Читать книгу Mit dem Dickkopf in die Freiheit - Klaus Auerswald - Страница 6

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1. KAPITEL

Am 10. Oktober 1975 begannen die sieben finsteren Jahre der Familie D. Eine Finsternis, die sie hätten vermeiden können, wenn sie das getan hätten, was Millionen DDR-Bürger taten, sich nicht gegen die Staatsmacht auflehnen, sich angepasst verhalten und dort zu leben, wo sie geboren wurden. Sie aber machten Gebrauch von dem elementaren Menschenrecht der freien Wahl ihrer Heimat. Ein Recht, das in der DDR in Vergessenheit geraten war, offensichtlich auch bei den Bürgern dieses Landes, obwohl diese nicht isoliert, auf einem anderen Planeten lebten. Sie hatten den Westen, die freie Welt, in unmittelbarer Nähe. Es gab dank Technik inzwischen Massenmedien, die nicht mehr abgeschirmt werden konnten. Die Bürger hatten die Möglichkeiten, sich über Rundfunk und Fernsehen zu informieren, manchmal auch über das Lesen illegal eingeschleuster Zeitungen. Und sie taten es massenhaft. Doch so sehr sie dies auch taten und sich damit gegen eine Vereinnahmung durch ihren Staat wehren wollten, so sehr sie auch auf der Hut waren, sich nicht manipulieren zu lassen, ebenso so sicher war es, dass Manipulierungen eben doch mit der Zeit fruchteten. Und so erschien Vielen auch in jenen 70er Jahren die Vorstellung unrealistisch, irgendwann einmal nach dem Westen fahren zu dürfen, geschweige denn, dahin umzusiedeln. Schon allein der geheime Wunsch zur Übersiedlung galt als gefährlich und wurde nur von den Dümmsten oder Mutigsten laut geäußert. Aber noch viel schlimmer war, dass die meisten Bürger tatsächlich ein Unbehagen, ja eine Art Verrat bei diesem Thema verspürten, so als handele es sich nicht mehr um ein Menschenrecht, sondern tatsächlich um ein großes Verbrechen. Die jahrzehntelange massive Beeinflussung durch die DDR-Medien und -Institutionen, beginnend bei den Kinderkrippen bis hin zu den Hörsälen der Universitäten, verwandelte dieses Recht und übrigens noch viele andere, in eine quasipolitische Straftat. In diesem Sinne wurde von offizieller Seite auch stets von Verrat, von Klassenverrat gesprochen. Ging ein prominenter Bürger außer Landes, so hatte er die DDR „schmählich verraten“. Vergessen war die Selbstverständlichkeit des Reisens und Ausreisens, so als wäre es Jahrhunderte nie anders gewesen als im „real existierenden Sozialismus“. In weniger als 20 Jahren war es der DDR-Führung gelungen, uralte Rechte in Unrecht zu verwandeln und dabei gleichzeitig vor der Weltöffentlichkeit so zu tun, als gäbe es keine Menschenrechtsverletzungen.

Das Stellen eines Ausreiseantrages war also zu jener Zeit alles andere als üblich, es war geradezu undenkbar, im engsten Sinne des Wortes - undenkbar! Und trotzdem gab es dies ab und zu und wurde im Laufe der 70er Jahre sogar immer häufiger. Keiner der Antragsteller wusste vorher, wie die Behörden, die Staatssicherheit und andere Instanzen auf den Antrag reagieren würden. Und man wusste auch nicht, wie man als Freund, der davon Kenntnis hatte, damit umgehen sollte. Heimlich, hinter vorgehaltener Hand sagten wir es untereinander weiter. Viele bestaunten den Mut jener Leute, aber nicht selten distanzierte man sich auch, eben aus oben genannten Gründen und aus Angst.

