wenn sie Gravierenderes meinten als eine OP. Auf einen Eingriff konnte man sich schließlich einstellen und sich von ihm erholen. «Operation» implizierte einen Zeitplan, der in der Wendung «wie’s steht» fehlte. Für «wie’s steht», hatte sie damals gefunden, gab es gar keinen Plan. Also war gegen Ende des Sommers, als sie ihren zweiten Spezialisten aufgesucht hatte, und wie hieß der gleich wieder, ein Bekannter von Stewart Campbell, nicht wahr, und von ihm die zweite Meinung eingeholt hatte und der Termin für die erste Operation vor einem Jahr festgelegt wurde … die Botschaft klar. Noch mal eine weitere Meinung einzuholen könne schließlich nicht schaden, damit sie wüssten «wo wir stehen», so hatte er sich ausgedrückt. Aber im Grunde hatte Elisabeth ziemlich genau gewusst, wo sie stand. Als sie vor vier Wochen in Edinburgh eingetroffen war, wusste sie längst Bescheid. Und in den Wochen, die auf die letzte, aussichtslose Diagnose gefolgt waren, hatte sie den Wigmore-Auftrag abschließen können, innerlich lodernd vor einer eigenartig elektrisierten Erregung, hatte alle Systeme in einem Rutsch notiert, die Streicher und dann, zu ihrer eigenen Überraschung, eine neue Instrumentierung – die wie ein Wirkfaden durch die gesamte Komposition gezogene quecksilbrige Spur einer Querflöte –, unter einer inneren Spannung stehend, deren Funke in den Wochen der Schöpfung von ihrem Körper auf die Musik überzuspringen schien … Ein Phantombild ihrer selbst vielleicht, wie ein pfeilender Vogel, wie der Flug des Sperlings durch die Königshalle, so hieß es doch in diesen altenglischen Versen, oder nicht? Auch die würde sie vertonen, wenn ihr die Zeit bliebe, die Flugspur des unbekannten Schöpfers …

Aber ihr Werk war jetzt abgeschlossen. Und vor ihr lagen nur die Begegnung mit dem Dirigenten. Die Proben. Die Aufführung. So würden die kommenden paar wenigen Frühlingswochen vergehen. Bis sämtliche Vögel durch die Musik gezogen wären, heimwärts, und bis dahin hatte sie die Wohnung, diese Räume, den Flügel. Also ja. Frühling in London. Magnolien. Es genügte doch, einfach noch einmal hier zu sein, oder?, bei dem einen Baum direkt vor ihrem Fenster an der Haustür, die Blütenblätter dickfleischig fest und gebogen wie Flügel?

Die Reise hatte sie allerdings ermüdet. Sie war daher, nach den paar Minuten unten gleich nach ihrer Ankunft, ziemlich sofort ins Bett gegangen. So ist es, krank zu sein, dachte sie, als sie die Treppe hinaufstieg. So ist es … Alles wurde erschlagend. Sie hatte gerade noch die Kraft, aus dem Wäscheschrank Laken und ein Federbett zu zerren, Kissenbezüge … gerade genug, um halbwegs das Bett zu beziehen – dabei auf das Federbett, das doch zu schwer war, zu verzichten –, und dann, als der letzte Baumwollkissenbezug übergestreift war, ihre Schuhe von sich zu schleudern, ihren Rock zu Boden gleiten zu lassen, zwischen die kühlen, frischen Laken zu kriechen und das leicht kratzige Federbett noch zu sich heranzuziehen, ehe sie in einen traumlosen Schlaf versank … So ist es, krank zu sein. War ihr erster Gedanke, als sie, wohl Stunden später, die Augen aufschlug und es dunkel war.

