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Kapitel 4

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Mit zwölf Jahren wusste Nikita, dass sie beruflich einmal etwas mit Menschen zu tun haben wollte. Ihrer Mutter war schon wesentlich früher aufgefallen, dass sich ihre Tochter sehr für das Verhalten von Menschen interessierte. Eine der häufigsten Fragen ihrer aufgeweckten Tochter war: »Mama, warum macht der das?«

Da sie sehr geduldig war, bemühte sie sich stets, ihrer Tochter alle Fragen zu beantworten und Nikita hatte viele Fragen.

Heute war sie ihrer Mutter dankbar, dass sie sie nie gebremst hatte, sondern im Gegenteil, sie durch ihre Antworten noch neugieriger gemacht hatte. Später, als sie dann in die Schule ging, wurden Psychologie und Physik ihre Lieblingsfächer. Ihr Vater hatte sich zwar gewünscht, dass seine Tochter, wie er selbst, eine politische Laufbahn einschlagen würde, musste aber bald einsehen, dass er gegen seine willensstarke Nikita keine Chance hatte. Er war sehr stolz auf sie, ja, es gab Leute, die behaupteten, er vergöttere seine Tochter. Er versäumte es selten, vor seinen Freunden mit ihren Leistungen anzugeben.

Im Alter von 14 Jahren schickten ihre Eltern sie nach Sells. Dort war die beste Schule für Hochbegabte und Nikita schaffte die Aufnahmeprüfung mit Leichtigkeit. Da die Schule 200 Meilen von Ihrem Heimatort entfernt war, wohnte sie in dem angeschlossenen Internat. Sie sah ihre Eltern von nun an nur einmal im Monat für ein Wochenende, denn man legte in Sells Wert darauf, dass die Schüler auch an den schulfreien Tagen an Weiterbildungen teilnahmen. Das musste man in Sells allerdings keinem Schüler ans Herz legen. Wer hier war, lernte gerne. Sowohl das Freizeit- als auch das Sportangebot im Internat waren abwechslungsreich. Jeder erlernte während seiner Schulzeit mindestens auch ein Musikinstrument und die meisten Schüler taten sich außerdem in einer Sportart besonders hervor. Nikitas Lieblingssportart war damals schon Golf, obwohl sie sicher auch eine gute Leichtathletin geworden wäre. Sie galt als außerordentliches Talent und einer Profikarriere hätte bestimmt nichts im Weg gestanden. Jede freie Minute verbrachte sie auf dem Golfplatz.

Dennoch hatte sie sich so manches Mal gewünscht, mehr Kontakt zu ihren Eltern gehabt zu haben. Besonders ihre Mutter fehlte ihr, die auch für die kleinen Alltagssorgen ihrer Tochter ein offenes Ohr hatte und immer für sie da gewesen war. Nikita war zwar immer von Freundinnen umgeben und sie hatte mit 16 Jahren auch ihren ersten Freund, aber wenn sie von Chelsea hörte, was diese alles mit ihren Eltern unternommen hatte, wurde ihr klar, dass sie etwas vermisste. Das Familienleben der Ferrers hatte sich seit Sells auf die Schulferien konzentriert. In ihrem Ferienhaus am Lake Mountin wurde dann versucht, alles nachzuholen. Sie unternahmen Bootstouren, sie ging mit ihrem Vater auf die Jagd und mit ihrer Mutter zum Golf spielen, die Tage waren ausgefüllt und unbeschwert.

Chelsea sah das ganz anders: »Ich wäre froh gewesen, in solch einer Schule zu sein mit den ganzen Freiheiten dort. Glaubst du, es war ein Vergnügen, jeden Abend erklären zu müssen, wo man war, mit wem und warum?«

»Wahrscheinlich vermisst man immer das, was man nicht hat«, dachte Nikita während solcher Gespräche oft.

Niemand war überrascht, dass Nikita einen exzellenten Abschluss an der Universität machte. Einer glanzvollen beruflichen Karriere stand nichts mehr im Weg. Die Idee, Profigolferin zu werden, hatte sich inzwischen in Luft aufgelöst.

Immer nur Golf zu spielen war ihr dann doch zu eintönig gewesen. Es ging ihr auch gegen den Strich, dass Golfer scheinbar nur ein Thema kannten, über das sie sich unterhielten, nämlich Golf.

Einige Firmen, die ihre Scouts an die Eliteuniversitäten schickten, waren schon während des Studiums an sie herangetreten und hatten ihr lukrative Angebote gemacht. Da sie alles Berufliche mit ihren Eltern besprach, konnte ihr Vater auch dazu raten, das Angebot von BOSST anzunehmen. Als Senator wusste er, dass BOSST schon viele Regierungsaufträge bekommen hatte. Manche Senatoren munkelten hinter vorgehaltener Hand, dass es sich bei BOSST sogar um ein regierungseigenes Unternehmen handelte.

