Читать книгу Die Feder von Kylnavern - Klara Chilla - Страница 4
ОглавлениеNach dem Sturm
Als Hannah die Augen aufschlug, wusste sie einen verwirrend langen Moment nicht, was geschehen war. Panik jagte ihren Atem hoch, als sie das rotbraune Tuch bemerkte, das dicht und schwer auf ihrem Gesicht lag. Stocksteif lag sie da und wagte sich nicht zu bewegen, aus lauter Angst, dass es nicht nur ein Tuch war, das ihr die Sicht versperrte, sondern sie unter einer Masse aus Sand begraben worden war. Mit einem Schlag kam die Erinnerung zurück. Der Sandsturm! Marina!
Hannah setzte sich nun doch ruckartig auf, das Tuch rutschte von ihrem Gesicht. Sand rieselte aus ihren Haaren und aus ihrer Kleidung. Kühle Nachtluft schlug ihr entgegen und streichelte über ihr vom Sandsturm gepeinigtes Gesicht. Beklommen stand sie auf und sah sich um, wobei sie sich den restlichen Sand von der Kleidung klopfte. Der Nachthimmel war voller Sterne und ein riesiger voller Mond beleuchtete gnädig die Dunkelheit um sie herum. Sie befand sich offensichtlich immer noch in dem ausgetrockneten Flussbett, aber sie war allein. In beiden Richtungen erstreckten sich die kahlen Wände, die sie wie Mauern umschlossen und gemeinsam mit dem Sturm aus ihrem beschaulichen Touristendasein gerissen hatten. Von Marina, den Männern oder gar von den Pferden keine Spur.
»Marina?«, rief Hannah vorsichtig, als ob sie ihrer eigenen Stimme nicht traute, und lauschte dem Nachklang, der von den Wänden zurückgeworfen wurde und in der Nacht ungehört und unbeantwortet verklang. Eine Weile stand sie so da, lauschte der Stille und dem Schlagen ihres jagenden Herzens, das immer lauter in ihren Ohren klang und zu einem panischen Trommeln anschwoll.
»Marina!«, schrie sie diesmal so laut sie konnte.
»Wir haben sie verloren.« Die dunkle Stimme Targons schreckte sie auf, und sie wirbelte herum, starrte ihn an wie ein Gespenst. Woher um Himmelswillen war er nur so plötzlich aufgetaucht?
»Was heißt das, wir haben sie verloren?«, fragte sie verwirrt und blickte in alle Richtungen, doch das Bild hatte sich nicht verändert. Sie war immer noch allein, wenn auch inzwischen in der Gesellschaft von Targon. Von der ihr im Augenblick allerdings nicht klar war, ob sie ihr willkommen sein sollte oder nicht.
»Vielleicht haben sie rechtzeitig diese Höhle erreicht, von der Kerim gesprochen hat.« Stur hielt sie ihm diese Möglichkeit vor, doch Targons Miene wirkte seltsam hart, und er schüttelte den Kopf.
»Das haben sie nicht«, antwortete er ruhig.
Etwas lag in seiner Stimme, das Hannah aufhorchen ließ. Wie konnte er sich da so sicher sein? Unsicher wich sie einen Schritt zurück. Erst jetzt bemerkte sie, dass er verändert aussah. Er trug zwar immer noch die schwarze Jeans und das weiße Hemd, aber an seinen Unterarmen befanden sich zwei lange Ledermanschetten, in denen etwas steckte. - Waren das Messergriffe, die daraus hervorschauten? Um seine Hüfte trug er einen breiten Gürtel mit einem Schwert. Unbewusst hielt sie den Atem an und versuchte nicht darauf zu achten, dass ihr Puls wieder hysterisch nach oben schnellte. Targon begegnete ruhig ihrem forschenden Blick, als wäre es das Natürlichste auf der ganzen Welt, mit einem derartigen Waffenarsenal durch die Gegend zu laufen. Seine Augen glänzten unheimlich, angestrahlt von den Sternen am klaren Nachthimmel. Es war beinahe so wie an dem Abend im Hotel und doch so völlig anders. So anziehend sie ihr dort vorgekommen waren, so gefährlich wirkten sie mit einem Mal jetzt auf sie.
Hannah schauderte und spürte, wie sich ihre Nackenhaare alarmiert aufrichteten. Targon machte ihr Angst, und die Tatsache, dass Marina und sie sich auf diesen Ausflug eingelassen hatten, kam ihr mit einem Mal völlig idiotisch vor. Plötzlich wusste sie sicher, dass dies alles hier kein Zufall war. Sie wich weiter vor ihm zurück, obwohl sie wusste, dass ihr das auch nicht weiterhelfen würde. Targon beobachtete sie weiterhin ruhig und verschränkte die Arme vor der breiten Brust, aber er folgte ihr nicht.
»Wieso bist du dir so sicher, dass sie nicht in dieser Höhle sind? Wie kannst du das wissen?«, fragte sie, nur um etwas zu sagen.
»Weil es hier keine Höhle gibt, in der sie sich verkriechen könnten.«
Er sagte es mit einer gelassenen Bestimmtheit, die ihr den Boden unter den Füßen wegriss.
»Woher weißt du das?«, stammelte sie.
»Weil sie nicht vorhatten, in eine Höhle zu flüchten. Zumindest Romun und Kerim nicht.«
Hannah keuchte auf. Langsam ließ sie sich in den Sand gleiten, der immer noch heiß war. Ihre Beine waren plötzlich weich und trugen einfach nicht mehr ihr Gewicht. Marina! Der Name war purer Schmerz. Warum hatten sie sich auf diesen Ausritt eingelassen? Sie hätte auf ihren Instinkt hören sollen, statt sich von dem liebestollen Geplapper ihrer Freundin einlullen zu lassen. Fröstelnd legte sie die Arme um sich.
»Wo ist Marina? Und was hast du und dein Bruder, falls es überhaupt dein Bruder ist, mit uns vor?« Ihre Stimme war erschreckend dünn, und sie wollte ihn nicht ansehen, aber sie wollte auch nicht den Eindruck erwecken, dass er leichtes Spiel mit ihr hatte. Also rappelte sie sich wieder auf, hob ihr Kinn und funkelte ihn trotzig an.
Targon ließ die Arme sinken und kam bedächtig einen Schritt näher.
»Du frierst. Ich werde uns ein Feuer machen. In der Wüste wird es nachts empfindlich kalt.«
»Wo ist Marina und was habt ihr mit uns vor?«, wiederholte sie stoisch ihre Frage.
Targon ignorierte sie und bückte sich. Erst jetzt sah sie, dass dort bereits ein kleiner Haufen aufgeschichtet war. Es war kein Holz, woher hätte das hier auch kommen sollen, aber es interessierte sie auch nicht weiter, woraus er das Feuer zauberte. Targon nahm gleichmütig etwas aus einem Lederbeutel, der an seinem Gürtel hing – war der vor dem Sturm schon dort gewesen? – und schlug es gegeneinander. Funken stoben auf. Etwas glühte auf. Targon blies vorsichtig auf den schwach glimmenden Punkt, dann legte er etwas dazu und blies erneut. Fasziniert beobachtete Hannah, wie schnell ein Feuer aufloderte. Eilig rückte sie näher und war jetzt doch dankbar für die Wärme, die schnell auf sie übersprang, aber doch nicht ihr Herz wärmte. Dennoch hatte sie ihre Frage nicht vergessen, die ihr mehr als alles andere auf der Seele brannte.
»Wo ist Ma …«
»Sie ist mit meinem Bruder unterwegs nach Kylnavern. Das ist unser Zuhause«, unterbrach er sie. Targon richtete sich wieder auf.
Wo war nur die Wärme in diesen wunderschönen Augen geblieben? Hannah musste den Kopf in den Nacken legen, um ihn anzusehen, und kam sich mit einem Mal unendlich klein und wehrlos vor.
