Читать книгу Sid Schlebrowskis kurzer Sommer der Anarchie und seine Suche nach dem Glück - Klaus Bittermann - Страница 7

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Es war Sids erste illegale Handlung. Auch wenn er von Nancy nicht in ihren Plan eingeweiht worden war, so hatten sie zusammen doch eine Grenze überschritten. Sie waren Gesetzlose. Diese Tat machte ihn zu Nancys Kom­plizen. Unwiederbringlich. So schien es ihm. Sie war ihm nicht mehr fremd. Jedenfalls nicht mehr sehr. Er sah sie mit anderen Augen. Er bewunderte sie für diese Aktion. Dass sie fast schiefgegangen wäre, kümmerte ihn nicht.

Immer wieder lachten sie über die Polizei, die das falsche Auto angehalten hatte, und es war ein befreites Lachen, weil sie wussten, dass sie es einem verrückten Zufall zu verdanken hatten, der sie hatte davonkommen lassen, während Sids Schutzengel auf der Rückbank saß und dachte: Wenn ihr wüsstet! Es hatte ihm eine tiefe Befriedigung verschafft, Herbert Busche ein wenig fernzulenken, und er freute sich darüber, dass es so großartig geklappt hatte. Schließlich konnte er die Geschichte jetzt noch nicht zu Ende gehen lassen. Sie hatte ja gerade mal erst angefangen.

Nancy hatte, kaum war das Sirenengeheul verklungen, bereits vergessen, wie Sid sie auf der Tankstelle dazu gebracht hatte, auf dem Sitz immer tiefer zu rutschen, wie sie ihn als »Volltrottel« verflucht hatte. Nicht zu wissen, wie man tankt, musste man ja auch erst mal schaffen. Und jetzt? Jetzt sah sie das schmale Lächeln in seinen feinen Gesichtszügen, seine großen Augen, die verwirrt und un­sicher in die Welt guckten, und seine langen Wimpern und verspürte das dringende Bedürfnis, von sich zu erzählen.

Wie sie darauf kam, fragte sich Nancy nicht. Vielleicht wollte sie interessant für Sid erscheinen. Vielleicht erschien ihr die Aussicht, die nächsten Stunden schweigend nebeneinander zu sitzen, nicht sonderlich attraktiv. Außerdem hatte sie schon immer gern erzählt. Vor allem, wenn es um sie selbst ging. Also erzählte sie, wie sie als Sechsjährige den Hasen geben musste, der von den Hunden und der Jagdgesellschaft ihres Vaters aufgescheucht und durch das Gebüsch getrieben wurde. Das war aufregend. Sie dramatisierte die Ereignisse im Nachhinein etwas, um Sid zu beeindrucken, aber auch weil sie diesen Vorgang im Abstand von zehn Jahren tatsächlich etwas erniedrigend fand. Damals jedoch fand sie die Sache nicht schlimm. Es war ein Spiel, bei dem sie der Ehrgeiz packte. Aber weil sie immer verlor, hatte sie bald keine Lust mehr.

Einmal war sie schnell auf einen Baum geklettert, während die Jagdhunde unten kläfften. Sie streckte ihnen die Zunge raus. Gewonnen, dachte sie. Aber in diesem Moment legte ihr Vater das Gewehr an und machte »piffpaff«.

»Das giltet nicht«, rief sie aufgebracht vom Baum herunter, aber Viktor von Westphalen lachte nur. Und je mehr er lachte, desto wütender wurde sie.

Natürlich war sie nicht dazu gezwungen worden. Sie wurde dafür sogar bezahlt. Das Geld trug sie in die Eisdiele, in die sie ihren damaligen Lieblingsbruder Harry einlud.

Und sie erzählte, wie sie schon mit zwölf zum ersten Mal abgehauen war. Zusammen mit ihrem dreijährigen Bruder Hardy. Drei Wochen waren sie unterwegs. Bis nach Madrid hatten sie es geschafft. Aber dann machte sie den Fehler, ihrer Mutter Auguste eine Ansichtskarte zu schicken. Das stand damals sogar in der Zeitung.