Zuerst wusste sie beim besten Willen nicht, wo sie war. Sie lag da, leicht panisch im Grunde, versuchte, sich zu erinnern, was für ein Fenster das sein sollte, was für eine Wand daneben, versuchte, sich an die Einsicht zu erinnern, die sie vergessen hatte, während sie schlief … Ach ja: Sie musste sterben. Die Erinnerung selbst war längst nicht so schlimm wie der Versuch, sie zu erhaschen, die verworrenen Nanosekunden nach dem Schlaf, während derer sie irgendwie mit Schrecken, so fühlte es sich an, das Bewusstsein wiedererlangte. Die Erinnerung längst nicht so schlimm wie der Versuch, sich zu erinnern. Eher … unausweichlich. Wie das Leben überhaupt. Eins, das zum anderen führte. Ein Tag zum anderen, manche, die mit einem Morgen endeten, während andere eben nur endeten.

Sie blieb noch einen Augenblick liegen, genoss die Dunkelheit und das Gefühl, zur Ruhe zu kommen in diesem ihr so vertrauten Schlafzimmer. Wie oft hatte sie hier im Dunkeln gelegen. Wie jetzt … jetztmöge es jetzt sein, denkt sie, als könnte sie jetzt die Augen schließen und das Licht um sie herum wäre weg. Wie die vielen Male, wenn sie sich am frühen Abend kurz hingelegt hatte, ehe sie noch einmal wegging, sich einen Moment gegönnt hatte, ehe sie sich erhob und anzog, fertigmachte, still dagelegen und das Tageslicht langsam von den vertrauten Wänden und Kanten hatte rinnen lassen, das Violett und die Schatten einließ. Oder wenn sie mitten in der Nacht aufgewacht war und neben ihr Ed. Alles, all die Male und alles an diesem Zimmer ihr bekannt und vertraut. Alle Ruhepausen. Alle Dämmerungsstunden. Alle Mitternächte. Aller Schlaf.

Im Dunkeln dieses speziellen Abends lächelte sie. Fast konnte es einer der Abende vor langer Zeit sein, wenn sie und Ed noch etwas vorhatten, ein Konzert oder eine seiner Lesungen, einen Auftritt … das Gefühl, in einem wohlig dunklen Raum zu liegen, aber sehr bald schon wieder aus dem Haus treten zu können, wo sich dir eine ganz neue Phase des Abends eröffnete: hell erleuchtete Räume, Musik, das Klirren von Gläsern, Klänge und Stimmengewirr … Jetzt, wo sie daran dachte, packte sie plötzlich eine neue Energie, ein Ja – und sie beschloss, tatsächlich wegzugehen. Einfach aus dem Moment heraus. Alles andere zurückzustellen – die Telefonate, das Herrichten der Wohnung, das Auspacken – und stattdessen aufzubrechen, wie sie damals aufgebrochen war, ungebunden und klar und erfüllt von jugendlichem Elan und der Zukunft. Als könnte ihr nichts auf der Welt etwas anhaben, gar nichts.

Sie suchte aus ihrem Koffer eine Jeans hervor, stieg hinein, nahm ihr nachlässig über einen Stuhl geworfenes Jackett, ging nach unten und zur Tür hinaus.

Der Magnolienbaum war noch immer da. Stand wie erstarrt in der Nacht, die Äste weiß im Schein der Straßenlaterne, dicht besetzt mit herrlichen Blüten, aber vollkommen reglos, als warteten sie allesamt auf etwas. Selbst erwartungsvoll, blieb Elisabeth dort vor dem Baum einen Augenblick stehen, nein, eher eine geschlagene Minute. Es war eine laue Nacht. Die Kälte, die sie tagsüber angeweht hatte, als sie aus dem Zug stieg, war einer wunderbaren Anmutung gewichen, einer Art frühsommerlicher Wärme, fast, und auch das Klamme war verflogen, sodass der tiefblaue Himmel und die Luft draußen herrlich frei und weit wurden, wohltuend, friedlich. Ihr war, als könnte sie umgehend ihr Jackett ablegen, in der dunklen, weichen Luft nur ihr T-Shirt tragen … Und das tat sie, zog das Jackett aus, und mit der sorglosen Stimmung kam das Gefühl, wieder jung zu sein, so wie mit Anfang zwanzig, vor dem Komponieren, vor den Aufführungen, vor der Begegnung mit Edward und der Ehe und dem Umzug nach Schottland auf die Insel … vor alledem, und da war sie nun, trieb sich herum, wie sie sich früher herumgetrieben hatte, als sie spät noch wegging, die ganze Nacht wegblieb, in Bars und Restaurants jobbte, auf abgefahrene, exotische Musikfestivals und Konzerte in leeren Lagerhallen ging, die erst um Mitternacht anfingen und bei denen nur Kerzen brannten … Weißt du noch, damals … Weißt du noch? fragten die Magnolienblüten. Wer du mal warst? Wer du bist? Da merkte sie, dass sie, als sie zur Tür hinaustrat, keine Ahnung gehabt hatte, was sie mit dieser tief dunkelblauen Nacht anfangen sollte, aber jetzt wusste sie es.