»Da hast du einen sicheren Arbeitsplatz und eine Herausforderung dürfte es für dich auch sein«, meinte er. »Ein Unternehmen wie BOSST wird nicht untergehen und wenn du einmal Schwierigkeiten bekommen solltest, kannst du mir Bescheid geben.«

»Papa, du weißt genau, dass ich es selber schaffen will und mich nie auf deine Beziehungen verlassen würde. Außerdem, warum sollte es bei einem Unternehmen, das so im Licht der Öffentlichkeit steht, Schwierigkeiten geben? Zählt BOSST nicht zu den erfolgreichsten und sozialsten Unternehmen aller Zeiten?«

Eine Woche später hatte Professor Rhin sie überzeugt.

»Ich hätte sie gerne in meinem Team, Frau Ferrer«, hatte er ihr damals bei einer Tasse Kaffee im Restaurant der Firma gesagt.

Sie war einer Einladung von BOSST gefolgt. Man hatte zehn Erfolg versprechende Absolventen der Universität eingeladen, sich das Unternehmen anzuschauen. Jeder sollte die Gelegenheit haben, sich unverbindlich über die Arbeitsbedingungen vor Ort zu informieren. Die waren allerdings so bekannt, dass man sich alleine deswegen schon bemühen musste, für dieses Unternehmen zu arbeiten. Die jungen Leute wurden selbstverständlich ständig beobachtet.

Da man nur Leute einstellte, die vorher genauestens ausgesucht worden waren, gab es keine fest vorgeschriebenen Arbeitszeiten. Wer für BOSST arbeitete, war ohnehin mindestens zwölf Stunden anwesend. Man stellte nur Menschen ein, von denen man wusste, dass Arbeit die höchste Priorität in deren Leben hatte. Außerdem zahlte man überdurchschnittlich und Mitarbeiter der Firma konnten sich zahlreicher anderer Vergünstigungen erfreuen, zu denen auch manchmal eine Wohnung im Crusst-Tower gehörte. Auf dem Firmengelände gab es Sport- und andere Freizeitmöglichkeiten und in den exklusiven Ruheräumen mit ihren Hologrammen konnte man jede nur erdenkliche Illusion erzeugen. In den firmeneigenen Restaurants wurden auch die anspruchvollsten Gaumen verwöhnt. Eigentlich brauchte man als Mitarbeiter das Firmengebiet gar nicht zu verlassen und es gab sicherlich einige, die das auch nicht taten.

»Warum ausgerechnet mich, Herr Professor?« hatte Nikita gefragt.

»Weil Sie gut sind, Frau Ferrer. Sie sind gut. Ich habe Ihre Diplomarbeiten gelesen und mir hat gefallen, wie sie die Dinge anpacken. Sie haben den Mut, neue Wege zu gehen, und haben nicht, wie die meisten ihrer Kommilitonen, nur den anerkannten Kapazitäten nachgeplappert. Sie haben eigene Ideen, Nikita, das gefällt mir. Sie haben eben nicht nachgedacht, im Sinne von jemandem hinterherdenken, sondern Sie können selbst kreativ und innovativ sein.« Professor Rhin schenkte Kaffee nach.

»Und Sie fanden es nicht unqualifiziert oder überheblich? Professor Snyder hat einmal gesagt, ich solle auf dem Teppich bleiben. Ich hatte ihm damals zu spontan geantwortet, dass es wohl keine großen Entdeckungen gegeben hätte, wenn alle Menschen auf dem Teppich geblieben wären. Mich muss der Teufel geritten haben. In der nächsten Klausur verpasste er mir dann eine Drei minus.«