»Und dorthin werde ich dich auch bringen. Dort wartet eine Aufgabe auf dich.«
Hannah fror. Es war eiskalt, trotz des Feuers, an das sie jetzt so dicht herangerückt war, dass es bereits unangenehm auf ihrer Haut brannte. Eine Aufgabe? Ihre Wangen erhitzten sich, und sie starrte ihn nur stumm an, unfähig etwas zu erwidern. Sie verabscheute sich dafür.
»Ihr habt das alles hier geplant, um uns zu entführen«, stellte sie nach einer geraumen Weile fest.
»Das bringt es ziemlich genau auf den Punkt«, entgegnete Targon gelassen und setzte sich nun ebenfalls an das Feuer.
»Warum? Was ist das für eine Aufgabe? Verschachert ihr uns an irgendeinen Harem?« Ihre Stimme zitterte leicht, und sie hasste sich dafür, diese Schwäche zu zeigen.
»Das wirst du an unserem Ziel erfahren. Es steht mir nicht zu, dich aufzuklären. Aber ich kann dich immerhin beruhigen, dass kein Harem auf dich oder Marina wartet.« Bei den letzten Worten verzog er die Lippen zu einem amüsierten Lächeln, das sie wütend machte. Hilflos ballte sie die Hände.
Ein leichter Wind strich über ihr Lager hinweg. Die Flammen loderten auf und Funken stoben in den Himmel, als wollten sie einen Platz zwischen den Sternen einnehmen. Targon schloss die Augen und lehnte sich entspannt an einen Felsen. Das Feuer ließ sein Gesicht dunkelrot aufleuchten und verlieh ihm für einen flüchtigen Moment etwas Diabolisches.
Unschlüssig, was sie tun konnte oder sollte, saß Hannah da und beobachtete ihn. Mit jedem ruhigen Atemzug, den er tat, spürte sie Hass in sich aufsteigen, der ihre Angst in den Hintergrund schob. Wie konnte er die Frechheit besitzen und die Augen schließen. Hatte er keine Angst, dass sie versuchen konnte zu fliehen?
Aber wohin sollte sie fliehen? Ratlos fuhr sie mit den Händen über den Boden und stieß gegen einen Stein. Er war etwa doppelt so groß wie ihre Faust. Vorsichtig warf sie einen Blick auf Targon, der inzwischen zu schlafen schien. Voller Grimm umschlossen ihre Finger den Stein, der immer noch die Wärme des Tages ausstrahlte. Ein einziger gut gezielter Schlag auf den Kopf und Targon würde lange genug schlafen, um ihr die Gelegenheit zur Flucht zu geben. Entschlossen wog sie den Stein in ihrer Hand und taxierte die Entfernung. Sie war eine gute Werferin, die Entfernung war nicht wirklich groß und das Ziel gut beleuchtet vom Schein des Feuers.
»Das würde ich nicht tun.«
Hannah erstarrte. Der kleine Stein war plötzlich schwer wie ein Felsen, der ihre Hand bewegungsunfähig zu Boden drückte.
Targon hatte die Augen geöffnet und sah sie mit mildem Tadel an.
»Du würdest keine Stunde ohne mich überleben.«
»Was kann schon so schwierig sein? Der Weg hierher war nicht dramatisch aufregend, weißt du? Ich habe schon immer einen guten Orientierungssinn gehabt. Wenn ich nicht ganz falsch liege, sind wir doch fast ausschließlich nach Süden geritten. Also reite ich bei Morgengrauen einfach aus dem Flussbett heraus und nehme den gleichen Weg wieder zurück.«
»Es gibt für dich keinen Weg zurück.«
Hannah schluckte. So, wie er es sagte, klang es wie eine Tatsache, wie eine zutiefst beunruhigende noch dazu; wenn ihr auch das leichte Mitgefühl in seiner Stimme nicht verborgen geblieben war. Aber warum sollte er ein schlechtes Gewissen haben? Sicher war das hier nicht seine erste Entführung. Dafür war alles zu geschickt eingefädelt gewesen.
Kraftlos öffnete Hannah ihre Hand und ließ den Stein los, der über den Boden rollte und nach wenigen Zentimetern liegenblieb. Er konnte genauso wenig aus eigener Kraft fort, wie sie selbst. Kein Weg zurück! Die Worte hallten durch ihren Kopf und hinterließen doch nicht viel mehr als Ratlosigkeit und Leere. Kein Schrei füllte ihre Lungen und keine Tränen ihre Augen. Sie saß einfach da und konnte nicht fassen, was das Ausmaß dieser Worte ihr sagen sollte. Dennoch, spätestens morgen Abend würden Amira und Emma sich Sorgen machen.
»Das ist doch Wahnsinn!«, sagte sie daher. »Unsere Freundinnen werden uns als vermisst melden. Amiras Onkel wird die Polizei alarmieren. Du solltest mich zurückbringen, bevor sie uns finden und dich gefangen nehmen. Ein Aufenthalt in den Gefängnissen hier ist bestimmt nicht sonderlich angenehm.«
»Sie können uns nicht finden.« Jetzt lächelte er, doch plötzlich richtete sich Targon auf. Wäre er ein Tier gewesen, hätte er wahrscheinlich die Ohren gespitzt und geknurrt. Doch so ging eine sichtbare Anspannung durch seinen Körper. Aufmerksam legte er den Kopf auf die Seite und lauschte in die Dunkelheit, in der sie nichts außer dem leisen Prasseln und Knistern des Feuers wahrnahm. Doch irgendetwas schien Targon zu beunruhigen. Demonstrativ legte er einen Finger über seine Lippen, während er vollkommen lautlos aufstand und zu ihr herüberkam. Augenblicklich klopfte ihr Herz warnend, und Angst machte sich in ihr breit. Was hatte er vor? Vielleicht war bereits ein Suchtrupp unterwegs, der nach Marina und ihr fahndete? Vielleicht hatte man den Sandsturm auch im Hotel bemerkt? Dann lag die Wahrscheinlichkeit nahe, dass man doch nach ihnen suchte. Doch noch bevor sie den Mund zu einem Schrei öffnen konnte, war Targon bei ihr und verschloss ihr – woher hatte der Mistkerl das geahnt? – den Mund mit seiner großen Hand, die nach Schweiß und Staub schmeckte.
»Wenn du auch nur einen Funken Verstand hast und an deinem Leben hängst, gibst du keinen Mucks von dir!«, zischte er direkt an ihrem Ohr. Ein eiskalter Schauer ging auf ihrer Kopfhaut nieder und lief über ihren Rücken hinunter. Himmel! Erst die Freiheit, dann das Leben?
»Ich nehme die Hand gleich wieder weg und werde nach dem Rechten sehen. Du versteckst dich dort drüben zwischen dem Felsen und der Flusswand. Sollte ich nicht mehr zurückkehren, bleib dennoch dort. Man wird dich dort finden und in Sicherheit bringen. – Wenn du mich verstanden hast, dann nicke jetzt.«
Wie ein Blitz huschte der Gedanke durch ihren Kopf, ihm einfach in die Hand zu beißen. Doch so schnell wie er aufgetaucht war, so schnell war Hannah bewusst, dass es eine blöde Idee war, solange sie nicht wusste, warum er so vorsichtig war. Entschlossen, die erste beste Gelegenheit zur Flucht zu nutzen, wenn er nach dem Rechten sah, nickte sie. Beschämt bemerkte sie dabei, dass seine Handinnenfläche nass von ihrem Sabber war.
»Gut«, sagte er, löste die Hand und war gleich darauf in der Dunkelheit verschwunden wie ein Schatten, der einfach nur dorthin zurückkehrte, wo er naturgemäß auch hingehörte.
Dankbar atmete Hannah die frische Luft ein und wischte sich mit dem Hemdsärmel über die Lippen. Doch den staubigen Geschmack, den seine Hand hinterlassen hatte, wurde sie so nicht los. Sie musste dringend etwas trinken. Die Wasserflasche befand sich an ihrem Sattel, und sie hatte nicht die geringste Ahnung, wo die Pferde waren.