Gleich gegenüber an der Ecke gab es einen Pub, den sie vor Jahren oft aufgesucht hatte, dort hatte sie sich manchmal nach der Arbeit mit Ed getroffen, oder sie waren auf einen Schlummertrunk hingegangen, und manchmal auch sie allein, hatte sich an die Bar gesetzt, mit dem vertrauten Barmann gesprochen, und dann war da noch ein alter irischer Priester gewesen, Stammgast und wie eine Figur aus einem Roman von Graham Greene, fand Ed. Auch mit ihm hatte sie sich öfter unterhalten, ein kluger, kluger Mann, hatte eine Weile bei ihm gesessen und mit ihm über Sünde und Tod und Hoffnung gesprochen … Wo mag der alte Priester jetzt sein? Der Pub hatte immer lange auf, sie entsinnt sich, häufig erst bei hellblauem Frühsommerhimmel unterm offenen Fenster wieder im Bett gewesen zu sein. Weniger wie ein Londoner Pub und mehr wie eine irische Kneipe oder New Yorker Bar. Aus der Nähe allerdings sah sie jetzt, dass der Pub neu gestrichen, irgendwie überholt, aufgepeppt worden war – wie das? Was früher eine heruntergekommene Schankstube gewesen war, hatte man zum Inbegriff einer solchen umgestylt, das war es, quasi zu einem modisch-maroden Salon – noch am selben Fleck wie damals mit den gleichen Gästen und Jukeboxklängen, eigentlich, nur sorgte heute für die Musik eine Band in der Ecke, Gitarrist und Drummer und Geigerin … Das war früher sie gewesen. Geigerin. Elisabeth schmunzelte. Die Tür stand offen, sie trat ein.

Lärm und Gedränge schlugen ihr entgegen. Männer und Frauen umlagerten den Tresen oder hockten an kleinen Tischen beieinander, lachten und schwatzten. Sie heizten den Raum auf mit ihrer Energie, jeder angeregt von seinen jeweiligen Nachbarn, von der Gesellschaft, sie sprühten vor Leben, alle möglichen Leute, als wäre die ganze Welt da. Elisabeth bahnte sich einen Weg an den Tresen, um zu bestellen, was sie einst immer bestellt hatte – Wodka Tonic, viel Zitrone, viel Eis. Es war das Party-Getränk damals, weißt du noch? Die Partys? Sie würde, später, sogar eine Schachtel Zigaretten kaufen und draußen vor der Tür eine rauchen.

«Hallo!», übertönte die junge Frau hinter dem Tresen die Band. «Was darf’s sein?» War sie Australierin? Vielleicht Neuseeländerin? Jedenfalls eine dieser patenten, aufgekratzten Stimmen, diese umgängliche Art. Die Stimme von einer, die viel Zeit in der Sonne verbracht hat, am Strand vor einem endlosen blauen Meer auf einem weiten grünen Rasen.

«Wodka Tonic also, ja?», meinte sie, als Elisabeth ihre Bestellung aufgab, und grinste. «Klingt gut.»

Elisabeth wühlte in ihrer Tasche nach Geld. «Ja», sagte sie. «Mit viel Eis, bitte. Und Zitrone.»