Im Ton einer Nachrichtenfrau sprach Nancy die Kurzmeldung, die sie auswendig konnte. Durch sie hatte die Außenwelt zum ersten Mal von ihr Kenntnis erlangt:

Eine zwölfjährige Schülerin aus dem nordbayerischen Eibelsdorf, die mit ihrem dreieinhalbjährigen Bruder von zu Hause ausgerissen war, hält sich offenbar in Spanien auf. Die Mutter erhielt jetzt eine in Madrid abgestempelte Ansichtskarte. Darin beschrieb die von unstillbarer Reiselust besessene Zwölf­jährige, sie sei endlich dort, wo sie hingehöre. Es gehe ihr gut, auch ihr Bruder habe kein Heimweh.

»Na? Nicht schlecht, oder?« Nancy sah Sid herausfordernd an.

»Abgefahren«, sagte Sid. »Wie hast du das gemacht?«

»Also, wir haben ja nur in den Grandhotels übernachtet«, sagte Nancy einen schnöselig-angeberischen Ton nachahmend und hob ihre Nase, um Sid wie von oben herab ansehen zu können. »Ich war echt gut.« Nancy senkte das Kinn und sprach mit einer rauhen, tiefen Stimme, die sich nicht sehr überzeugend anhörte: »Hallo, hier spricht Hermine von Hasselroth. Haben Sie ein Zimmer frei? Ich befinde mich in einer misslichen Lage. Unfall. Leider. Beinbruch. Ich liege im Krankenhaus. Morgen schon werde ich operiert. Aber meine zwölfjährige Tochter und mein dreijähriger Junge brauchen eine Unterkunft. Würden Sie die beiden bitte bei sich aufnehmen? Ich würde mich dafür auch erkenntlich zeigen. In spätestens einer Woche werde ich entlassen.«

»Und das hat geklappt?«, fragte Sid.

»Natürlich hat das geklappt«, sagte Nancy, obwohl es nicht immer geklappt hatte.

Manchmal hatte sie auch erzählt, dass ihre Eltern überfallen worden oder in einer geheimen Mission unterwegs seien. Rief sie ein Hotel an, legte sie wie in den Kriminalfilmen ein Taschentuch auf die Sprechmuschel. Nahmen nach ein paar Tagen die Fragen nach ihren Eltern überhand, suchte sie das nächste Hotel auf und umgarnte das Personal, das Mitgefühl für ihre missliche Situation hatte. Manchmal ging es allerdings auch schief. Dann verbrachten die beiden die Nacht auf einer Parkbank oder auf dem Friedhof. Aber das war gefährlich.

Nach ein paar Wochen gab sie ein Lebenszeichen von sich. Eine Postkarte mit dem Prado drauf. Sie war mit fünf Jahren gegen ihren Willen durch den Prado gezerrt worden. Bei dem Aufwand, den ihre Mutter damals betrieben hatte, um ihr großes Kulturgut nahezubringen, würde sie sich bestimmt freuen, dachte sie, auch wenn sie von den üppigen, sich räkelnden Damen in Öl und mit wenig oder nichts an etwas gelangweilt war. Das einzige Bild, das sie beeindruckt hatte und an das sie sich noch erinnern konnte war »Saturn verschlingt eines seiner Kinder«. Endlich mal ein gefährliches Bild von einem Monster.

»Wieso war die Postkarte ein Fehler?«, fragte Sid.

»Weil meine Eltern einen so verdammt langen Arm haben«, sagte Nancy verschwörerisch.

»Einen langen Arm?«

»Ich weiß bis heute nicht, wie die das gemacht haben, aber als ich im Corte Inglés aufgetaucht bin, warteten da schon drei Männer und haben uns mit auf die Botschaft genommen. Und einen Tag später holten uns dann meine Eltern ab«, sagte Nancy.

»Corte Inglés?«, fragte Sid.

»Na, das Kaufhaus in Madrid«, sagte Nancy, die nicht verstand, wie man das nicht kennen konnte.

Was Nancy nicht wusste: Als Auguste von Westphalen die Postkarte aus Madrid erhalten hatte, telefonierte sie mit dem deutschen Botschafter in der spanischen Hauptstadt, Ernst-Otto von Hohenstein. Ein Verehrer von ihr aus früheren Tagen, den sie auf der Hochzeit von Fürst Rainier und Grace Kelly in Monaco kennengelernt hatte, auf die sie zusammen mit ihren Eltern eingeladen worden war. Ohne ihren Mann, der nur Landadel war. Ihr Vater hatte bei dieser Gelegenheit versucht, ihr wieder zu zeigen, welch glänzende Zukunft ihr entgangen war, als sie Viktor von Westphalen geheiratet hatte.