Seit 1973 war die DDR Mitglied der Vereinten Nationen und seit 1974 Mitunterzeichner der Charta der Menschenrechte. Gesetzeskraft besaß die Internationale Konvention in der DDR seit dem 14.1.1974. Im Gesetzblatt Teil II Nr.6, vom 26.2.1974 Artikel 12, Absatz 2 heißt es:

Es steht jedem frei, jedes Land, auch sein eigenes, zu verlassen."

Es war sicherlich eine große moralische Stütze für die Familie D., dass sie einen Freundeskreis hatte, auf den sie stets zählen konnte. Einen Freundeskreis, der sich abhob von der Masse der übrigen DDR-Bürger. Es waren allesamt aufgeklärte, diskussionsfreudige Menschen mit politischer Weitsicht, die sich sozial bzw. kirchlich engagierten und sich um die Geschicke der kleinen DDR sorgten. Diskussionsabende und Jugendgottesdienste waren an der Tagesordnung, Namen wie Biermann und Havemann allgegenwärtig. Die Freunde der Familie D. versuchten sich einzumischen, sie nutzten die wenigen Spielräume, immer mit der Stasi im Nacken. Aber an Ausreise dachte bis dahin niemand, bis auf die Familie D.

Am 10.10.1975 ging folgendes Schreiben zur Post, adressiert an den

Rat des Stadtbezirks Nord der Stadt Dresden

Abteilung Innere Angelegenheiten

Antrag auf Umsiedlung in die Bundesrepublik Deutschland (Gießen)

An erster Stelle möchten wir auf das Recht verweisen, daß es uns ermöglicht, unseren Wohnsitz nach eigener Entscheidung frei zu wählen. Dieses Recht ist in der UNO-Konvention über die politischen und zivilen Rechte der Menschen eindeutig fixiert und im Gesetzblatt der DDR Teil Nr.6 zur Ratifikation dieser Konvention, im Artikel 12, Absatz 2 verankert. Die Ratifikationsurkunde zu dieser Konvention wurde von der Regierung der DDR unterzeichnet und bei den Vereinten Nationen hinterlegt. Dies ist Ausdruck dafür, daß sich die DDR zur Anwendung und Einhaltung aller Punkte dieser Konvention verpflichtet. Die Regierung der DDR betont immer wieder vor aller Welt, daß sie Verpflichtungen, die sich aus dem Status der Mitgliedschaft der DDR in der UNO und deren Teilorganisationen für sie ergeben, immer getreu einhalten und erfüllen wird.

Daraus ergibt sich für uns die Erwartung, daß die Behörden und Dienststellen, die unseren Antrag bearbeiten, in einem angemessenem Zeitraum und unbürokratisch unserem Ersuchen stattgeben, da es uns aus noch zu nennenden Gründen, nicht mehr möglich ist und wir auch nicht länger Willens sind, Staatsbürger der DDR zu bleiben. Wir wollen nicht länger in einem Staat leben in dem die Wertschätzung eines Menschen davon abhängig ist in welchem Maße man sich nach vorgegebenen Richtlinien, persönlich und in der beruflichen Tätigkeit, zu der in der DDR bestehenden Gesellschaftsordnung bekennt.

Auf Grund unserer christlichen Weltanschauung, stehen wir der ideologischen Basis, auf deren Grundlage der Sozialismus in der DDR errichtet werden soll, sehr kritisch gegenüber.

Zu dieser kritischen Einstellung bekenne ich mich auch offen innerhalb meines Betriebes und lehne gesellschaftliche Arbeit in der geforderten Form ab, da mir die Arbeit mit jungen Leuten innerhalb unserer Kirche bedeutend wichtiger und notwendiger erscheint.

Auf Grund dieser Tatsachen ergibt sich für mich und meine Familie, die sich in nächster Zeit noch vergrößert, eine schwierige wirtschaftliche Lage die uns an den Rand des Existenzminimums führt, da meine Frau auf Grund des Familienwachstums, auf ihr bisheriges geringes Einkommen (180.-M) verzichten muß und wir uns nicht in der Lage sehen, als vierköpfige Familie mit einem bescheidenem Einkommen von 500.- Mark, einigermaßen normal zu existieren.