«So mag ich ihn auch.» Die junge Frau lächelte wieder breit, nur diesmal mit prüfendem Blick. «Alles in Ordnung?», fragte sie.

Elisabeth erstarrte, ihr blieb fast das Herz stehen – war es so? Blieb ihr das Herz stehen? Blieb ihr Körper stehen, war es das Ende, nicht etwa später, wie sie gedacht hatte, sondern hier, jetzt, jetzt … Dann fing sie sich wieder. «Haben Sie vielleicht Kleingeld für den Zigarettenautomaten?», fragte sie.

Die Barfrau widmete sich wieder dem bestellten Drink. «Nope.» Sie schüttelte den Kopf und schaufelte Eis in ein hohes Glas. «Gibt keinen Automaten mehr. Aber ich spendier Ihnen gern eine Zigarette, wenn Sie wollen. Ich habe gleich Pause. Wir können nach draußen gehen.» Sie drehte sich um und schenkte Elisabeth erneut ihr strahlendes Lächeln, wie direkt vom Strand, voller Sonne und langer, heißer Tage.

«Okay?», meinte sie.

«Okay», sagte Elisabeth.

Das Ganze war wie wieder jung sein. So dachte Elisabeth im Nachherein. Dieses Okay? Okay! Die Sorglosigkeit, die Offenheit für das, was kommen würde, weil alles okay wäre. Die Mühelosigkeit, das Gefühl, die Nacht schließe jeden mit ein, alle seien sie vereint, jeder dein Freund.

Okay.

Okay.

Sie hört es sich sagen.

«Okay», wiederholte die Barfrau. «Ich sag dann Bescheid, und wir gehen zusammen nach draußen und sündigen.» Sie führte gestisch eine Zigarette an den Mund, sog den Rauch ein und stieß ihn wieder aus.

Elisabeth nickte, «Alles klar», und wanderte Richtung Ecke und Band. Die Geigerin spielte ein herrliches Arpeggio in a-Moll, über ihr Instrument gekrümmt wie ein alter Highland-Fiedler, den Bogen über die Saiten führend wie bei einem Cèilidh in den Bergen, mit diesem federnd leichten Strich, den man auf der Insel bei allen Dorftänzen hörte … Hübsch klang das inmitten des dichten Pub-Geschnatters zum Puls der Gitarrenakkorde. Erinnerte Elisabeth an irgendwas. An ihre Flöte, begriff sie. Die Flöte in ihrer Elegie für Streicher, ihr Adagio – die gleiche Art unerwarteter Klang, der weniger mit der Musik der anderen im Orchester konkurrierte oder einherging als schlicht eine weitere Stimme dazu war, sich durch die Melodie hindurchwand und sie erhellte, lichtete, als bahnte sie sich klanglich einen Weg. Elisabeth war euphorisch. Und sich dessen bewusst. Diese Klänge hier zu hören. Und auf diese Weise gespielt. Zu später Stunde. Spät noch weggegangen zu sein, allein, zutiefst allein, wie sie es liebte, und alle Welt da, ihr Gesellschaft zu leisten, wenn nötig, aber wahrscheinlich wäre es das letztlich nicht. Sie wollte tanzen und mit Leuten reden, bis spät bleiben und … bleiben. Die Band spielte den Song zu Ende, und alle klatschten.

«Nun», sagte die Sängerin. «Nun», und sie begannen mit der nächsten Nummer.

Ein junger Mann beugte sich zu ihr herüber. «Gut, nicht?», und Elisabeth wandte sich ihm zu. Er war jung. Mitte, Ende zwanzig. Hinter ihm hob die Barfrau zwei Finger, mimte «jetzt» und deutete auf die Tür.

«Sind Sie Musikerin?», fragte der Junge.

Elisabeth lächelte. «War ich.»

Sie löste sich von ihm – er hatte ihr eine Hand auf den Unterarm gelegt – und machte sich auf den Weg nach draußen.