Ernst-Otto von Hohenstein hatte sie unter Alkoholeinfluss zu sich ins Hotel eingeladen, vielleicht sogar ein bisschen verschleppt. Sie hatte nichts dagegen und sich nur der Form halber gewehrt. Hohenstein hatte ihr anschließend den Hof gemacht, aber Auguste war der Seitensprung nicht angemessen erschienen. Sie hatte ansonsten moralisch einwandfreie Vorstellungen von den Werten einer Familie. Und die erlaubten es ihr nicht, auch wenn sie das sehr bedauerte, sich Ernst-Otto von Hohenstein weiter hinzugeben, einem höchst ansehnlichen Mann, der vor allem in Uniform ausgesprochen attraktiv aussah, fast so wie zu k.u.k.-Zeiten, für die sie eine Schwäche hatte.

Ernst-Otto von Hohenstein verwand die Zurückweisung nie. Die Liebe, die er für Auguste empfand, wurde platonisch. Aus verzehrender Leidenschaft wurde Anbetung. Selbst nach dieser langen Zeit, die dieser Vorfall nun schon zurücklag, glühte noch eine gewisse Verehrung, und er bot Madame Auguste von Westphalen, geborene von Ledebur-Hellbach, hocherfreut an, über ihn doch bitte »vollkommen zu verfügen«. Er versprach ihr, seine Kontakte zur spanischen Polizeipräfektur spielen zu lassen.

Auguste von Westphalens Hauptbeschäftigung war es zwar, sich Sorgen zu machen, aber sie ging auch leidenschaftlich gerne einkaufen. In Paris. Oder London. Oder Mailand. Auch im Corte Inglés in Madrid war sie während eines Sommerurlaubs mit ihrer Tochter, die sie auf ihren Expeditionen häufig mitnahm. Bereits mit zwölf kannte sich Nancy in den Nobelkaufhäusern und mit Labels aus. Auguste von Westphalen hatte ihre Tochter infiziert. Dennoch war es nur eine vage Hoffnung, aber was sollte ihre Tochter sonst in Madrid tun?, fragte sie sich. Sie bat Ernst-Otto von Hohenstein, sich doch mal ein wenig im Corte Inglés umzusehen. Er stellte drei Mitarbeiter der Botschaft ab, die sich in der Mode­abteilung für junge Frauen auf die Lauer legten. Und sie mussten nicht lange warten. Nicht mal einen Tag, wie einer der Botschaftsangestellten Nancy fröhlich mitteilte.

Sid war zwar noch nie abgehauen, schon gar nicht ins Ausland, und er hatte auch keinen Vater, der mit dem Gewehr auf ihn zielte, aber dafür einen, der ihn mit Boxhandschuhen in sein Metier einweihen wollte. Und bei jedem Treffer, den Willy Schlebrowski am Kopf seines zehnjährigen Jungen landete, sagte er »Hände hoch! Wann zum Teufel begreifst du das endlich!« Aber Sid begriff es nie, weil Willy einen Schlag in den Magen vortäuschte, um Sid in dem Moment, in dem er seine Deckung aufgab, mit der Rechten einen Schlag auf dem Kopf zu verpassen.

Sid hasste das. Und er hasste seinen Vater. Er hielt trotzdem dicht. Nicht weil er seinen Vater schützen wollte, sondern weil es niemanden etwas anging. Und als er einmal eine Beule davongetragen hatte, wäre es noch idiotischer gewesen, es zu erzählen, weil er dann erst rich­tigen Ärger bekommen hätte, wenn es sich bis zu seinem Vater herumgesprochen hätte. Doch jetzt schienen diese bedrückenden Erinnerungen ihre Macht über ihn zu verlieren. Es kam ihm vor, als stammten seine Erzählungen aus einem Leben, das plötzlich weit weg war und jede Bedrohlichkeit verloren hatte.

»Erinnert mich irgendwie an Charles Dickens«, sagte Nancy.