Aus den schon weiter oben angeführten Tatsachen und Gründen, wird mir eine berufliche Weiterentwicklung die mit einer Einkommensverbesserung verbunden ist, nicht möglich.

Zu diesem geringen Verdienst bin ich gekommen, weil es mir aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr möglich ist, meine relativ gut bezahlte Tätigkeit weiter auszuüben.

All diese Gründe sowie die allgemeine Unzufriedenheit haben uns dazu bewogen diesen Antrag zu stellen und weil für uns in der Bundesrepublik Deutschland bessere Lebensbedingungen vorhanden sind.

Wir möchten noch darauf verweisen, daß wir mit diesem Schreiben von dem Recht der freien Meinungsäußerung gebrauch machen

gez. Fam. D.

Zur Familie D. gehörten zu diesem Zeitpunkt drei Personen: Manfred (28), Elke hochschwanger (27) und Madeleine (3). Sie bewohnten damals im Jahre 1975 zusammen mit Elkes Mutter ein kleines Einfamilienhaus am Rande Dresdens. Klotzsche hieß der Stadtteil, der weit im Norden der Elbestadt lag, eine organisch gewachsene Vorstadt, mit vielen Mietshäusern, aber auch Villen und Einfamilienhäusern am Rande der Dresdner Heide. Die Straßenbahnlinie Nummer sieben musste leicht aber stetig empor klettern, um diese ziemlich weit entlegene Gegend zu erreichen. Vorbei an hässlichen Russenkasernen und verdreckten Industrieanlagen der Jahrhundertwende schnurrte der neue Tatra-Straßenbahnzug ziemlich hurtig Klotzsche entgegen. An Wiesen und Feldern und dem legendären Truppenübungsplatz „Heller“ vorbei ratterte er fast mühelos bergan. Die Fahrgäste wurden immer weniger, die Straßen immer dunkler, doch plötzlich befand man sich wieder in einer eigenen Ortschaft mit Geschäften, Gaststätten und einem Waldbad, am Rand der Dresdner Heide. Und weiter ging es, noch ein paar Haltestellen, bis man dann irgendwann endlich aussteigen konnte, glücklich nach einer guten Stunde Fahrzeit - vom Zentrum Dresdens aus gerechnet. Lang und kalt war die Fahrt an diesen Abend für die Freunde der Familie D.

„Hallo, da seid ihr ja. Habt ihr euch hergefunden?“, begrüßte Manfred seine Freunde aus Dresden-Trachau, wie immer mit der gleichen albernen Frage, die so etwas wie eine Entschuldigung dafür sein sollte, dass Manfred und seine Frau so abseits wohnten.

„Ja, ja“, alberte Moni mit, „ihr müsst endlich mal vom Dorf wegziehen - in die schöne Innenstadt.“ Ihr Spott über die „schöne“ Innenstadt war nicht zu überhören. Denn schon lange ersehnten sie und ihr Mann sich auch so ein Randparadies.

Die drei liefen den etwas buckligen Plattenweg entlang, um die Ecke des Hauses herum und traten durch eine niedrige Tür in das Innere. Es war ein kleines Häuschen mit insgesamt fünf Zimmer, unten zwei, oben drei. Oben wohnte Elkes Mutter, die jedoch nur zwei Zimmer benutzte, sodass noch ein kleines Kinderzimmer heraussprang. Es reichte also für die dreiköpfige Familie gerade noch so aus; sie hatten zur Zeit ja nur ein Kind. Das Wohnzimmer der Familie D. war modern bis praktisch eingerichtet, ausgelegt für viele und häufige Besucher. An der Wand hing ein Plakat: „Haare“ - ein Jugendgottesdienst in der Weinbergskirche.

Das Zimmer war voll. Etwa acht Freunde waren schon da. Händeschütteln, „Hallo“ in die Runde, Moni und Peter waren die Letzten.

