Читать книгу Mit dem Dickkopf in die Freiheit - Klaus Auerswald - Страница 4
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Die folgende Erzählung schrieb ich in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Als Vorlage nutzte ich die Originaldokumente, die im folgendem kursiv gesetzt sind, und die Aussagen Betroffener. Die Hauptpersonen sind mir persönlich bekannt und zählten zu meinem damaligen Freundeskreis. Die fiktiven Passagen, die aus der Sicht und mit dem Wissen von heute verschiedene Zusammenhänge im Nachhinein besser verstehen lassen, brechen die Authentizität nicht.
Diese dokumentarische Erzählung gehört zu jenen unveröffentlichten Dokumenten, wie sie in den Jahren der sozialistischen Diktatur im Untergrund zuhauf entstanden. Es ist verwunderlich, dass nach der Wende so wenige „Untergrundschreiber“ den Mut fanden, ihre Werke zu veröffentlichen. Auch wenn die Werke nicht gerade der Weltliteratur zugerechnet werden können, weil ihre Verfasser in den seltensten Fällen Schriftsteller oder Dichter waren, so sind es doch wertvolle Zeitdokumente, die einer heutigen gesamtdeutschen Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollten. Und dies auch gerade jetzt, da es auf beiden Seiten viele Missverständnisse gibt. Im Osten wird vieles verdrängt oder gar nostalgisch beschönigt, im Westen fehlen oft die Kenntnisse.
Kritik am politischen System der DDR zu üben, war damals nicht ungefährlich. Und das Stellen eines Ausreiseantrages wurde von den Behörden als die gemeinste und hinterhältigste Form der Kritik angesehen, ja als ein Verrat an der Arbeiterklasse. Damit war dieses Vorhaben für die Antragsteller sogar sehr gefährlich Sie gerieten ins Visier der Staatsmacht, wobei sie selbst fatalerweise ein offenes Visier trugen, ja tragen mussten, und obendrein sie sich einer Übermacht gegenüber sahen. Um diese krasse Unverhältnismäßigkeit der privaten und politischen Auseinandersetzung einer ausreisewilligen Familie mit einem rigiden Staat geht es hier in dieser Erzählung.
Das Schreiben an dieser Dokumentation in den achtziger Jahren, also zu tiefsten DDR-Zeiten, war stets mit Angst und Vorsicht verbunden. Niemand durfte davon erfahren, zumindest keine außen stehende Person. Abgesehen davon, dass ich hätte selbst mit belangt werden können, so wollte ich doch in erster Linie, dass das Projekt gelingt. Neben dem heimlichen Schreiben hatte ich auch noch das Problem der Beschaffung der Unterlagen. Um diese „feindliche“ Ausreisegeschichte sauber zu dokumentieren, war es notwendig, die Originaldokumente der staatlichen Stellen zu besitzen, auszuwerten und zu verwenden. Die Protagonisten überließen mir die Originale natürlich nur leihweise. Deshalb mussten sie irgendwie kopiert werden, was damals kompliziert war und auch schon hätte verhängnisvoll ausgehen können. Da man nämlich selbst keine Kopien herstellen konnte und damit auf Fachleute angewiesen war, wurde das Risiko recht groß. Es gab damit Mitwisser. Kopierer waren noch weitestgehend unbekannt, zumindest waren sie dem Normalbürger nicht so ohne weiteres zugänglich. Die wenigen von Betrieben angeschafften Kopierer wurden wie Staatsfeinde behandelt und ständig überwacht. Sie kamen ja auch oft aus dem Westen. Nur mit Schlüssel, Kontrollbuch und Unterschrift war es einem autorisierten Betriebsangehörigen möglich, eine dienstliche Kopie zu fertigen. Dieser Weg war also für meine privaten Zwecke ausgeschlossen, zumal es sich ja auch noch um brisante Ausreisedokumente handelte. Für mich blieb nur noch eine Möglichkeit, die Fotokopie. Da ich selbst kein entsprechendes Equipment hatte und auch kein Fotograf war, brauchte ich einen Fotografen. Der war dann ein Mitwisser. Und würde der vertrauenswürdig sein? Ich wandte mich an einen Arbeitskollegen von der Universität Leipzig, der ein Fotolabor für wissenschaftliche Zwecke betrieb. Ihm musste ich vertrauen! Es ging gut. Der Kollege erwies sich als integer. Aber er wurde ja auch nicht befragt. Was hätte er der Stasi erzählt, wenn er in deren Fänge geraten wäre? Vielleicht hätte er da nicht mehr dichtgehalten. Hätte er meinen Namen genannt? Nur wenige widerstanden der Stasi. Es hätte allerdings in diesem Fall auch keinen Sinn gehabt, meinen Namen zu verschweigen. Über den Inhalt der Dokumente wären sie sowieso irgendwie auf mich gekommen.