Wütend, aber vorsichtig in alle Richtungen spähend, ohne, dass sie wirklich etwas außer in ihrer unmittelbaren Umgebung wahrnahm, ging sie langsam zu dem Felsen hinüber. Als sie sich in den Spalt zwischen Felsen und Flusswand schob, hoben sich zwei dunkle Köpfe, die ihr neugierig entgegensahen. Darauf hätte sie auch selbst kommen können, dass er die Pferde bereits hier versteckt hatte. Erleichtert darüber, nicht mehr völlig allein zu sein, tätschelte sie die beiden Tiere und kramte die Wasserflasche hervor, aus der sie nur wenige Schlucke nahm, um nicht zu viel von dem Wasser zu vergeuden. Dann ging sie zu Radscham und durchwühlte die Satteltaschen. Sie fand zwei weitere gut gefüllte Wasserflaschen, die sie zufrieden in ihrer eigenen verstaute. Entschlossen ergriff sie die Zügel der kleinen Stute und führte sie aus dem Spalt heraus. Sie würde jetzt nach Hause reiten. Es gab immer einen Weg zurück. Und wenn sie das Hotel erreichte, würde sie als erstes einen Suchtrupp für Marina organisieren.
Überzeugt von der Durchführbarkeit ihres Plans, schwang sie sich in den Sattel. Ohne einen Blick darauf zu verschwenden, ob Targon sie vielleicht beobachtete, trieb sie die Stute Kimon an. Ihr Mut war nur begrenzt, und wenn er jetzt vor sie trat, wusste sie nicht, ob sie ihn nicht ganz verlor. Mit einem Schnalzen bohrte sie ihrem Reittier die Fersen in die Seiten, das verwirrt lostrabte. Eigentlich hatte sie vorgehabt, aus dem Stand loszugaloppieren, aber die Stute war offensichtlich klüger als sie selbst und wählte einen Trott, in dem sie nicht Gefahr lief, in der Dunkelheit zu stolpern.
Nervös kaute Hannah auf ihrer Unterlippe und trieb das Pferd verbissen weiter. Die Situation brachte sie an ihre Grenzen. Ihr Puls hämmerte in ihren Schläfen, als wäre diese Flucht eine kaum bezwingbare Anstrengung. Doch mit jedem Schritt, den sie sich von dem Feuer entfernten, beruhigte sich das Pochen, und ihre Hoffnung wuchs, wirklich damit durchzukommen.
Ein schriller Pfiff schoss durch die Nacht, zerschnitt wie ein Pfeil das dünnen Tuch, aus dem ihre Hoffnung gewebt war. Ein Schatten löste sich aus der schwarzen Masse, die um sie herum herrschte und nicht länger von dem Lagerfeuer durchbrochen wurde, gefolgt von anderen. Instinktiv trat Hannah zu, und der erste Schatten stolperte mit einem überraschten Laut zurück. Ihr Pferd wieherte erschrocken auf und stieg, doch eine eiserne Hand ergriff den Zügel und zwang Kimon auf den Boden zurück. Ein Schlag explodierte in Hannahs Seite, der sie aus dem Sattel warf.
»Nein!«, schrie sie und wimmerte auf, als der Aufprall auf dem überraschend harten Wüstenboden ihr den Atem stahl. Noch ehe sie wieder Luft holen konnte, wurde sie an ihren Haaren nach oben gerissen. Tränen schossen in ihre Augen. Hilflos hing sie in dem Griff und wurde erneut zu Boden geworfen. Panisch bedeckte sie ihren Kopf mit beiden Händen und krümmte sich zusammen, als ob sie sich so vor den Angreifern verbergen konnte.
Im Licht der Sterne blitzte eine Metallklinge auf, die durch die Nacht tanzte wie ein Irrlicht. Und auch ohne dass sie den neuen Schatten ernsthaft von den anderen unterscheiden konnte, wusste sie, dass es nur Targon sein konnte. Der Tanz der Klinge war nicht ziellos. Jede Bewegung verschmolz zu einem tödlichen Versprechen. Schatten und Metall fügten sich in einen bizarren Reigen aus Eleganz und Tod, unterbrochen von dem Klirren der aufeinanderprallenden Schwerter, dem Stöhnen der Getroffenen und dem dumpfen Aufprall von leblosen Körpern auf dem Boden.
Alles spielte sich unglaublich schnell ab. Nachdem der dritte Angreifer zu Boden gestürzt war, ergriff der Rest die Flucht. Ehe sie begriff, dass der Kampf vorbei war, wurde sie erneut hochgerissen. Doch diesmal schloss sich eine eiserne Klammer um ihren Oberarm und drückte ihn so schmerzhaft zusammen, dass sie aufstöhnte.
»Wie kannst du nur so dumm sein?« Targons Stimme bebte vor unterdrücktem Zorn. Heiße Wut loderte mit seinem Atem durch ihr Gesicht wie der feurige Atem eines Drachen. »Was genau verstehst du nicht an den Worten, wenn du an deinem Leben hängst?«
»Was verstehst du nicht an dem Wunsch, vor einem Entführer zu fliehen?« Der Schrecken des Kampfes war vergessen. Trotzig schüttelte Hannah Targons Hand ab und rieb sich die schmerzende Stelle. An die blauen Flecke wollte sie gar nicht denken.
»Diese Männer wollten dich tot sehen, Hannah. Wenn ich nicht an deine Dummheit geglaubt und dir gefolgt wäre, wärest du jetzt tot.«
»Oh?« Hannah spielte übertriebenes Erstaunen vor. »Dann hätten sie dir dein kleines mieses Geschäft wohl kaputt gemacht?«
»Du hast nicht die geringste Ahnung, worum es hier geht. – Es sind noch mehr Angreifer hier. Ich bringe dich jetzt zu den Felsen zurück und diesmal bleibst du dort und wartest.«
Damit ergriff er ihre Hand und zog sie wie einen störrischen Esel zusammen mit der Stute am Zügel hinter sich her. Ohne ein weiteres Wort an sie zu verschwenden, schob er sie in den Spalt und verschwand wieder. Hannahs Trotz zersprang wie eine Seifenblase. Müde und erschöpft lehnte sie sich an die Felswand, die sich scharfkantig in ihren Rücken bohrte. Dennoch verharrte sie so und lauschte in die Nacht hinaus. Diesmal hörte sie überall Geräusche, die sie nicht identifizieren konnte. Noch mehr Angreifer? Woher wusste er das und warum sollten sie ihren Tod wollen? Sie kannten sie doch gar nicht. Der kühle Nachtwind trug ein leises Klirren zu ihr herüber. Augenblicklich löste sie sich von dem Felsen und wich weiter in den Spalt zurück, drängte sich zwischen die beiden Pferde, als könnten sie sie vor dem beschützen, was da draußen auf sie lauerte.
Eine gefühlte Ewigkeit später kam Targon schweratmend zu ihr zurück. Die schwarzen Haare klebten wie Schlingpflanzen um sein verschwitztes Gesicht und nahmen es in ihren Besitz. Mit einer Bewegung seines Unterarms wischte er sie fort. Dabei hielt er immer noch sein Schwert in der Hand, das feucht in dem flackernden Schein des Lagerfeuers aufglänzte. Hannah schluckte unwillkürlich. Nicht nur, dass Targon wie ein Krieger aus einer längst vergangenen Zeit aussah, auch der feuchte Schimmer auf seinem Schwert, der von dem Blut ihrer Angreifer herrührte, gab ihr das Gefühl, mitten in einem Albtraum zu stecken. Ihre Kehle schwoll unangenehm zu. Hastig griff sie nach der Wasserflasche und trank daraus. Targon wirkte erschöpft und stemmte das Schwert auf den Boden. Blut lief an der Klinge herunter und tropfte zäh in den sandigen Untergrund, wo es kleine Vertiefungen hinterließ. Ein roter Regen, der Leben genommen hatte und kein Neues brachte. Dann kniete er vor Hannah nieder und forschte in ihrem Gesicht. In seinen dunklen Augen lag etwas, das sie nicht greifen konnte, sie aber seltsam berührte.