„Nanu Manfred, was ist denn hier los, gibst wohl ne Party?“, fragte Moni verwundert.

„Na setz dich nur erst mal hin, wirst schon sehen.“

„Mann, machst du’s spannend! Willst uns wohl wieder mal vorführen, dass du Westfernsehen ’reinkriegst.“

„Nö, da hätten wir heut kein Glück. Ist zurzeit total beschissener Empfang.“

Dresden wurde im Volksmund scherzhaft, oder manchmal auch boshaft, als das „Tal der Ahnungslosen“ bezeichnet, da es fast das einzige Gebiet auf dem Territorium der DDR war, wo man kein Westfernsehen empfangen konnte und dies sehr zum Leidwesen der Dresdner selbst. Nur in den höher gelegenen Gegenden war es mit unerhörtem Aufwand und bei günstigen Witterungsbedingungen möglich, etwas vom anderen Äther zu erhaschen. Ebenso stand es auch mit dem UKW-Empfang. Manfred gehörte zu jenen, die diesen unerhörten Aufwand betrieben, um für wenige Momente des Jahres in den ersehnten Genuss zu kommen. Es war tatsächlich für einen Dresdner ein unglaubliches, fast an Republikflucht grenzendes Ereignis, Westfernsehen zu erleben.

Nach einer ganzen Weile allgemeinen Geschwätzes trat Manfred in die Mitte und sagte: „Also passt mal auf Leute, ich will hier nicht lange quasseln, das ist nicht meine Art. Wir wollten euch bloß sagen, dass wir einen Ausreiseantrag gestellt haben ... Natürlich in die Bundesrepublik! Ich lese euch mal gleich den Text vor ...“

„W a s --??“

Erstaunen in der ganzen Runde.

Über die Verhältnisse in der DDR hatte man in diesem Kreis schon zur Genüge diskutiert. Allen war klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Die Unzufriedenheit über die derzeitigen Zustände war bei allen groß. Jedoch war die Konsequenz daraus für jeden eine andere.

Während Manfred las, hörten die Freunde gespannt zu. Mac, ein smarter Junge mit dunkelblonden Haaren, saß mit übergeschlagenen Beinen da und stopfte sich seine Pfeife. Peter und Moni brannten sich jeder eine Zigarette an und reichten dann die Schachtel noch in die Runde. Volker und Martina, ein weiteres Ehepaar, die auch beide rauchten, nahmen das Angebot gern an. Damals rauchten noch fast alle und auch noch unverblümt in den Wohnräumen!

Als Manfred geendet hatte, trat Stille ein. Man schaute sich nicht an. Jeder hing seinen Gedanken nach. Mac, zwei Jahre älter als Manfred, ließ sich noch einmal den Antrag geben. Interessiert und nachdenklich beugte er sich über die zwei Schreibmaschinenseiten, an der dicken, warmen Tabakspfeife kauend. Zu der Ruhe ausstrahlenden Pfeife passten absolut nicht die Augenlider, die immer wieder nervös herunterklappten, so als verstünden sie den Text, ja die ganze Situation nicht. Seine ganze Haltung war unbeweglich, konzentriert.