»Ja, ja der gute Snyder«, Professor Rhin schmunzelte, »ist es nicht erstaunlich, dass Menschen, die eigentlich als weise und maßgeblich gelten, sich gleichzeitig als hemmend für die Fortentwicklung ihrer Gesellschaft erweisen können? Einmal zu »Experten« ernannt, scheint es ihnen häufig unmöglich, ihr vermeintliches Wissen weiterhin in Frage zu stellen. Warum neigen Menschen zu festen Überzeugungen oder Vorurteilen und scheuen den Zweifel? Nein, Frau Ferrer, ich fand Ihre Ideen überhaupt nicht überheblich. Ich glaube nämlich auch, dass man im Ätherkörper oder der Aura des Menschen alle Informationen bezüglich seines Charakters, seiner Neigungen oder Handlungen lesen kann. Besonders gefallen hat mir, dass Sie der Meinung sind, dass auch alle zukünftigen Handlungen eines Menschen bereits festgelegt sind und dort sichtbar gemacht werden können. Das denke ich nämlich auch, obwohl dies sicher nicht sehr populär ist, wo wir doch so stolz auf unseren vermeintlich freien Willen sind. Ich möchte offen zu Ihnen sein, Frau Ferrer. Wir arbeiten an der Entwicklung eines Gerätes, einer Art Brille, mit der es möglich sein soll, diese Informationen auch ablesbar zu machen. Mit der Kirlianfotografie war man seinerzeit schon auf einem guten Weg, hat aber nicht alle Möglichkeiten erkannt. Die wären damals allerdings technisch auch noch nicht umsetzbar gewesen.«

»Wow, ein Gerät, das es dem Nutzer ermöglicht, seine Mitmenschen quasi seelisch zu durchleuchten? Ist das nicht gefährlich, Herr Professor, könnte damit nicht ungeheurer Missbrauch getrieben werden?«

»Nur, wenn es in die falschen Hände kommt, Nikita, oh Pardon, Frau Ferrer. Außerdem sollten wir das doch lieber der Politik überlassen, zu entscheiden, wer etwas nutzen darf und wer nicht, meinen Sie nicht auch? Ist Ihr Herr Vater nicht in der Politik? Senator sogar, wenn ich mich nicht irre?«

»Nennen Sie mich ruhig Nikita, Herr Professor, Frau Ferrer klingt so alt. Ja, mein Vater ist Senator. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte ich ebenfalls eine politische Laufbahn eingeschlagen. Ich bin aber kein Verwaltungsmensch und besonders diplomatisch bin ich auch nicht, wie Sie an der Geschichte mit Professor Snyder erkennen können.«

»Welch Verlust für die Wissenschaften! Mir gefällt Ihre Selbsteinschätzung, Nikita.« Professor Rhin trank den Rest seines Kaffees in einem Zug aus. In seiner Stimme schwang keine Ironie mit, sondern ehrliche Überzeugung. Das mochte Nikita und machte sie auch ein bisschen stolz.

»Meinen Sie nicht auch«, fuhr Professor Rhin fort, »dass wir uns selbst Handschellen anlegen würden, wenn wir vorher jedes Mal überlegen müssten, wer Nutznießer unserer Entwicklungen sein darf und wer nicht? Unsere Aufgabe ist die Forschung, nicht die Politik.«

»Ja, es ist ungefähr das Gleiche wie mit den Teppichen.« Beide mussten lachen und als Nikita an diesem Abend nach Hause fuhr, wusste sie, dass es etwas zu feiern gab.

Wenn sie, so wie an diesem Morgen, in ihrem Automobil saß, bewunderte sie immer wieder den reibungslosen und zügigen Verkehrsfluss. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es früher für die Menschen gewesen sein mochte, als man fast alles selber machen musste um vorwärts zu kommen, und dazu noch im Schneckentempo. Es war kein Wunder, dass damals so viele Menschen im Straßenverkehr ums Leben gekommen waren.

Der menschliche Wahrnehmungsapparat mit seinem begrenzten Reaktionsvermögen war eigentlich gar nicht geschaffen für all die komplizierten Vorgänge. Heute war man um ein Mehrfaches schneller unterwegs. Computer und intelligente Roboter konnten das viel besser und man hatte auch dadurch mehr Zeit für die wesentlichen Dinge des Lebens, zum Beispiel seine Arbeit oder Hobbys.

»In meinem Fall habe ich wohl eher Zeit für die Arbeit«, dachte sie bei sich. »Aber ich wusste ja, worauf ich mich einließ, als ich bei BOSST anfing. Die Firma ist schließlich nicht als Sanatorium bekannt. Wenn ich erst einmal richtig drin bin, werde ich auch wieder öfter zum Golfen kommen. Was soll’s, da muss ich wohl durch. Wie sagt Mama? Augen zu und durch. Besser ist es wohl mit offenen Augen«, verbesserte sie im Stillen ihre Mutter.

Schwer vorstellbar war für sie auch, wie es wohl früher gerochen haben musste, als die Automobile noch mit Hilfe von Verbrennungsmotoren liefen. Von den Auswirkungen auf die Umwelt einmal ganz abgesehen, die ja bekanntermaßen verheerend gewesen waren.