Sid wusste nicht, wer Charles Dickens war, aber er mochte es nicht, dass jemand angeblich auch so was erlebt hatte. Er erzählte daraufhin eine kleine Episode, die Charles Dickens bestimmt nicht zu bieten hatte, nämlich wie Wanda sich einmal zwischen Willy und Sid geworfen und einen Volltreffer abbekommen hatte, der eigentlich für Sid bestimmt war. Einen klassischen Kinnhaken. Und wie Wanda zu Boden gegangen war und Willy bis zehn gezählt hatte, bevor er seiner halb bewusstlosen Frau auf die Beine half und sich dabei selbst kaum auf den Beinen halten konnte.

Sid erzählte, dass Wanda nach dem K.o. angefangen hatte, sich merkwürdig zu verhalten. Sie beobachtete seither lieber Sternkonstellationen als zu kochen und war vom Einfluss des Mondes auf irgendwie alles überzeugt. Sogar auf den Haarwuchs und auf das Wachstum der Fingernägel.

»Ist ja irre«, sagte Nancy.

»Ja, sie sagte immer ›Fingernägel nur bei Vollmond schneiden. Merk dir das‹, und ich hab’s mir gemerkt. Konnte da gar nichts dagegen tun, aber ich hab mich nicht dran gehalten.«

»Ausprobiert auch nicht?«, fragte Nancy.

»Ja, schon mal, aber da war nichts besonderes zu sehen«, sagte Sid. Vor fünf Jahren habe sie dann Lametta auf ihre Schultern verteilt und sich mit Weihnachtskugeln behängt, sei in den Käfer gestiegen und davongefahren. Wanda sei sogar im Radio aufgetaucht. Im Verkehrsfunk als Warnung vor einem Geisterfahrer. Auch die Lokalpresse schrieb über den Vorfall und titelte »Christbaum hinterm Steuer«:

Eine 51-jährige Geisterfahrerin, mit Christbaumschmuck behängt, war am Heiligen Abend rund 30 Kilometer lang auf der A9 von Trockau bis zur DDR-Grenze unterwegs.

Polizisten stoppten die Fahrerin auf sehr unsanfte Art, nachdem die Frau zuvor mehrere Polizeisperren durchbrochen hatte. Ein Beamter warf einen sogenannten Nagelgurt vor ihr Auto. Die Metallstifte bohrten sich in die Reifen.

Doch bei der anschließenden Kontrol­le trauten die Polizisten ihren Augen kaum: Die Fahrerin war mit allerlei Christbaumschmuck behängt. Außerdem hatte sie ihr Auto »zum Schutz vor Strahlenbeeinflussung« mit einer Tüllgardine drapiert.

Wanda Schlebrowski tauchte in der Nachrichtenspalte noch als »Paradiesvogel« auf, der vehement »Polizeiwill­kür« krächzte, nur weil die Ordnungshüter sie mit dem Verdacht, sie könnte etwas getrunken haben, ins Röhrchen pusten ließen und sie zu einem Arzt brachten, um sie auf ihre Zurechnungsfähigkeit untersuchen zu lassen. Wanda musste am Ende der Prozedur ihre Fahrt mit einem Taxi fortsetzen.

In der Kleinstadt wusste damals jeder, wer sich hinter der »51-jährigen Geisterfahrerin« verbarg. Das war nicht schwer herauszufinden, denn in der Zeitung war von den »Abenteuern der Hausfrau Wanda S.« die Rede. Da blieb wenig Raum für Missverständnisse. Wanda war das peinlich. Sie tat so, als hätte der Vorfall nie stattgefunden. Und Willy legte seinen Arm um Sids Schultern, zog ihn zu sich heran und sagte: »Das bleibt unter uns. Verstanden? Schwör’s!«

Und Sid schwor.

»Ach, deine Mutter war das!«, sagte Nancy. »Ist ja verschärft.«

»Verschärft?« Sid drehte den Kopf zu ihr und sah ein geheimnisvolles Lächeln im Profil. Er versuchte, diese Momentaufnahme in seinem Gedächtnis wie ein Foto aufzubewahren, um es sich immer wieder ansehen zu können.