„He, Mac, gib mir doch auch mal den Antrag“, rief Peter aus der Ecke gegenüber. Mac reichte ihm das Schreiben, ohne ihn anzuschauen, lächelte stattdessen kopfschüttelnd und etwas spitzbübisch Manfred an, der inzwischen auf dem Sessel neben ihm Platz genommen hatte. Manfred konnte mit diesem Blick nichts anfangen. Etwas verunsichert schaute er weg. Obwohl er stets so tat, als interessiere ihn die Meinung anderer nicht, wollte er jetzt doch wissen, was man von all dem hielt. Nicht zuletzt natürlich in der Hoffnung, Zuspruch zu ernten. Vielleicht hoffte er auch ein wenig auf Bewunderung. Er tat auch sonst vieles dafür. Vor allem bewunderten ihn Mädchen. Seine rassige Erscheinung, die durch seinen Oberlippenbart verstärkt wurde, sein athletischer Brustkorb, der durch enge Pullis und Hemden stets betont wurde, die Art des sich Kleidens, popig bis schlampig und sein lässiges, selbstbewusstes Auftreten, dies alles ließ die Mädchen auf ihn fliegen. So gesehen hatte es seine Frau nicht ganz einfach. Aber eine andere Art von Bewunderung kassierte er noch viel öfter, eine Bewunderung, die aus seiner Kaltschnäuzigkeit Vorgesetzten gegenüber resultierte. Nichts hasste er mehr als Beschränkungen seiner persönlichen Freiheit. Und so lag es in seinem Wesen, dass er ständig mit Organen der Staatsmacht konfrontiert wurde und ihn die Nachteile, die er dabei zu spüren bekam, überhaupt nicht störten. Gerade seine Armeezeit verlief störrisch, ebenso sein übriges Leben. Die Bewunderung erntete er von seinen Leidensgenossen, manchmal aber auch von seinen Vorgesetzten, und empfand dabei tiefe Genugtuung.

Frieder B., der Jugendpfarrer, saß im Sessel am Fenster, den Blick in die Weite des Raumes gerichtet. Alle hier Anwesenden gehörten zu seinem Jugendkreis der Weinbergskirche, wo viele Jugendgottesdienste stattfanden, oft mit brisanten und immer mit interessanten Themen. Der Zustrom zu diesen Sonntagsereignissen von Jugendlichen mit typischem Beat- und Popoutfit war gewaltig. Die Band „Test“, zu der unter anderen Peter, Mac und auch Volker gehörten, spielte dazu Beatsongs der Zeit, verschiedentlich auch eigene Kompositionen. Frieder drehte den Kopf, schob die Brille einige Millimeter weiter auf die Nase und schaute Manfred direkt an:

„Mensch, Manfred, habt ihr euch das richtig überlegt ...? Verflixt noch mal, es ist schade um euch. Solche Leute wie euch brauchen wir doch gerade hier. Unbeugsame Menschen sind rar. Wenn alle gehen ändert sich doch nie was!“

Manfred lächelte etwas mitleidig den Pfarrer an: „Ach, Frieder, was willst du denn hier noch verändern. Mich kotzt das hier alles an ...“

„Ja“, fiel ihm seine Frau ins Wort, „und mich auch. Mir steht’s nämlich bis hier“ - sie machte eine typische Handbewegung am Hals - „und jünger werden wir auch nicht ...“

„Na und drüben auch nicht!“, warf jemand gehässig ein. Aber Elke überging die Bemerkung vorerst, obwohl sie betroffen konstatierte, dass es wohl einige Gegner in der Runde geben könnte.

„Vielleicht rackere ich mich für die hier ab, und zu kaufen krieg ich am Ende auch nichts, mal abgesehen davon, dass wir mit dem bisschen Geld, was wir hier verdienen, sowieso nicht auskommen. Drüben, da kann man von der Reklame oder vom Ausverkauf leben, und da lebst du besser, als wenn du hier von früh bis abends schuftest.“

Elke wurde jetzt sehr erregt. Man fühlte, dass sie wirklich die Nase voll hatte und sich überdies über die alberne Bemerkung doch geärgert hatte.

Sie tat Frieder leid: „Beruhige dich nur Elke, ich verstehe dich schon. Nur, das Einkaufen, also das Anhäufen von materiellen Gütern ist doch nicht das Leben, nicht das eigentliche. Darüber waren wir uns doch eigentlich immer einig.“

„Na klar“, fiel da Manfred wieder mit ein, „bloß, ihr müsst bedenken, dass dies zwar nicht das Wichtigste im Leben ist, aber in einem sehr starken Maße notgedrungen zum Leben gehört. Da ist doch noch gar nicht die Rede vom Anhäufen von materiellen Gütern, du Philosoph, es geht um die Dinge des täglichen Bedarfs. Das nervt doch, verdammt noch mal, das ständige Anstehen, Rumrennen, Besorgen, Beziehungen knüpfen ...! Das kennt ihr doch alle auch ...!“

Schweigen. Jeder suchte Argumente.