Dass der menschliche Körper selbst Energie produzierte, wusste man schon lange. Sehr viele Prozesse im menschlichen Organismus spielen sich auf der Basis elektrophysiologischer Vorgänge ab. So unter anderem die Leitung und Verarbeitung von Informationen in den Nerven oder die Kontraktion der Muskeln. Auch die Kontraktionen des Herzens und damit der Blutausstoß beruhen auf elektrophysiologischen Vorgängen.

Nikita erinnerte sich, gelesen zu haben, dass ein Forscher namens Galvani das Phänomen schon 1791 entdeckt und ihm den Begriff »Tierische Elektrizität« gegeben hatte.

In der Mitte des 21. Jahrhunderts hatten die Forschungen auf diesem Gebiet einen neuen Höhepunkt erreicht. Computerspezialisten war es gelungen, einen PC zu bauen, der seine Energie durch die Photosynthese eines Baumes erhielt.

Aber erst im vorletzten Jahrhundert war es einem Wissenschaftler und Mitarbeiter der asiatischen Niederlassung von BOSST gelungen, die Kraftquelle Mensch für den Antrieb von Automobilen zu nutzen. Der Fahrer selbst und natürlich auch seine Beifahrer produzierten die Energie praktisch zum Nulltarif. In der gesamten Bandbreite der Elektrophysiologie lieferten die Forschungsteams von BOSST und ihre interdisziplinären Aktivitäten wesentliche Beiträge, nicht nur diesen.

Nikita genoss die Momente in ihrem Wagen. Sie fühlte sich wie auf einer kleinen Insel, denn alle Kommunikationsinstrumente ließen sich auch abschalten, sodass man einfach nur chauffiert wurde und sich ausruhen konnte.

Heute hatte sie ein komisches Gefühl, irgendetwas lag in der Luft. Etwas Entscheidendes, wie ihr das bekannte Kribbeln in ihrer Magengegend sagte. Sie hatte manchmal solche Vorahnungen, die sich dann meist auch bestätigten. Als sie ein kleines Mädchen war, hatte sie diese Gefühle, manchmal auch mit Visionen verbunden, sogar noch viel ausgeprägter. Im ersten Schuljahr wurde sie von ihren Mitschülern deswegen ausgelacht und auch von ihren Lehrern bekam sie keine Unterstützung, sondern eher noch abfällige Bemerkungen.

Danach wurden diese Empfindungen seltener. In der Pubertät hatte sie »ihre Anwandlungen«, wie sie es inzwischen selbst nannte, wieder öfter. Sie hatte sogar manchmal am helllichten Tag regelrechte Albträume, während denen sie auch nicht ansprechbar war. Todschlecht war ihr oft dabei, manchmal bis zum Übergeben. Diese Erfahrungen waren für sie schon traumatisch, da sie ein Eigenleben zu entwickeln schienen und drohten, zu Dämonen zu mutieren.

Nachdem sie das erste Mal mit einem Jungen geschlafen hatte, hörte es in dieser Intensität schlagartig auf und reduzierte sich auf Vorahnungen wie eben dieses Kribbeln in der Magengegend.

Sie war dankbar dafür. Sonst gab es keine Veranlassung, gerne an dieses »erste Mal« zurückzudenken, aus dem die meisten ihrer Freundinnen ein Riesentheater gemacht hatten.

Pete Johnson hieß er, war zwei Jahre älter als sie und der Baseballstar der benachbarten Schule. Alle Mädchen flogen auf Pete und auch Nikita hatte sich schließlich von seinem umwerfenden Charme einfangen lassen. Sie war ihm gegenüber anfänglich sehr reserviert gewesen, was ihn anscheinend besonders motiviert hatte. Er bemühte sich rührend um ihre Aufmerksamkeit und am Ende hatte er sie tatsächlich erobert.

Manche Mädchen platzten vor Neid. Nach einer der seltenen Partys auf Sells waren sie ziemlich beschwipst in seiner Bude gelandet. Beide hatten sich Mut angetrunken, denn auch für ihn war es das erste Mal, was sie nie gedacht hätte. Wohl aber, nachdem alles sehr schnell vorbei war. Sie traf sich noch ein paar Mal mit ihm, erkannte allerdings bald, dass sein Hauptinteresse dem kleinen Lederball galt. Da sie nicht als sein Maskottchen enden wollte, gab sie ihm nach zwei Wochen den Laufpass, was bei einigen Freundinnen auf großes Unverständnis stieß. Der nächste Mann, auf den sie sich körperlich einließ, war Jan und sie hatte gleich bedauert, dass er nicht der Erste gewesen war.

Mit den Vorahnungen konnte sie leben und erzählen musste sie ja auch niemandem davon. Was konnte Professor Rhin nur von ihr wollen?

Steine brennen nicht

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