Sid glaubte, auch etwas mehr Heroisches von sich erzählen zu müssen. Von Herrn Schulz, seinem Deutschlehrer, der SS-Schulz genannt wurde. Der war zwar nie bei der SS, sondern in der Hitler-Jugend. Aber Sid machte da keinen großen Unterschied. Zur Begrüßung, bei der alle aufstehen mussten, deklamierte Schulz jedesmal dramatisch: »Die Weide biegt sich, die Eiche aber bricht.« Dabei sah er Sid an, und der dachte, na gut, dann bin ich eben eine Weide. Es wäre ihm albern vorgekommen, stramm zu stehen. Einmal hatte ihn SS-Schulz nach vorne kommandiert und gesagt: »Hier seht ihr ein degeneriertes Prachtexemplar der heutigen Jugend. So was hätte früher nicht lange überlebt. Na los, Michael Schlappikowski, Brust raus, Bauch rein.« SS-Schulz ließ ein unangenehm schepperndes Lachen vernehmen. Die meis­ten Schüler fragten sich gerade, was degeneriert hieß, als Sid sagte: »Welchen Bauch? Ihren?«

Einen Moment war es still. Dann hörte Sid ein paar unterdrückte Lacher und ein aufgeregtes Füßescharren.

»Soso, da wird jemand auch noch frech«, sagte SS-Schulz und holte ein Heft hervor, in das er die Verweise eintrug.

Seitdem galt Sid als renitent. Und als jemand eines Tages auf das Straßenpflaster vor der Schule in großen Buchstaben gemalt hatte: »Haut dem Schulz ins Mondgesicht«, gehörte Sid zum Kreis der Verdächtigen. Die Schulleitung verhörte ihn, aber Sid sagte immer nur, er wisse von nichts. Von diesem Text wich er nicht ab, und das konnte er sehr gut. Nachweisen ließ sich ihm nichts. Danach sonnte er sich in der Bewunderung, weil nicht wenige in der Schule glaubten, er habe sich an SS-Schulz gerächt. Und warum eigentlich nicht?

»Und? Hast du?«, fragte Nancy.

Sid grinste chinesisch.

»Scheiße«, sagte Nancy, »ich hab keine Ahnung, wo wir hier eigentlich sind.«

Natürlich wusste sie, dass sie in München war. Sie war am Ende der Autobahn Richtung Innenstadt abgebogen und die Leopoldstraße entlanggefahren. Danach verließ sie die Orientierung. In der Nähe eines Taxistands fuhr sie an die Seite, stieg aus und ging zu einem der Wagen. Sid stellte fest, dass sie keine krummen Beine hatte, was ja theoretisch hätte möglich sein können.

Er beobachtete Nancy, wie sie sich lässig an ein Auto lehnte und eine Weile mit einem der Fahrer plauderte. Für Sid sah es so aus, als würden sich die beiden kennen. Sie lachten und gestikulierten. Dann kam sie zurück und sagte: »Süß. Der fährt uns voraus.«

»Wohin?«, fragte Sid.

»Na, zum Hotel«, sagte Nancy.

»Hotel?«

»Vier Jahreszeiten.«

»Vier Jahreszeiten?«

»Heißt so. Warum weiß ich aber nicht. Ich muss mich jetzt auf den Verkehr konzentrieren«, sagte Nancy und konzentrierte sich auf den Verkehr. »Ich hab nämlich bis jetzt immer nur auf Feldwegen geübt, weißt du. Großstadt ist irgendwie ganz anders. Ständig diese blöden Autos überall.«

Sid betrachtete den um sie herumbrausenden Verkehr nun mit anderen Augen und sagte nichts mehr. Zehn Minuten später hielt Nancy direkt unter einer Deutschlandfahne vor den Arkaden des Hoteleingangs. Sie winkte dem Taxifahrer hinterher, der aus dem offenen Fenster zurückwinkte und ihr eine Kusshand zuwarf. Sids Blick schweifte am Gebäude hoch und entdeckte einen kleinen einsamen Balkon aus Sandstein im dritten Stock, flankiert von zwei Statuen in langen Gewändern.

»Wie seh ich aus?«, fragte Nancy.

»Wie du aussiehst?«

»Seh ich gut aus?« Nancy besah sich im Rückspiegel.

»Ich denke schon. Aber was machen wir hier?«, fragte Sid.

»Was macht man wohl in einem Hotel?«, sagte Nancy.

»Aber wir haben doch gar kein Geld, oder?«, sagte Sid.