Frieder saß wieder nachdenklich im schon etwas lädierten Sessel, die Beine übereinander geschlagen, die Fingerspitzen sinnend am Brillenrand. Immer wieder versuchte er, die Brille in die richtige Lage zu bringen.

„Und außerdem“, fuhr Manfred fort, „das ist doch auch gar nicht unser einziges Argument und überhaupt nicht unser wichtigstes. Mensch, was denkt ihr denn, lest doch mal den Antrag, denkt ihr wir würden das hier verlassen, das Häusel, die Mutter, euch hier, unseren Freundeskreis und alles andere, bloß weil wir hier nicht so viel fressen können wie da drüben? Es sind doch die vielen anderen Dinge. Der politische Kram hier an jeder Ecke. Die Unfreiheit, die Reiseverbote, überall die Zwänge ... Mensch, wir können hier nicht mehr frei atmen, versteht ihr das? Schau doch mal in die Zeitung. Ist das nicht alles Scheiße? Wir wollen auch mal reisen, die Welt sehen…“

Kurze Pause, dann räusperte sich Peter, der feine Analytiker, und sagte:

„Manfred mach doch nicht so ein Theater, das ist doch alles klar, das spüren wir doch genauso scharf und deutlich, wie du bzw. wie ihr. Darüber haben wir uns ja schon oft unterhalten. Aber der Unterschied ist eben: Da wir das genauso sehen, bleiben wir gerade hier, um das zu verändern! Man kann doch nicht nur davonrennen. Was soll denn das noch werden, wenn alle gehen?!“ Schwungvolle Gesten mit den Armen betonten die Wichtigkeit dieser Bemerkungen. So diskutierte Peter immer.

Manfred lachte ironisch: „Na, da bleib nur da, kannste ja auch ...“

Und wieder fiel ihm Elke ins Wort, die immer ärgerlicher wurde und auch immer enttäuschter. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Sie hatte damit gerechnet, allen möglichen und unmöglichen Leuten Rechenschaft ablegen zu müssen, überall sich zu erklären, ja sich auch vielleicht irgendwo zu entschuldigen für diesen Schritt, aber niemals hatte sie gedacht, dass zu diesen Leuten auch ihre Freunde gehören würden.

„Weißt du Peter, das finde ich nicht fair von dir. Wir lassen dir ja auch deine Entscheidung, hier zu bleiben. Kannst du ja machen, wie du willst. Und unsere Entscheidung ist es, zu gehen. Kannst du ruhig akzeptieren. Bisschen mehr Verständnis hätten wir von euch schon erwartet!“

Tränen standen ihr in den Augen.

„Nun heul hier nicht rum“, versuchte Manfred dies ein bisschen ins Witzige zu ziehen, auch um damit zu zeigen, dass er an seinen Freunden noch lange nicht zweifle. „Wir reisen trotzdem aus. Und was ich noch dazu sagen wollte“, dabei schaute er zu Peter, „wenn man die Dinge so sieht wie wir - und wie ihr auch, wie du gerade gesagt hast -, dann bleibt man doch nur hier und verändert etwas, wenn man der Meinung ist, es habe noch Sinn - oder? Und für uns hat das hier alles keinen Sinn mehr! Punkt um!“

Volker saß in einer Ecke auf dem Sitzkissen, die langen Beine verknotet. Er war lang und schlank, der Größte hier, aber auch der Jüngste in der Runde. Nicht aus Nervosität, sondern aus einem archaischen Spieltrieb heraus knabberte er genüsslich an seinen Fingernägeln. Sonst hielt er an dieser Stelle eine Gitarre und spielte sie auch vorzüglich. Er war Musiker, hatte einst die moderne Seite dieses Metiers studiert, und spielte, wenn er nicht in der Kirche spielte, zum Tanz. Aufmerksam beobachtete er die Diskussion, die langsam drohte, zum Streit zu werden:

