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2. Das Transhumanum
ОглавлениеWas ist das für ein Gefühl, eine Schwelle zu überschreiten, die etwas Endgültiges prophezeit? Einen Weg zu gehen, der vielleicht einen Lebensabschnitt beendet und eine Umkehr in die vergangene Zeit unmöglich macht. Eine Richtung einzuschlagen, die vom Schicksal gefordert wird, um bewusster leben und leiden zu können, um falsche Hoffnungen zu verlieren, die man sonst nur unnötig mit sich herumgetragen hätte. Wenn man diesen Moment einmal bewusst erleben kann, dann sollte man diesen Schritt beherzt tun und alle alten Hemmnisse und Qualen zurücklassen, sagte sich Naila Elisar, als sie den Flächenstrahler, den Oreade mitgebracht hatte, in die Dunkelheit richtete und sie gleichzeitig versuchte ihre Vorahnungen zu beschwichtigen. Nach diesem letzten Schritt schloss sich das Tor hinter ihnen und Elisar wusste, dass ihr bisheriges Leben Erinnerung war.
Vor ihnen öffnete sich eine leicht gewundene, abschüssig verlaufende Passage, die beidseitig von historisierenden Halbsäulen eingefasst wurde.
Als das Licht des Flächenstrahlers auf die vielen Wandfresken zwischen den Säulen fiel, leuchteten diese in wunderbaren Farben. Alle Fresken zusammen erzählten eine Geschichte von paradiesischen Landschaften in unberührter Natur, in der die einstige Zivilisation langsam verschwand. Ungezügelte Wassermassen, üppig wuchernde Vegetation und sumpfige Wälder breiteten sich über die letzten Reste künstlicher Territorien aus und es wirkte auf diesen Wandgemälden wie ein Reinigungsprozess, der mit den vordringenden eisigen Zeiten die letzten menschlichen Spuren auslöschte. Bild an Bild menschenleere, wütende Natur. Nach all den Jahren und vielen Umwälzungen kamen auf den folgenden Fresken dann doch wieder Menschen aus einer Höhle gekrochen. Aus einer geheimnisvollen, riesigen Kugel am Himmel senkte sich ein Lichtstrahl auf die Welt und ließ die Menschen offenbar neu erwachen.
„Eine rätselhafte Symbolik, die Pfafner-Organon da in Auftrag gegeben hat. Da reimt sich bei mir noch nichts zusammen“, äußerte sich Elisar zu dieser mythischen Farborgie.
„Eine hübsche Galerie, alles sehr stimmungsvoll. Mir gefällt´s“, fand Oreade.
„Das ist vielleicht ein Gestaltungstrend, der uns fremd erscheint, weil wir uns wenig Gedanken über sowas machen“, vermutete Snitz.
„Ich weiß nicht. Vielleicht würden uns diese Bilder etwas sagen, wenn wir wüssten, was Pfafner-Organon für die Zukunft plant.“ Naila Elisar nahm sich vor, diese Geschichte im Auge zu behalten.
Sie befanden sich jetzt am Ende des Ganges vor einem offenen Torbogen, der von zwei massiven Rundsäulen gestützt wurde. Die beiden Pfeiler und die gesamte Umgebung sahen uralten antiken Stätten ähnlich, wie sie Elisar von Bildern des klassischen Altertums her kannte. Je weiter sie in dieses bautechnische Wunder hineinleuchtete, je gewaltiger bauten sich die Pfeiler vor ihr auf. Die ersten beiden Säulen gehörten zu einem Kreis aus meterhohen Pilastern und trennten einen Umlauf von der Mitte des Platzes. Einige Stufen führten in den imposanten Innenraum des Bauwerks, das von einer Kuppel gekrönt wurde, die unterirdisch in den Stein gehauen worden war. Der Fußboden bestand aus Mosaiken, die Menschen und Tierszenen miteinander vereinten. Menschliche Körper mit nachgebildeten Stierköpfen, Pferderücken mit menschlichen Oberkörpern und zahlreiche Wesen mit vielen zusätzlichen Armen und Beinen. Die kleine Gruppe war von diesem, bei näherem Hinsehen doch sehr neuzeitlichen Tempel überwältigt und erschreckt zugleich.
„Ich erinnere mich, mal im INet gelesen zu haben, dass dieser unterirdische Bau das Mausoleum eines Superreichen hätte werden sollen, der seine wertlos gewordene Kunstsammlung mit ins Grab nehmen wollte“, sinnierte Elisar.
„Der Sub-Navigator bezeichnet diese eindrucksvolle Kulisse als Transhumanum, aber ohne näher auf die Entstehung und den Zweck einzugehen“, teilte Snitz mit.