Dort stand ein Klüngel junger Leute, vier oder fünf Frauen in schwarzen Stiefeln und schmalen Mänteln, die Typen in dicken Jacken und Parkas. Elisabeth stellte sich neben sie an die Ecke. Von dort konnte sie ihre Wohnung sehen; sie hatte Licht gemacht, ehe sie ging, und die Fenster des Wohnzimmers waren rechtwinklige gelbe Flecken im Dunkel, auch aus dem Schlafzimmer oben schien Licht. Die Euphorie von vorhin, von drinnen hielt an, in ihrem Herzen, in ihrem Kopf, nur der Körper streikte plötzlich wieder. Sie musste sich setzen. Eine Bierkiste stand hochkant an der Wand, man hatte mehrere als improvisierte Sitzgelegenheit herausgeschleppt, und drum herum versammelten sich einige Raucher. Sie spürte neben sich Bewegung, die Barfrau; Elisabeth nahm ihren Arm, und sie setzten sich.

«Tja», meinte die junge Frau, und Elisabeth hörte erneut die Sonne in ihrer Stimme und das viele blaue Wasser. Sie kam von weit, weit her. «Da wären wir also.»

Sie zupfte zwei Zigaretten aus ihrer Schachtel, reichte Elisabeth eine und schnickte ihr Feuerzeug auf.

«Wohnen Sie hier in der Gegend?»

«Früher mal.»

Die Müdigkeit war überall, in den Knochen um ihre Augen, in ihren Fingerspitzen, im Gewicht der Zigarette in ihrer Hand. Sie wollte sich am liebsten gleich jetzt, gleich hier an der Straße niederlegen.

«Früher mal?», meinte die Barfrau. «Aber jetzt nicht mehr? Keine schlechte Gegend zum Früher-mal-Wohnen», sagte sie, «schätze ich.» Sie schüttelte den Kopf und zog an ihrer Zigarette. «Kenn ich, das Gefühl von ‹früher mal› …»

Da erreichte sie ein Johlen; die Band beendete einen Set, es gab Applaus und anerkennende Pfiffe.

«Wissen Sie …», hob Elisabeth an, konnte den Satz aber nicht beenden. Dort waren die Fenster ihrer Wohnung, leuchteten im Dunkeln.

«Ja, ich weiß, Honey», sagte die Barfrau. «Ich weiß. Kennen wir alle, oder? Unfassbar, verdammt.» Sie legte den Kopf in den Nacken, hob ihr Gesicht dem Himmel entgegen, dem Mond, als wäre er die Sonne und lasse sie sich wärmen, und Elisabeth tat es ihr gleich, hielt das Gesicht in den Mond, dass er auch sie bescheine. Nur war der Mond hier nicht zu sehen, das hier war London. Sie lebte schon sehr lange.

«Lassen Sie uns noch ein bisschen bleiben», sagte sie, und die junge Barfrau nickte. «Okay, geht klar. Zehn Minuten hab ich schon noch.»

Zehn Minuten reichen mir, denkt Elisabeth jetzt. Sie zeigte auf ihre Wohnung, das Haus, den herrlichen Baum davor. «Ich habe mal genau dort gewohnt», sagte sie zu der Barfrau, zeigte auf die erhellten Fenster, auf den weißen Baum, und wieder durchströmte sie die Euphorie wie eine köstliche Droge. Alles andere konnte warten. Alles, was noch kommen sollte. Die Klinik. Die Musik. Das Telefon und die Anrufe und was alles noch zu erledigen war. Edward zu sagen, dass es keine Tests mehr geben werde, dass damit Schluss sei, dass sie beschlossen habe, den Rest allein zu bewältigen. Zehn Minuten. Die Blüten waren dort in ihrem Baum, sie konnte sie sehen, sie hatten sich zu ihrer Heimkehr wieder eingenistet. Es blieb Zeit noch, bis sie sich zu voller Blüte entfalten, zu Boden sinken und wieder ein Jahr vorbei sein würden. Zeit nun, sagt Elisabeth zu sich im Schlafzimmer, zum weiten Himmel. Denn nun war es, als würden diese selben Blüten sich eine um die andere von den Zweigen lösen und als einziger dichter Schwarm abheben.

Untreuen

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