„Passt mal auf Leute“, unterbrach er jetzt einfach irgendjemanden, „ich finde, Elke hat recht, was sie vorhin gesagt hat. Das geht uns nämlich überhaupt nichts an. Das ist einfach eine Entscheidung von Manfred und Elke, und da haben wir überhaupt nicht reinzureden. Es ist nämlich ihr Leben, und wenn die meinen, im Westen besser zurechtzukommen, dann sollten sie dorthin ziehen. Mir tut’s zwar leid, ihr wart dufte Kumpels, aber ich verstehe das und akzeptiere das auch. Außerdem würde ich auch lieber heute als morgen die Ausreise stellen. Ich traue mich bloß nicht. Außerdem will das auch Martl nicht.“

Martl, eigentlich hieß sie Martina, war seine Frau und ein zierliches, kleines Wesen, sodass sie neben dem langen Volker stets wie seine minderjährige Tochter aussah. So war es tatsächlich auch schon einmal vorgekommen, dass er an der Kinokasse gefragt wurde, ob dieses Mädchen an seiner Seite schon 16 Jahre sei. Sie waren damals beide 21 oder 22 und schon verheiratet.

„Und da erscheint mir nämlich eine Frage viel wichtiger“, fuhr Volker fort, „was geschieht denn nun eigentlich weiter? Hast du keine Angst? Wenn die dich nun einsperren? Und auch noch gerade jetzt, wo Elke schwanger ist!“

Manfred lächelte; da war sie wieder, die Bewunderung: „Ach quatsch, wieso sollen die uns denn einsperren? Erstens ist das ein verbrieftes Menschenrecht, was die DDR mit unterschrieben hat und zweitens steht auch nirgends geschrieben, dass man keinen Ausreiseantrag schreiben darf ... Und drittens werde ich denen so viel Ärger machen, dass sie froh sind, mich los zu sein.“

Das sorgte für allgemeine Erheiterung.

„Nein, mal im Ernst, was könnte geschehen. Vorgestern habt ihr das Schreiben abgeschickt?“, fragte Frieder. Manfred nickte zustimmend. „Dann könnten die das heute schon haben.“

„Na ja, wir haben schon ein paar Kontakte geknüpft, aber das darf mal noch keiner wissen. Es gibt da ein paar Leute, die wir zufällig kennen gelernt haben, und die haben da schon weit mehr Erfahrung. Man wird natürlich nicht eingesperrt. Aber man ist nun bekannt. Man kann damit rechnen, dass man observiert wird, eventuell auch der Freundeskreis ...“

„Mensch, vielleicht steht schon einer draußen?“, unterbrach Mac scherzhaft. „Schau doch mal aus dem Fenster!“ Helles Lachen. Elke streifte ebenfalls lachend die Gardine zur Seite und beugte sich weit vor, bis ihre Nasenspitze die Scheibe berührte. Mit der linken Hand schirmte sie das Stubenlicht ab. „Mensch, alles voller Spitzel!“, scherzte sie nun auch wieder mit.

„Wenn die was zu saufen mithaben, sollen sie alle reinkommen“, rief Manfred. „Überhaupt, will jemand was zu trinken haben? Wir können einen Eimer Tee kochen. Was anderes haben wir nicht da.“

Es war nicht unüblich, dass nichts anderes zu trinken da war und keiner hatte es anders erwartet. Keiner der hier Versammelten hatte so viel Geld, dass er die anderen mitbeköstigen könnte. Wünschte jemand dies anders, so brachte er sich etwas mit. Oder es wurde gesammelt und jemand losgeschickt, Bier im Krug zu holen. Durch diese Art und Weise der Treffen im Freundeskreis konnten die Begegnungen öfter stattfinden. Die Ausgaben für die Bewirtung hätten sonst eventuell dazu geführt, dass Zusammenkünfte so lange wie möglich hinausgeschoben worden wären. Geld spielte also keine Rolle. Und dies eben nicht wegen des Überflusses, sondern wegen des Mangels.