»Geld? O Gott! Stimmt, wir haben ja gar kein Geld«, sagte Nancy mit aufgerissenen Augen. »Hab ich ganz ver­gessen. Wir müssen ja erst mal eine Bank überfallen.« Sie lachte. Und als Sid sie befremdet anguckte, fügte sie hinzu: »Wer redet denn von Geld? Lass mich nur machen.«

Sie stieg aus, hielt die Autoschlüssel mit spitzen Fingern in die Höhe, ließ sie in die offene Hand eines Hotelbediensteten fallen und sagte: »Das Gepäck ist im Kofferraum.« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie zur Rezeption. Sie zeigte auf einen Sessel in der Hotellobby, in dem Sid auf sie warten sollte. Als sie zurückkam zwinkerte sie Sid zu.

Sid folgte ihr. Er fand das alles grotesk und unwirklich, und ständig rechnete er damit, angehalten und gefragt zu werden, was er hier verloren habe. Unter dieser Voraussetzung war es schwer, selbstsicher und locker zu wirken. Mit seiner Lederjacke kam er sich so auffällig vor wie ein fetter Regenwurm, der sich durch eine Schwarzwälder Kirschtorte hindurchfraß. Wie ein Irokese unter lauter Bankangestellten mit Anzug und Krawatte. Sid war, als würde ihn jeder mustern, bevor man sich abwandte, um die Ehefrau zu fragen, ob man gerade richtig gesehen habe. Vielleicht kam ihm das auch nur so vor, aber diese Welt war ihm fremd und schien ihm voller gefährlicher Fallen, und wenn am Hoteleingang ein Schild angebracht gewesen wäre mit der Aufschrift: »Punks müssen draußen bleiben« und zwar ohne das »leider«, das für Hunde galt, dann hätte ihn das nicht gewundert. Aber niemand starrte ihn an oder niemand zog auch nur eine Augenbraue hoch. Er schien überhaupt nicht zu existieren.

Sid bestaunte den Prunk und die Großzügigkeit des Zimmers.

Nancy sagte: »Und? Ist das nichts?«

»Doch«, sagte Sid.

»Schön groß hier. Bei kleinen Zimmern kriege ich immer Klaustrophobie.« Nancy war auf diesen Befund so stolz wie Sid auf Insubordination. Eine rätselhafte, seltene Krankheit. Wer konnte von sich schon behaupten, von ihr überhaupt mal gehört zu haben? Auch Sid hatte noch nie etwas von Klaustrophobie gehört. Ein Klassenkamerad hieß Klaus, aber das war auch schon alles, was er damit assoziierte. Es sah außerdem nicht so aus, als ob Nancy sehr unter dieser Krankheit litt, jedenfalls konnte er nichts Auffälliges an ihr feststellen. In diesem Zimmer schon gar nicht.

Sid ließ sich in einen der breiten, dunkelbraunen Fauteuils fallen und sah sie fragend an.

»Hey, keine Panik. Geht alles auf Rechnung von Papa.«

»Kriegst du da keinen Ärger?«, fragte Sid.

»Den hab ich schon.«

Stimmt auch wieder, dachte Sid.

»Und außerdem: Was will er denn machen? Mich umbringen? Das würde mich wundern. Mich nach Sibirien schicken? Das könnte sein.«

»Sibirien?«

»Naja, in ein Internat. Das ist ungefähr so was wie Sibirien.«

»Oh, nicht gut.«

»Ist es auch nicht. Ich war da nämlich schon mal.«

Es klopfte an der Tür und der Page schleppte zwei große Koffer. Nancy sagte dem Jungen, der nicht älter als Sid war, er solle das Gepäck beim Kleiderschrank abstellen. Sid beobachtete, wie Nancy mit ihm scherzte und der Page unsicher grinste.

Nancy packte aus und sortierte ihre Kleider. Sid sah ihr dabei verträumt zu.

»Wozu brauchst du diese ganzen Klamotten?«, fragte Sid.

»Um sie anzuziehen. Was hast du gedacht?«

Sid bemerkte den leicht spöttischen Ton in ihrer Stimme und nahm sich vor, Nancy das lieber nicht mehr zu fragen.

Nancy hielt einige Kleidungsstücke hoch, sagte die Marke, den Laden und die Stadt, und welche gekauft und welche geklaut waren.

Sid saß tief eingesunken im Sessel und bewunderte die für ihn etwas befremdliche Begabung Nancys, sich all diese Labels zu merken. Er fühlte sich schwer wie ein Stein und ungefähr auch so beweglich. Dennoch war er aufgewühlt, als würde er nachts bei schwerem Seegang allein auf einem Schiff stehen, das in Seenot geraten war. Und er hatte keine Ahnung, wo sich die Leuchtmunition befand, damit jemand kam, um ihn zu retten.