»Geht es dir gut? Bist du verletzt? Ich hätte dich vorhin schon danach fragen sollen«, sagte er besorgt.
Hannah schnaubte wütend und schüttelte dann den Kopf.
»Interessiert dich das wirklich? Hat es dich interessiert, ob mir etwas zustoßen könnte, als du mich entführt hast?«
»Es interessiert mich, weil ich dich gesund abliefern muss«, antwortete er mit schmalen Augen, in denen die Sorge wie fortgewischt war. Targon erhob sich steif und ging zu dem schwachen Feuer, in das er ein knorriges Stück Holz warf, das er noch irgendwo gefunden haben musste. Gierig stürzten sich die Flammen darauf. Augenblicklich erfüllte trockenes Knistern die Luft. Dann ging er zu seinem Pferd und kramte aus den Satteltaschen zwei Päckchen hervor. Eins warf er Hannah zu, die es geschickt auffing. Kurz flackerte Schmerz in seiner Miene auf. Doch der Ausdruck war so flüchtig, dass Hannah ihm keine weitere Beachtung schenkte. Auch Targon schien beschlossen haben, sie zu ignorieren, denn er setzte sich auf seine Decke ans Feuer, wobei er ihr demonstrativ den Rücken zukehrte.
Sollte er ruhig beleidigt sein. Schließlich hatte sie nur die Wahrheit gesagt. Wenn sie an die letzten Stunden zurückdachte, stellten sich ihre Nackenhaare auf. Was mochte aus Marina geworden sein und aus Romun? Oder aus dem holländischen Paar? Waren sie auch Opfer dieser Entführung oder womöglich Komplizen gewesen? Unwillig betrachtete sie das Päckchen in ihrer Hand. Ihr Magen knurrte mit Nachdruck. Entschlossen öffnete sie es. Zwei dicke Brotscheiben kamen zum Vorschein, die mit einem stattlichen Stück Käse belegt waren. Augenblicklich lief ihr das Wasser im Mund zusammen, auch wenn sie die Mahlzeit an unzählige Bücher erinnerte, in denen ihre meist mittelalterlichen Helden genau so etwas gegessen hatten. Als sie hineinbiss, musste sie zugeben, dass es im Augenblick nichts Großartigeres hätte geben können. Es schmeckte köstlich, und ihre Übelkeit von vorhin war vergessen. Stattdessen kroch die Kälte der Nacht auf sie zu, und sie fröstelte.
Das Feuer ist nicht weit, flüsterte eine spöttische Stimme in ihrem Hinterkopf. Aber dort saß bereits Targon, dem sie eigentlich aus dem Weg gehen wollte, soweit dies in der jetzigen Situation überhaupt möglich war. Sie hob die Decke auf, die im Trubel des Kampfes heruntergefallen war. Zur Sicherheit schlug sie die Decke aus, bevor sie diese um die Schultern legte. Doch die Decke war dünn und wärmte sie nicht. Inzwischen zitterte sie. Selbst ihre Zähne schlugen leise aufeinander, ohne dass sie es verhindern konnte. Widerstrebend stand Hannah auf und suchte sich auf der anderen Seite des Lagerfeuers einen Platz. Augenblicklich hieß sie eine freundliche Wärme willkommen. Voller Genuss schloss sie die Augen, was ihr gleichzeitig den Anblick Targons ersparte. Doch lange hielt sie es so nicht aus. Vorsichtig spähte Hannah unter halb gesenkten Lidern zu ihm hinüber.
Er saß genauso auf seinem Platz, wie er sich hingesetzt hatte, und starrte scheinbar abwesend ins Feuer. Inzwischen war es ihr jedoch durchaus bewusst, dass Targon trotzdem aufmerksam auf seine Umgebung achtete; jederzeit bereit nach seinen Waffen zu greifen. Ein neuerliches Frösteln lief ihren Rücken herunter, was nicht von der Kälte herrührte. Was mochte er für ein Mann sein, was für ein Leben führen? Das Bild des Kriegers schien gar nicht so verkehrt zu sein. Nie zuvor hatte sie jemanden so kämpfen sehen, außer in Filmen. Und doch hatte er sich in dem Hotel bewegt wie ein normaler Tourist. Wieder stieg Wut in ihr auf, wenn sie daran dachte, wie unschuldig er im Hotel getan hatte. Freundlich hatte er sie angelächelt. All das war nur eine berechnende Maske gewesen. Warum ausgerechnet sie? Warum nicht jemand anderen? War sie so naiv erschienen, dass er geglaubt hatte, mit ihr leichtes Spiel zu haben? Mit fest zusammengebissen Zähen ballte sie ihre Fäuste. Der Erfolg gab ihm Recht, sie war schließlich hier.
Hannah versuchte, sich zu entspannen, aber ihre Hände zitterten, und so grub sie diese in die dünne Decke. Um sie herum herrschte tiefschwarze Nacht. Ihr war trotz des Feuers erbärmlich kalt, und der Hunger wütete jetzt erst recht in ihrem Magen. Die Situation zerrte empfindlich an ihren Nerven und jeder einzelne Muskel war so verspannt, dass es schmerzte.
Ein Knacken ließ sie erschrocken aufspringen und panisch in die Richtung starren, aus der das Geräusch gekommen war. Jetzt zitterte sie am ganzen Körper. Die Panik hatte sie fest in ihrem Griff.
»Verdammt!«, fluchte sie leise und blinzelte heftig, um die Tränen zurückzudrängen, die mit aller Gewalt in ihre Augen strömten.
»Es war nur ein Tier«, erklang Targons dunkle Stimme merkwürdig angestrengt.
Hannah fragte sich, wo sein beiläufiger Tonfall geblieben war. Ein Rascheln und leises Stöhnen verrieten ihr, dass Targon ungewöhnlich laut aufstand. Stur blieb sie stehen. Sie würde sich nicht nach ihm umdrehen.
»Ich denke, wir brauchen heute Nacht keinen weiteren Angriff zu fürchten«, sagte er leise, als er neben sie trat.
Heute Nacht? Hannah nickte verkrampft. Was war mit Morgen? Oder danach? Wer waren die Angreifer überhaupt gewesen und was hatten sie gewollt? Sie sah ja nicht gerade danach aus, als führte sie viel Geld mit sich. Targon räusperte sich und stöhnte wieder leise. Überrascht sah sie ihn nun doch an. Erst jetzt kam ihr der Gedanke, dass er womöglich verletzt worden war. Targon begegnete ihrem Blick ruhig und lächelte diesmal ohne Spott. Stattdessen war er verdächtig blass um die Nase. Hannahs Blick wanderte von seinem Gesicht nach unten und blieb an einem dunkeln Fleck an seiner Seite hängen.
»Oh mein Gott! Du bist verletzt«, schrie sie entsetzt auf. Was war sie für ein Esel? Es hätte ihr doch auffallen müssen! Vorsichtig griff sie nach dem Hemd und öffnete es. Targon ließ es geschehen und sah sie unentwegt dabei an. Vorsichtig ergriff sie ein zusammengefaltetes Tuch, das in dem Hemd steckte, und zog es heraus. Unwillkürlich hielt Hannah erschrocken den Atem an, als sie das schwarze Blut sah, das langsam aus einer Wunde sickerte und über die festen Muskeln auf seinem Bauch lief.
»Darf ich mich erst setzen, bevor du an mir herumfummelst und alles nur noch schlimmer machst? – Die Wunde ist nicht tief, nur unangenehm.«
Hannah vergaß völlig ihre Angst. Am liebsten hätte sie ihm jetzt einen kräftigen Stoß gegen die Wunde verpasst, damit er seinen Spott endlich einmal schluckte.