Elke ging in die Küche und setzte Wasser auf. „Ja, Leute, und da gibt es auch noch so paar Möglichkeiten“, fuhr Manfred fort, „wie man da noch die Sache beschleunigen kann. Einer erzählte uns von einem gewissen Dr. Vogel in Ostberlin. Der ist Rechtsanwalt, oder so was Ähnliches und kümmert sich um die Leute, die ausreisen wollen. Ich weiß da auch noch nichts Richtiges. Auf jeden Fall fährt der einen dicken Mercedes und pendelt zwischen Ost- und Westberlin hin und her, so als gäbe es keine Mauer.“

„Ja, von dem habe ich auch schon einiges gehört“, meinte da Frieder. „Er ist tatsächlich Jurist und hat einen gewissen Sonderstatus. Er ist praktisch Anwalt zwischen Ost und West und übernimmt Fälle der Familienzusammenführung, zum Beispiel.“

„Ach, das ist ja toll. Verstehe ich nicht richtig“, wunderte sich da Volker, „und das dulden die hier?“

„Na, wieso“, antwortete Frieder, „der ist doch von den DDR-Behörden dafür eingesetzt worden, sozusagen als Vermittler. Er ist ein DDR-Anwalt. Irgendjemand muss doch dann mit den westlichen Stellen verhandeln.“

„Und die haben dem dann auch noch einen Mercedes geschenkt?“

„Na ja, der hat sicherlich dadurch eine Menge Privilegien. Ich weiß nicht, ob er das Auto geschenkt bekommen hat. Auf jeden Fall soll er ja auch wieder zurückkommen. Und da muss es ihm schon so gut gehen. Damit er wieder kommt.“

Moni hatte lange schweigend zugehört. Eine Strähne ihres Haares, die am linken Ohr vorbei herunterhing, zog sie immer wieder nachdenklich durch zwei Finger, den Kopf dabei leicht nach links gebeugt. Sie stellte sich die Zukunft der Familie D. im Westen vor. Sie erschauerte vor der Ungewissheit, vor der man zwangsläufig steht, wagt man solch einen Schritt. Und laut sagte sie zu Elke, die den Tee hereingebracht hatte und dann wieder auf dem Fußboden Platz nahm:

„Elke, ich muss da noch mal nachfragen, habt ihr da überhaupt keine Angst? Ich meine dann drüben. Man liest da ja auch immer viel von Arbeitslosigkeit und so was. Ich meine, ich glaube ja auch nicht viel von dem, was in der Zeitung steht, aber das hört man ja auch von anderen Leuten. Auch von den Westdeutschen selbst, die mal herkommen. Da war jetzt gerade in Trachau in der Kirche eine Gruppe aus Hannover und die erzählten das auch. Das ist schon wahr, die Arbeitslosigkeit gibt’s wirklich.“

„Ach, weißt du, das werden wir schon dann dort sehen. Ich glaube, dass man schon Arbeit bekommt, wenn man es wirklich will. So schlimm wird das schon nicht sein“, antwortete sie unbekümmert. „Und außerdem bekommt man dann immer noch Arbeitslosenunterstützung. Und schlechter als hier kann es uns da auch nicht gehen. Wir sind bescheiden und brauchen nicht viel.“

Der Abend zog sich noch lange hin, wie dies so üblich war. Erst spät in der Nacht verabschiedeten sich die Freunde von Elke und Manfred und schlenderten gemeinsam zur Straßenbahn, die lange, kalte Fahrt bis ins Zentrum von Dresden vor sich. Die Straßenbahn war leer, zu dieser nächtlichen Zeit keine Seltenheit, so dass sie noch lange und laut über die ungeheuerliche Neuigkeit der Familie D. diskutieren konnten.

Mit dem Dickkopf in die Freiheit

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