Der innere Kreis des Transhumanums bestand aus zwölf säulengestützten Torbögen. Zu jedem Torbogen gehörte an der Außenwand des Rundbaus ein Tor. Zwölf Tore trafen im Innenraum zusammen. Über den Torbögen befand sich ein umlaufender Fries aus zwölf detailreich gestalteten Ornamenten, der erhebliche Zerstörungen aufwies. Dieser Fries sah aus wie der Teil eines noch größeren weltdeutenden Mechanismus. Das Tor, aus dem die kleine Gruppe herausgetreten war, stellte über ihnen auf dem Fries einen mechanischen Stier mit stählernen Hörnern dar. Er tug einen goldenen Ring in der Nase und über ihm zog ein Kometenschweif vorüber. Den Fries des Nachbartores zierte ein Zwillingspaar mit ungewöhnlichen Helmen, die zu den Sternen hinaufblickten. Die nächste Darstellung im Rund zeigte einen gepanzerten Krebs, der wie ein Kampfroboter aussah. Es folgte eine Abbildung, die kaum noch zu erkennen war. Oreade glaubte, sich aus den Resten des Ornaments einen Löwen zusammenreimen zu können, während Elisar im nächsten Bild über zwei künstliche Hände rätselte, die sich vor einem Zifferblatt irgendeiner Aufgabe widmeten.
„Im Zeichen der Jungfrau ist hier ein Arbeitsprozess dargestellt, der vollkommen unter dem Diktat der Zeit steht“, behauptete Snitz. Er war verwundert über diese Symbolik, nahm Elisar den Flächenstrahler aus der Hand, um den ganzen Kreis der Zeichen eilig auszuleuchten.
„Futuristische Waffensysteme halten die Erde im Gleichgewicht, ein Torso hinter einem ergonomisch gestylten Skorpion, ein Präzisionsschütze vor einem nackten Gehirn voller Implantatsteile, der Schädel eines Steinbocks, um den sich eine künstliche Schlange windet, vor dem Hintergrund eines gewaltigen Himmelskörpers. Eine Kosmologie des Grauens. Es ist kaum zu ertragen, mit dieser Sphäre konfrontiert zu werden“, entrüstete sich Snitz, drückte Elisar den Strahler wieder in die Hand und raufte sich die Haare.
„Wovor hast du Angst, Snitz? Der Mensch bereitet sich doch nur darauf vor, die Erde zu verlassen, seine alten Wurzeln abzustreifen und große Teile seines unvollkommenen, verletzlichen Körpers durch Technologie aufzurüsten, um zu einem Übermenschen zu mutieren“, lästerte Elisar.
„Wenn das Übermenschen sind, dann sind wir Untermenschen, die wertlos geworden sind. Jetzt begreife ich langsam, was es bedeutet, unvollkommen geboren zu werden“, konterte Snitz.
„Ich habe mir die Patentlisten von Pfafner-Organon angeschaut, die im INet kursieren. Sie kontrollieren neunzig Prozent des menschlichen Körpers mit diesen Patenten. Wie viel ihnen schon durch die patentierten Implantate vom Gehirn gehört, ist geheim. Aber hier kann man etwas von den Absichten der „Menschwerdung“ erahnen, die Pfafner-Organon verfolgt“, erklärte Elisar.
„Wir sind vielleicht alle schon Marionetten dieses Großkonzerns“, behauptete Snitz.
„Die Tore des Transhumanums scheinen verschlossen zu sein und hinter dem Zeichen des Wassermanns steigt die leuchtende Erde empor, Symbol des Masterplankalendariums. Was hat sich hier abgespielt ?“, wollte Elisar wissen, ohne sofort eine Antwort zu erwarten. Das letzte Zeichen auf dem Fries der Fische hatte ein Loch. Dieses Loch war tief, dunkel und zu perfekt, als dass es durch einen spontanen Gewaltakt zustande gekommen sein konnte. Vielleicht ist diese Leere der Schlüssel zum Verständnis des Transhumanums, dachte Elisar.
Rudin hatte sich angesichts dieser düsteren, kalten Höhlengebäude an der Hand von Oreade ganz ruhig verhalten, war aber stets bereit, den Dingen auf den Grund zu gehen. Im Torbogenhaus des Widders wurde er auf einen kleinen Knopf an der Wand aufmerksam, der immer, wenn das Licht des Strahlers auf ihn fiel, leuchtete. Seine Neugier war geweckt. Er entzog sich geschickt Oreades all zu festem Griff, um das auffallend helle Ding zu untersuchen. Dieser schlichte Knopf ermöglichte Rudin sogleich den Zugriff auf das Innenleben des Transhumanums, das von seiner altertümlichen Fassade her so gar kein Innenleben vermuten ließ. Er löste ein autonomes Bedienungselement aus den technischen Innereien heraus, der umlaufende Fries begann sich zu drehen und setzte das Planetarium des Transhumanums in dem Augenblick in Gang, als Oreade ihn für einen kurzen Augenblick nicht im Blick hatte.