»Bitte, setz dich ans Feuer, wenn du so ein Weichei bist«, entgegnete sie stattdessen nur spitz.
Mit einem leisen Lachen hockte er sich an das Feuer und schloss die Augen, während sich Hannah neben ihn kniete und das Hemd ganz beiseiteschob, um die Wunde freizulegen. Dabei fiel ihr Blick auf die Anordnung einiger Narben, die sich in seiner rechten Brust befanden. Nur mühsam widerstand sie der Versuchung, sie zu berühren. Woher sie stammen mochten? Doch das ging sie nichts an und gehörte zu seinem seltsamen Leben, das er offensichtlich führte. Sie sollte sich besser auf die Versorgung der neuen Wunde konzentrieren. Eigentlich hatte sie nicht wirklich eine Ahnung, was sie tun sollte. Die Wunde zu säubern und die Blutung zu stillen, schienen ihr erst einmal eine gute Idee zu sein. Angestrengt suchte sie in ihrer Erinnerung. Warum hatte sie nur in diesem lästigen Erste-Hilfe-Kurs nicht richtig aufgepasst?
»Hast du Verbandsmaterial dabei? Jod oder so etwas?«, fragte sie. »Wenn ich dich so sehe, hattest du so eine Begegnung nicht zum ersten Mal. Man sollte also meinen, dass du darauf vorbereitet bist.«
Diesmal lachte Targon laut auf und schüttelte den Kopf, dass die Haare ihm ins Gesicht fielen.
»Nein, ich rechne nicht ständig damit, dass mir jemand nach dem Leben trachtet. Ich habe nichts dergleichen dabei. Nimm mein Tuch und verbinde die Wunde damit notdürftig. Morgen Mittag sollten wir unser Ziel erreichen. Bis dahin komme ich klar. Die Wundärzte werden sich dann um mich kümmern.«
»Wundärzte? Das klingt irgendwie nach finsterem Mittelalter. Was genau ist unser Ziel?«
»Das wirst du noch früh genug erfahren«, antwortete er knapp und sah sie abweisend an.
Was hatte sie erwartet? Er war ein Entführer, sonst nichts. Er konnte nicht nett sein, auch wenn das seltsame Flattern in ihrem Bauch immer wieder etwas anderes mitzuteilen versuchte. Vielleicht konnte sie ihn davon überzeugen, sie wieder zurückzubringen, wenn sie ihm jetzt mit der Wunde behilflich war. Entschlossen packte sie ihre Bluse am unteren Saum und riss daran. Doch so einfach, wie es in Filmen gezeigt wurde, war es nicht. Verärgert hielt sie Targon auffordernd eine Hand hin.
»Los, gib mir ein Messer, damit ich ein Stück Stoff abtrennen kann.«
Ohne ein Wort reichte er ihr einen kleinen Dolch, den er mit einer geschickten Bewegung seiner Hand aus der Unterarmmanschette geradewegs in die offene Handfläche gleiten ließ. Hannah wog ihn kurz in der Hand. Für einen Moment überlegte sie ernsthaft, die Waffe gegen Targon zu richten. Doch ein Blick in seine aufmerksamen Augen überzeugte sie davon, es besser bleiben zu lassen. Wenn man mit einem Messer nicht umgehen konnte, machte man es nur zu einer Waffe für den Gegner, hatte ihr Vater immer gesagt. Und daran, dass Targon ihr die Waffe mit Leichtigkeit wieder abnehmen konnte, gab es ohnehin nicht den geringsten Zweifel.
Entschlossen schnitt sie mit der überraschend scharfen Klinge in den Stoff, der bereitwillig nachgab, als hätte er Angst vor der Waffe. Mit einem lauten Reißen trennte sie ein langes Stück ab und schob den Dolch schnell hinter sich. Vielleicht hatte sie Glück und Targon hatte nichts davon bemerkt. Hastig griff sie dann nach der Wasserflasche und goss eine wenig von dem Inhalt auf die Wunde. Beinahe genoss sie es, wie Targon zischend den Atem ausstieß und seine ansehnlichen Muskeln anspannte. Sollte er ruhig Schmerzen haben. Das geschah ihm recht. Erst jetzt konnte sie die Wunde im flackernden Licht des Lagerfeuers betrachten. Ein langer Schnitt zog sich über seine rechte Seite. Die Ränder waren glatt. Behutsam tupfte sie die Wunde mit dem Stück Stoff ab, sorgfältig darum bemüht, ihm keine weiteren Schmerzen zuzufügen. Nur wenig Blut sickerte nach, sodass Hannah erleichtert aufatmete. Targon schien recht zu haben. Die Wunde sah wirklich nicht sehr gefährlich aus, er hatte Glück gehabt. Ein einfacher Verband würde erst einmal ausreichen, um sie vor Schmutz zu schützen. Sie nahm den Dolch und trennte, diesmal geschickter als beim ersten Mal, ein weiteres Stück von ihrer Bluse ab, das sie zusammenfaltete und über den Einstich legte. Blut tropfte auf ihre Hand, doch sie bemerkte es kaum. Wieder steckte sie den Dolch hastig zurück, bevor Targon etwas merken konnte. Als sie nach dem Tuch griff, löste sich von ihrer Hand plötzlich ein feiner, schwarzer Schleier, der jede ihrer Bewegungen schwebend nachvollzog, bevor er nach wenigen Lidschlägen auseinander faserte und sich in der Dunkelheit verlor, als wäre er nie da gewesen. Irritiert blickte Hannah um sich. Was war das gewesen? Targon konnte nichts gesehen haben, er hielt die Augen immer noch geschlossen. Wahrscheinlich spielten ihre Nerven ihr einen Streich, kein Wunder nach den letzten Ereignissen. Sie brauchte dringend Ruhe und sollte zusehen, dass sie endlich fertig wurde. Während sie Targon mit beiden Armen umfasste, wurde sie sich völlig unvermittelt der Nähe seiner nackten Haut bewusst, die einen herben, aber nicht unangenehmen Geruch ausströmte. Schon wieder hob sich ihr Herz unter dem Flattern, das seine Nähe anscheinend unweigerlich auslöste. Hannah beeilte sich, das Tuch einmal um seinen Körper zu winden und machte einen festen Knoten. Erleichtert löste sie sich danach von ihm und betrachtete zufrieden ihr Werk. Dafür, dass sie keine Krankenschwester war, sah der Verband ganz passabel aus. Auf jeden Fall würde er seinen Zweck erfüllen. Targon öffnete die Augen, als sie sich erhob, und sah sie ruhig an.
»Du darfst den Dolch behalten, wenn du versprichst, nicht zu versuchen, mich damit anzugreifen. Es würde dir sowieso nicht gelingen.«
Wütend fluchte sie leise vor sich hin und kehrte zurück zu ihrem Schlafplatz, wo sie versuchte, eine einigermaßen bequeme Position zu finden. Als sie sich endlich auf dem Rücken ausstreckte, die Decke bis ans Kinn gezogen hatte und in den sternenklaren Nachthimmel über sich starrte, hörte sie noch ein leises: »Danke, Hannah.«
Zufrieden lächelnd fiel sie bald darauf in einen unruhigen Schlaf. Den seltsamen Schleier hatte sie längst vergessen.