Und wenn sie mich „hochgezogen“, also in die Mangel genommen hätten? Hätte ich dichtgehalten und den Fotografen nicht verraten? Wie hätte ich die Existenz der Fotokopien erklären sollen? Sicher war auch für die Stasi schnell herauszufinden, dass ein Fotograf sie hergestellt haben musste. Ich half mir mit einer fiktiven Geschichte, mit einer Person in meiner Umgebung, die schon verstorben und deren Wohnung schon lange aufgelöst worden war. Dieser dichtete ich in meinen Gedanken eine Dunkelkammer an und entsprechende Fachkenntnisse. Ich erzählte auch anderen Leuten davon, dass jener Tote mir damals ab und zu irgendwelche Bilder entwickelt hatte. Diese Story erfand ich nicht, um mich zu schützen, sondern den Fotografen. Vermutlich wäre ihm aber auch nicht allzu viel passiert, wenn die Mithilfe und die Mitwisserschaft ans Licht gekommen wäre. Unannehmlichkeiten, Gewissenskonflikte, eine Akte bei der Stasi, alles nicht so schlimm, aber trotzdem schon unangenehm für einen sonst unbescholtenen Bürger. Vor allem hätte es disziplinarische Konsequenzen seitens des Betriebs geben können, da das Fotomaterial Volkseigentum war; also war durch die Nutzung zu privaten Zwecken der Tatbestand des Diebstahles am Volkseigentum erfüllt. Auch keine große Straftat, das kam andauernd vor. Aber trotzdem wollte ich natürlich den Fotografen für seine Freundlichkeit nicht auch noch schädigen. Also diese Lüge, mit dem verstorbenen Mitwisser, hätten sie mir abnehmen müssen. Aber es kam ja niemand, die Stasi war ohne Kenntnisse.
Und dann wurde es doch noch brenzlig: Eines Tages hatte mein Freund Bernd die „tolle“ Idee, mit einem selbst angefertigten Plakat am helllichten Tag durch Leipzig zu laufen, auf dem zu lesen war: „Freiheit für Rudolf Bahro“. Bahro, SED-Parteisekretär in Berlin, uns inzwischen allen gut bekannt, saß damals lange ohne Prozess in DDR-Haft, da er sein Buch „Die Alternative“ im Westen veröffentlicht hatte. Es war eine bissige Abrechnung mit dem DDR-Staat und gleichzeitig der Vorschlag eines anderen Weges zum Sozialismus. Bernd, mit guten Kontakten nach Westdeutschland, hatte sich dieses Buch schicken lassen, es gelesen und weiter verborgt. Nun war er, nach der Plakataktion, verhaftet worden und es folgte unverzüglich eine Hausdurchsuchung bei ihm. Seine Frau Ingrid informierte uns noch am gleichen Abend. Mit dem Fahrrad kam sie nachts bei uns an, aufgeregt und aufgelöst. Da weitere Hausdurchsuchungen, unter anderen auch bei mir, nicht auszuschließen waren, begann ich sofort entsprechende Vorkehrungen zu treffen. Noch in der Nacht fuhr ich nach Markkleeberg, um unter anderem das Manuskript zu dieser Erzählung mitsamt den Fotokopien bei einem guten Freund, Spitzname Wurzel, unterzubringen. Das Material verschwand für einige Jahre unter einem Holzstapel hinter seinem Einfamilienhaus. Ein bombensicheres oder besser stasisicheres Versteck! Die Negative steckte ich in eine Nische hinter einem lockeren Ziegelstein im Keller meines Schwiegervaters. Alle Zutaten zu diesem Buch haben auf diese Weise die Wende gut überstanden. Der Fotograf ist letztendlich tatsächlich gestorben, ohne dass er etwas verraten musste. Er nahm unser Geheimnis mit ins Grab.