Bislang hatte er Mädchen als vollkommen überflüssig erachtet, ihnen gegenüber sogar eine gewisse Feindseligkeit an den Tag gelegt. Schließlich hatte Nancy Spungen die Sex Pistols kaputt gemacht. Und natürlich Yoko Ono die Beatles, obwohl ihm das ziemlich egal war.

»Hast du keinen Hunger?«, fragte Nancy. »Wir könnten uns was aufs Zimmer bringen lassen.«

»Die bringen einem was?«

»Ja, das machen die glatt. Was willst du essen?«, fragte Nancy und nahm den Telefonhörer in die Hand.

»Weiß nicht«, sagte Sid.

»Gibt’s da glaub ich nicht«, sagte Nancy. »Trinken?«

»Champagner«, sagte Sid. Er war neugierig, wie Nancy auf diesen in seinen Augen absurden Vorschlag reagieren würde. Als Sechsjähriger durfte er mal Champagner trinken. Willy hatte gerade einen Kampf gewonnen und anschließend in seiner Stammkneipe »Zum Standesamt« »Schampus bis zum Abwinken« bestellt.

»Schmeckt wie Ahoi-Brause«, hatte sein Vater behauptet. Sid hatte genippt und das Gesicht verzogen. Zur Sicherheit. Und aus Gewohnheit. »Sei mal nicht so zimperlich«, hatte der bereits schwer betankte Willy gegrölt, sein Glas genommen und es über Sids Kopf ausgeschüttet. Es war also keine besonders schöne Erinnerung, die er mit dem Getränk verband.

»Gute Idee«, sagte Nancy.

Nancy bestellte ein Wiener Schnitzel mit Bratkartoffeln und Champagner. Sie ordnete weiter ihre Kleider und Sid rutschte immer tiefer in den Sessel. Das Bild, das sich bot – Mann sitzt im Sessel und sieht einer Frau dabei zu, wie sie Kleider in den Kleiderschrank räumt –, hätte ein Motiv für Edward Hopper abgeben können, aber plötzlich klopfte es und der Kellner brachte Unruhe in die beschauliche Szene. Als er das Zimmer verlassen hatte, jagte Sid den Korken des Dom Perignon an die Decke und trank in großen Schlucken das erste Glas aus. Er schenkte sich nach. Der Champagner schäumte über und Sid versuchte ihn vom Glasrand wegzuschlürfen. Auch das nächste und übernächste Glas trank er, als müsste er sich beeilen, weil der Traum gleich zu Ende sein würde. Die Flüssigkeit rann ihm über das Kinn.

»Lass mir was übrig«, sagte Nancy.

»Bestellen wir doch einfach eine neue Flasche«, sagte Sid. Nancy bestellte noch eine Flasche.

Sid fing an zu plappern und zu gestikulieren. Er fühlte sich großartig. Und der Champagner war es auch. Besser als Gras. Besser als schwarzer Afghane. Und besser als Bier sowieso.

Er stieß mit einer fahrigen Handbewegung Nancys Glas um. Ein heftiges Gefühl der Peinlichkeit überkam ihn. Betrunkene taten so etwas. Und das letzte, was er in diesem Leben wollte, war, vor Nancy als Alkoholiker dazustehen, der sich nicht mehr unter Kontrolle hatte.

Nancy fuhr erschrocken auf: »Scheiße!«

Sid beugte sich über Nancy und wollte etwas tun. Am besten das Ganze wegwischen. In solchen Dingen war er unbeholfen. Sogar seine Mutter hatte immer gesagt, dass er selbst zum Aufhängen von Wäsche zu doof sei. Aber im angetrunkenen Zustand verlor das Missgeschick das Moment des Peinlichen. Er fand wieder in die vom Dom Perignon beschwingte Stimmung zurück.

Sid suchte sprudelnd, ja schäumend, nach immer neuen Worten, um sich zu entschuldigen, und legte bedauernd seine Hand auf Nancys Schulter, als wolle er sie beruhigen, obwohl er sie gar nicht beruhigen musste, denn Nancy war nach dem ersten Schrecken schon wieder bester Laune.

Sid Schlebrowskis kurzer Sommer der Anarchie und seine Suche nach dem Glück

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