»Wenn wir die Felsen verlassen, reitest du wie der Teufel in die Wüste hinein. Egal was auch passiert, sieh dich nicht um und reite einfach weiter, als würde dein Leben davon abhängen. Es werden uns Reiter entgegenkommen. Erst bei ihnen bist du in Sicherheit.« Targon sah Hannah durchdringend in die Augen, als wollte er damit seine Worte noch unterstreichen. Und wenn Hannah die ausgewachsene Panik in ihrer Brust bedachte, gelang ihm das auch hervorragend. Ihr Mund war völlig ausgetrocknet, dabei hatte sie gerade beinahe eine ganze Wasserflasche ausgetrunken. Hannah stopfte ihre Hände in die Hosentaschen, um das Zittern darin zu verbergen. Er sollte nicht merken, wie groß ihre Angst war. Also bemühte sie sich um einen gleichgültigen Gesichtsausdruck, der ihr jedoch fürchterlich misslang. Fast augenblicklich, als sie die Augen geöffnet hatte, war ihre Panik zurückgekehrt. Während sie sich aus der Decke gequält hatte, war Targon längst damit beschäftigt gewesen, die Pferde zu versorgen. In dem Feuer lag eine verbeulte Blechkanne, deren Inhalt sich traumhafterweise als Kaffee entpuppte. Jetzt stand sie vor ihm und wusste nicht, was auf sie zukam, außer, dass es nichts Gutes sein konnte.
Targon nahm das türkisfarbene Tuch, das er ihr geschenkt hatte, und schlang es mit geschickten Griffen um ihren Kopf. In wenigen Augenblicken hatte er ihr eine Art Turban gezaubert und steckte ein herunterhängendes Stück so vor ihr Gesicht, dass nur noch ihre Augen unbedeckt blieben.
»Das wird dich vor der Sonne und dem heißen Wind schützen. Um den Rest werde ich mich kümmern. Dir wird nichts geschehen.«
»Was ist mit dir?«, fragte sie, kein bisschen beruhigter, und ärgerte sich darüber, dass sie sich tatsächlich Sorgen um ihn machte.
Targon löste ein schwarzes Tuch vom Sattel seines Pferdes und band es sich selbst um den Kopf.
»Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen, ich bin es gewohnt, mich allein durchzuschlagen.«
Hannah schluckte verkrampft, als seine Augen sich auf sie richteten. Konnte sie so schon kaum den Blick von ihnen losreißen, schienen sie jetzt von unglaublicher Intensität, die sie verwirrte und nicht mehr losließ. Seine langen dichten Wimpern umrahmten die Augen dabei wie weiche Federn und verliehen dem harten Ausdruck darin eine Glut, die von innen heraus loderte. Abrupt wandte Hannah sich ab, um sich von dem verwirrenden Anblick loszureißen. Er brauchte nicht zu bemerken, welche Wirkung er bei ihr erzielte.
»Du schaffst das schon«, sagte er, als hätte er ihre Reaktion falsch gedeutet. »Du wirst bald in Sicherheit sein, das verspreche ich dir.«
»Dann bring mich nach Hause, denn sonst erzählst du mir doch nur Lügen«, flehte sie und drehte sich wieder zu ihm herum.
»Dafür ist es zu spät.« Targon schüttelte den Kopf und ergriff die Zügel seines Pferdes. »Kimon ist schnell und wird dich immer in die richtige Richtung tragen. Alles, was du tun musst, ist im Sattel zu bleiben.«
Unsicher ließ Hannah den Blick über die schmale Brust ihrer Stute gleiten. Sie wirkte so zerbrechlich.
»Los, mach schon – rauf mit dir«, forderte er sie auf.
Ängstlich biss sie sich auf die Lippen. Wenn sie doch bloß die geringste Ahnung hätte, worum es hier überhaupt ging. Zumindest lag ihm im Moment ihre Sicherheit noch am Herzen. Es half alles nichts. In gewisser Weise vertraute sie ihm, und es gab wahrscheinlich wirklich keinen anderen Weg als den, der jetzt vor ihr lag. Ergeben griff sie nach den Zügeln, legte sie Kimon über den schwanengleich gebogenen Hals und zog sich in den Sattel. Das Tier schüttelte leicht seinen Kopf und tänzelte auf der Stelle. Selbst die Stute war unruhig und schien nur darauf zu warten, endlich loslaufen zu dürfen. Hannah packte die Zügel fester und schloss ihre Schenkel um das Tier. Kimon schnaubte leise, seltsamerweise hatte das Geräusch einen tröstlichen Klang. Hannah klopfte ihr dankbar den Hals.
Währenddessen schwang sich Targon mit einer geschmeidigen Bewegung auf den Rücken seines Hengstes.
»Los geht’s – Viel Glück, Hannah. Ich werde dicht bei dir bleiben.«
Targon schien sie aufmunternd anzulächeln, soweit sie dies seinen Augen entnehmen konnte. Dann griff er in ihre Zügel und trieb sein Pferd an. Nebeneinander ritten sie wortlos durch die Schlucht, die immer spitzer zulief und deren Ende jetzt schon deutlich zu sehen war. Hannah spürte, wie ihre Anspannung stieg, je näher der Ausgang kam. Ihre Hände umschlossen verkrampft die drahtigen Haare der Mähne, und ihre Augen huschten hin und her, immer auf der Suche nach einer unbekannten Gefahr. Sie schwitzte unsäglich, obwohl die Schlucht noch im Schatten der Morgensonne lag. Ihre Hände taten bereits weh, so sehr hatte sie sich verkrampft. Doch alles war vollkommen ruhig. Targons Vorsicht schien unbegründet zu sein und damit auch ihre vermaledeite Angst, die mit jedem schmerzhaften Herzschlag wie eine Welle durch ihren Körper und ihren Verstand schoss und ihn lähmte. Das musste sie sich dringend abgewöhnen. Sie durfte sich nicht von ihrer Angst steuern lassen. Hannah zwang sich, die verkrampften Hände ein wenig zu lockern, und wie zur Bestätigung, dass alles friedlich war, schoss ein Hase aus seinem Versteck über ihren Weg. Beinahe im selben Augenblick klatschte Targon mit ganzer Kraft seine Hand auf die Kruppe ihres Pferdes, sodass das Tier einen entsetzten Sprung nach vorne machte und mit einem schrillen Wiehern losgaloppierte. Hannah krallte verzweifelt erneut ihre Finger in die Mähne und benötigte ihre gesamte Kraft, um nicht aus dem Sattel zu stürzen. Das Tier schoss wie eine Pistolenkugel aus der Schlucht hinaus, die pfeilschnell ihren Lauf verließ. Hannah beugte sich tief über den Hals, während Kimon sich bei jedem einzelnen machtvollen Sprung streckte. Heiße Luft schlug ihr entgegen. Die Strähnen der Mähne peitschten über ihr Gesicht, das sie immer tiefer neben dem breiten Hals der Stute vergrub. Trotzdem nahm sie eine Gruppe Reiter wahr, die mit lauten Schreien auf sie zukamen. Hannah keuchte erschrocken auf. Die Reiter waren bis an die Zähne bewaffnet und ritten in halsbrecherischem Tempo über den harten Wüstenboden. Wo war Targon? Verzweifelt drehte sie den Kopf, um nach ihm Ausschau zu halten. Wie versprochen, war er dicht hinter ihr und holte gerade mit seinem Schwert aus, um mit dessen flacher Seite ihr Pferd anzutreiben. Seine rauen Rufe trieben beide Tiere zusätzlich an. Hannah richtete ihre ganze Konzentration wieder auf die Ebene vor sich. Sie flog förmlich über den heißen Sand, und wären die Reiter nicht gewesen, hätte sie jeden einzelnen Augenblick davon genossen. Die Wüste erstreckte sich wie ein sandfarbenes Meer vor ihr, dessen Wellen erstarrt ihre Verfolgungsjagd beobachteten. Die keuchenden Atemzüge des Pferdes vermischten sich mit ihren eigenen kurzen Atemzügen. Schaum flog zu beiden Seiten auf und blieb an ihren Haaren und ihrer Kleidung hängen.
Ein Schrei riss sie aus ihrer Trance. Die Verfolger waren näher gekommen. In ihren Schreien klang bereits Triumph mit. Plötzlich wurde einer der Reiter von einer unsichtbaren Kraft aus dem Sattel geworfen. Targon galoppierte nun an ihrer Seite, die den Angreifern zugewandt war. Die Zügel seines Pferdes flatterten locker um dessen Hals, während er mit einer Hand etwas aus seiner Unterarmmanschette zog, das er auf einen anderen Reiter schleuderte. Erneut stürzte ein Mann aus dem Sattel und fiel einem seiner Kameraden vor das Pferd. Während sein Reittier unbeeindruckt weiterlief, strauchelte das andere Tier auf dem weichen Körper und überschlug sich, dass die Unglücklichen in einer Staubwolke verschwanden. Die anderen Reiter sprengten weiter auf sie zu, als kümmerte sie das Schicksal ihrer Kameraden nicht.
Gleich haben sie mich, schoss es Hannah kristallklar durch den Kopf. Ihr Blick nach vorne zeigte ihr zwar, dass sich von vorne eine große Staubwolke näherte, in der sie bereits einzelne Reiter erkennen konnte, doch sie würden sie nicht mehr rechtzeitig erreichen. Schräg von vorne schoss ein Reiter auf sie zu, der nur noch wenige Galoppsprünge von ihr entfernt war. Er kam in einem spitzen Winkel, dadurch ritt Hannah ihm genau in die Arme. Entschlossen zerrte sie an den Zügeln und rammte Kimon, die Fersen in die Seite, um dem Angreifer auszuweichen. Die Stute schlug widerspenstig mit dem Kopf, dass die Zügel ihren schmerzenden Fingern entglitten. Hannah schloss entsetzt die Augen, riss sie aber sofort wieder auf. Was, wenn Kimon sich in den Zügeln verhedderte? Entschlossen beugte sie sich so weit wie möglich auf und hangelte nach den Zügeln, bis sie das Leder endlich zwischen den Fingern hielt. Gleichzeitig registrierte sie, wie nahe der Angreifer jetzt war. Entsetzt hielt sie den Atem an, als er sein Krummschwert über seinen Kopf hob und zum Schlag ausholte. Jeden Augenblick musste er sie damit treffen. Doch da schoss wie ein Blitz Targon nach vorne. Tief über den Hals Radschams gebeugt ritt er auf den Angreifer zu und rammte ihn in vollem Galopp.
Hannah schrie aus Leibeskräften, als beide Pferde aufeinanderprallten. Das Klirren der Schwerter und das schmerzvolle Wiehern der Pferde erfüllte die Luft, als beide Tiere samt Reiter in einem wirbelnden Durcheinander aus Mensch und Tier übereinander rollten. Targon! Hannah schnappte verzweifelt nach Luft. Sie war so betäubt, dass sie gar nicht bemerkte, wie die Gruppe der entgegenkommenden Reiter sie erreichte, ein Mann geschickt die Zügel von Kimon ergriff und ihren Lauf abbremste, bis sie in einen langsamen Trab fiel, dann in Schritt, um schließlich mit hängendem Kopf und bebenden Flanken stehen zu bleiben. Von beiden Seiten schoben sich jetzt Reiter neben sie, während sich eine andere Gruppe löste und an ihr vorbeijagte. Hannah war völlig erschöpft und unendlich dankbar, als Kimon endlich stand. Sofort drehte sie sich im Sattel herum und hielt nach Targon Ausschau.
Die Reiter, die an ihr vorbeigesprengt waren, versperrten ihr die Sicht. Nur beiläufig bemerkte sie, dass die restlichen Angreifer bereits die Flucht angetreten hatten. Es interessierte sie nicht. Ihr Herz schlug dumpf bis in ihre Kehle hinauf, während sie darauf wartete, irgendetwas erkennen zu können. Die Augenblicke tropften zäh und endlos dahin, in denen zuerst Targons Pferd langsam zwischen den Reitern erschien. Hannahs Herzschlag setzte aus, doch dann jubelte sie hemmungslos auf, als sie eine schwarz gekleidete Gestalt erkannte, die sich hinter einem Reiter in den Sattel schwang und gemeinsam mit der gesamten Gruppe auf sie zukam.
Der Mann lehnte sich erleichtert zurück und atmete auf. Targon ging es gut.
Von Neugier getrieben, mehr über die Vergangenheit Targons zu erfahren, blätterte er wieder zurück. Er überflog die schwungvolle Schrift und las, wie Targon von Maruk zu einem Krieger ausgebildet wurde. Immer wieder wunderte er sich darüber, dass Maruk dies heimlich tat. Nahezu täglich schlichen sie sich aus der Burg, um unbeobachtet im Garten zu trainieren. Targon wurde zu einem lautlosen und schnellen Schatten, der seinen Gegner niederrang, bevor dieser ihn überhaupt wahrnahm. Das Band, das beide miteinander verband, wurde von Seite zu Seite enger.
Ein dumpfes Gefühl breitete sich in dem Mann aus. Welchen Zweck verfolgte Maruk? Von Sorge getrieben blätterte er weiter, bis er sich in den Zeilen verlor:
Targon hockte in einem dichten Haselnussstrauch, den Blicken jedes zufälligen Beobachters verborgen, und sah mit zusammengekniffenen Augen auf das Gehöft, das sich unterhalb seiner Position in ein langgestrecktes grünes Tal schmiegte. Die Sonne hatte sich noch nicht über die sanften Berge erhoben, doch ein feiner Strahlenkranz schob sich bereits in den Himmel, als kundschaftete er den Weg aus. Der Morgendunst zerteilte sich unter der Kraft der Strahlen, verflüchtigte sich und ließ die vereinzelt daliegenden Gehöfte unwirklich erscheinen.
Targon seufzte schwer. Das Bild war von so unglaublicher Friedlichkeit, als könnte nichts diesen Tag beschmutzen. Und doch war ausgerechnet er selbst derjenige, der diesem Tag seinen Stempel aufdrücken würde und ihn bereits in diesen frühen Morgenstunden mit seinem Vorhaben verdarb. Mit leicht zitternden Fingern wischte Targon sich über die Stirn. Trotz der frischen Luft war ihm heiß. Sein Magen knurrte fürchterlich, aber er hatte in Anbetracht seines Auftrages keinen einzigen Bissen hinunterbekommen.
Sein erster Auftrag! Targon spuckte wütend auf den Boden zu seinen Füßen. Das war also das Vermächtnis Maruks. Dafür hatte er ihn all die Jahre so gründlich ausgebildet, damit er nahtlos in seine Fußstapfen treten konnte, wenn er sich auf und davon machte. Die Wut trieb Targon noch mehr Hitze ins Gesicht. Er fühlte sich verraten. Maruk hatte wissen müssen, was der König mit ihm vorhatte und hatte es ihm verschwiegen. Genau, wie er ihm sonst auch alles von sich selbst verschwiegen hatte.
Mit zitternden Fingern überprüfte er den Sitz der Dolche in seinen Unterarmmanschetten zum wiederholten Male. Doch alles war, wie kurz zuvor, so wie es sein sollte.
Natürlich. Wie sollte es auch anders sein? Targon schnaubte bitter auf. Maruk hatte ihn konditioniert wie einen Hund. Alles war in Fleisch und Blut übergegangen. Selbst im Schlaf griff er blitzschnell nach seinen bereitliegenden Waffen, als gäbe es für ihn keinen sicheren Moment. Und den gab es auch nicht mehr. Nicht für ihn und nicht für die Personen, deren Namen in des Königs Aufträgen genannt wurden.
Targon streckte die Hände von sich und betrachtete sie. Ob Maruk jemals gezittert hatte? Sicher nicht, Maruk war nichts anderes als ein Killer gewesen. Sein Herz zog sich verkrampft zusammen, und er ließ die Hände wieder sinken. Es hatte keinen Sinn, länger darüber nachzudenken. Nervös fuhr er sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Der Hof lag immer noch verschlafen da, die Gelegenheit konnte günstiger nicht sein. Entschlossen erhob er sich aus seinem Versteck und huschte, die Schatten der umliegenden Bäume und Sträucher für sich nutzend, in das Tal hinab. Kein Geräusch war zu hören, nur der dumpfe Schlag seines Herzens. Als er sich mit dem Rücken an die Wand des Stalles lehnte, ließ seine Unruhe nach. Seine von Maruk trainierten Instinkte gewannen die Oberhand, und seine Gefühle sanken in unbekannte Tiefen, von wo sie keine Macht mehr auf ihn ausübten.
Aus dem Stall drang leises Gegacker, und ein schmaler Lichtstrahl fiel durch eine Ritze der hölzernen Wand. Targon tastete sich vorsichtig daran entlang, bis er vor der halboffenen Tür stehenblieb. Konzentriert lauschte er. Die Geräusche erzählten ihm von dem Leben im Stall. Die Tiere erwachten langsam und ein Klappern verkündete, dass jemand bei ihnen war.
Der Bauer war bereits bei der Arbeit.
Targon griff nach einem schlanken Wurfmesser und spähte durch die Tür. Jemand stand zwischen den Kühen, die nebeneinander aufgereiht in schmalen Ständern standen und ihm das Hinterteil entgegenstreckten. Beruhigendes Gemurmel drang zwischen den Kühen hervor. Targon konnte nicht erkennen, wer dort stand. Lautlos huschte er in das Innere und duckte sich in einen leer stehenden Ständer. Der Geruch von frischem Stroh kitzelte in seiner Nase. Ein Pony schnaubte leise von nebenan, als es ihn neugierig beäugte. Nach wenigen Augenblicken wandte es sich wieder seinem Heu zu. Inzwischen hatte der Bauer mit dem Melken begonnen. Ein rhythmisches Zischen ertönte, als der warme Strahl in den Eimer traf. Jetzt war der richtige Augenblick. Der Bauer war in seine Arbeit vertieft. Targons Finger schlossen sich fester um den Griff des Wurfmessers. Dann verließ er sein Versteck und ging auf leisen Sohlen auf die Kühe und den Bauern zu. Keinen Moment länger würde er noch warten können. Er musste dies hier einfach hinter sich bringen.
Doch von einem Augenblick auf den anderen geriet die Welt aus den Fugen, als die Gestalt zwischen den Kühen sich überrascht auf ihrem Schemel herumdrehte und aufsprang. Der Holzeimer fiel klappernd um, vergoss seinen kostbaren Inhalt in das Stroh und rollte der Kuh zwischen die Beine, die den Kopf hochriss und erschrocken aufbrüllte.
Targon fluchte. Vor ihm stand eine junge Frau, die ihn aus angstvoll geweiteten Augen anstarrte und erstickt aufschrie, als ihr Blick auf das Messer in seiner Hand fiel. Sein Herz setzte für einen Wimpernschlag aus, als er instinktiv reagierte.
»Lasse niemals einen Zeugen zurück.« Die Mahnung Maruks jagte durch seinen Verstand, als auch bereits das Messer wie ein Pfeil seine Hand verließ und auf die Frau zuschoss; ihr das Leben stahl, noch bevor ihr schlanker Körper haltlos in das Stroh sackte.
Erneut brüllte die Kuh auf, die jetzt voller Angst an ihren Stricken zerrte und mit den Hufen stampfte. Der ganze Stall geriet in Panik. Targon sah sich gehetzt um. Er war unvorsichtig gewesen und hatte eine Unschuldige getötet. Ein nicht wieder gut zu machender Fehler.
»Mira? Ist alles in Ordnung?«
Verdammt! Targon wirbelte herum und duckte sich. Ein großer Mann stand in der offenen Stalltür. Das Gesicht war gegen die aufgehende Sonne in seinem Rücken nicht zu erkennen, die jedoch ohne Erbarmen das kleine Mädchen anstrahlte, das sich verschlafen in die Arme ihres Vaters kuschelte.
Targons Gedanken wirbelten durcheinander. Noch konnte der Bauer ihn nicht sehen. Die unruhigen Kühe verbargen ihn vor dessen Blicken. Doch es konnte sich nur um Augenblicke handeln, bis er zwischen die Kühe trat und die Frau entdeckte.
»Mira? Wo bist du, Mira?«
Der Bauer rückte behutsam das Kind in seinen Armen zurecht und trat nun ganz in den Stall. Die Sorge fraß sich durch seine Stimme, und auch das Kind begann nun leise zu weinen. Targon duckte sich noch tiefer und sah durch die Beine der Kuh, wie der Bauer in seine Richtung kam. Sein Magen ballte sich schmerzhaft zusammen, als er begriff, dass ihm nun nicht mehr viele Möglichkeiten blieben. Verzweifelt presste er die Lippen zusammen und machte sich bereit. Es gab kein Zurück mehr.
*
Als er Minuten später aus dem Stall trat, zitterte er am ganzen Körper. Er fühlte sich schwach, und Übelkeit wühlte mit groben Fingern in seinen Eingeweiden. Targon taumelte und fiel nur wenige Schritte vor der Stalltür auf die Knie und übergab sich. Ein Fehler, ein dummer Fehler und er hatte getötet, ohne dass es einen echten Grund gegeben hatte. Erneut krampfte sich sein Magen zusammen. Bittere Galle füllte seinen Mund. Die Bilder, die er aus dem Stall mitgenommen hatte, schnitten tiefe Wunden, die nicht zu heilen waren und die ihn mit Schmerz erfüllten, für den es keine Worte gab.
Er sollte den Mann töten. Das war sein Auftrag gewesen. Nicht die Frau, nicht - eine ganze Familie zerstören. Was hatte er getan?
Targon krümmte sich wie ein geprügelter Hund. Warum war er wie ein Idiot davon ausgegangen, dass der Bauer die Kühe melkte? Wieso war er nicht sorgfältiger vorgegangen?
Targon setzte sich auf den staubigen Boden und wischte sich erschöpft über den Mund. Im Stall war inzwischen alles ruhig, die Tiere hatten sich beruhigt. Dennoch wagte er keinen Blick in die Dunkelheit des Stalles, die zu viel von seinen eigenen neuen Abgründen verbarg. Darauf hatte ihn Maruk nicht vorbereitet. Er hatte ihm alles gezeigt, was man mit Waffen tun konnte. Aber er hatte ihm das Entscheidendste dabei weder erklärt noch beigebracht, geschweige denn überhaupt nur ein Wort darüber verloren.
Was machte man mit seinem Gewissen?
Nach einer Weile rappelte Targon sich mühsam auf, als ein dünnes Weinen die klare Luft mit seiner Verzweiflung erfüllte. Langsam drehte sich Targon um. Das kleine Mädchen tappte mit unsicheren Schritten aus dem Stall, fiel, rappelte sich wieder auf und stolperte weiter. Ihr Weinen war nicht laut, dennoch eindringlich. Targon schluckte. Plötzlich wusste er mit absoluter Sicherheit, was er jetzt zu tun hatte. Und dann verschloss er seinen Kopf vor dem, was geschehen war, und verschloss sein Herz. Nie wieder würde er solchen Schmerz zulassen.
Entsetzt starrte der Mann auf das Buch. Schwer lag es auf seinen ausgestreckten Beinen, als wäre es ein Fels. Plötzlich kam die Wut in ihm hoch, die er bereits verloren geglaubt hatte. Er hätte all das verhindern können, wäre er nur nicht in dieser verdammten Höhle gefangen. Stattdessen saß er hier herum, mit nichts als diesem Buch, das ihm Albträume bescherte und ihm auf grausame Weise vorführte, wie er nichts ändern konnte an dem, was geschah. Er hatte seine Chance gehabt und hatte diese damit vertan, der Macht und dem berauschenden Gefühl nachzujagen, einfach alles tun zu können. Der Frieden, von dem er geglaubt hatte, ihn gefunden zu haben, bröckelte ab und ließ nur noch Unruhe zurück.