Elisars Flächenstrahler verblasste vor dem intensiven Blau, das nun die gesamte Kuppel des Transhumanums in ein sternenübersätes Universum verwandelte. Begleitet von melodischen Sphärenklängen kam ein dreidimensionales, kosmisches Schauspiel in Gang, das auch Rudin erschreckte, sodass er sich eilig wieder in die Obhut von Oreade begab. In Minuten formten sich aus Sternenstaub gigantische Galaxien. Die Entstehung der rotierenden Milchstraße mit ihren Milliarden Sonnensystemen wurde als schwindelerregendes, kosmisches Drama vorgeführt. Ein strahlend heller Feuerball mit seinen Protuberanzen trat aus der Sternenmasse hervor und blendete die kleine Gruppe so sehr, dass sie sich hinter den Säulen verbergen musste, um nicht zu erblinden. Dann konnte man bald darauf die Planeten bewundern, wie sie in elliptischen Bahnen das Zentralgestirn umrundeten und einen Reigen aus Licht und Schatten zu tanzen begannen. Und endlich trat, zum Greifen nah, die junge Erde hervor, diese wunderschöne blau-weiße Kugel, in das Samtschwarz des umgebenden Weltalls gehüllt, majestätisch kreisend wie ein ungeschliffener Edelstein. Die Oberfläche mit ihren gewaltigen Ozeanen und den darauf herumwandernden Kontinentalplatten veränderte sich nach jeder Umdrehung. Ein jedes Zeitalter prägten ungeheure Umwälzungen, die das Aussehen der gedeihenden Erde auf den sich verschiebenden Landmassen immer wieder erneuerten. Irgendwann erschien dann ein gigantischer, glänzender, künstlicher Planet im Sonnensystem, der die Erschließung dieses kosmischen Juwels durch außerplanetarische Intelligenzen einleitete. Terzierra, die erste Metropole des goldenen Zeitalters der Götter, wuchs auf dem Superkontinent Pangäa heran und verschwand sogleich wieder. Das Erdmittelalter mit seinen unendlich vielen Ausprägungen von grün und braun auf den Festländern hatte begonnen. Oft blitzten Punkte kurz auf, weil die neuen Kontinente Besuch von Reisenden aus fernen Welten bekamen, die kleine Zivilisationsinseln errichteten, um die Entwicklungsphasen des Lebens auf diesem Planeten zu begleiten. Konflikte und Rivalitäten unter den außerplanetaren „Göttern“ lösten Katastrophen aller Art aus und veränderten sodann über Jahrtausende die Erde und das Sonnensystem. Eindrucksvoll zerbarst ein Planet und eine gigantische Raumstation stürzte auf die Erde herab und es kam zu einer Sintflut. Aus den biologischen Hinterlassenschaften dieser Zeiten entstand der bewusste Mensch. Erst noch als Arbeitstier der Götter, aber nach deren Verschwinden dienten sie den Menschen als Vorbilder. Unter der Herrschaft von Gottkönigen entstanden die ersten von Menschen errichteten Zivilisationen, am Indus, im Zweistromland zwischen Euphrath und Tigris und am Nil. In den letzten Sekunden der Simulation gab es eine gewaltige Explosion des Lebens und der Zivilisation auf diesem Planeten durch eine einzige Spezies, den Homo sapiens, den denkenden Menschen. Dann verblasste die Erde und der letzte Sternenstaub verlor sich in der Dunkelheit. Die Simulation war beendet. „Was für ein blendendes Schauspiel“, rief Snitz aus und massierte sich seine überreizten Augäpfel. Naila Elisars Begeisterung hielt sich allerdings in Grenzen, obwohl ihr das Drama, das ihnen soeben geboten wurde, zu denken gab. Sie war überzeugt, mit der Wirklichkeit hatte diese Simulation natürlich nichts zu tun.
„So könnte es gewesen sein“, begeisterte sich Snitz.
„Unsinn! So fantasieren es sich die Mächtigen des Masterplankalendariums zusammen“, erwiderte Elisar und hielt nach Rudin Ausschau, dem sie inzwischen alles zutraute. Aus einer Öffnung unter der Kuppel des Transhumanums wurden unerwartet weitere Lichtstrahlen herabgesandt und zu einem Körper geformt. Dann stand er plötzlich als vollständiger Mensch unter ihnen, Arthur Lassalle, der Träger des Rings. Oreade erschrak fürchterlich, als er sich neben ihr zusammensetzte. Sie zitterte am ganzen Körper.
„Charles Digmer hat recht gehabt, ein Arthur Lassalle scheidet nicht so einfach aus der Welt aus. Für ihn gelten andere Maßstäbe in Zeiten der perfekten Illusion. Aber er bleibt ein Phantom“, flüsterte Elisar und versuchte Oreade zu beruhigen. Das Phantom räusperte sich und begann auch noch zu sprechen.
„Ihr habt meinen Hinweis im Sub-Navigator also richtig gedeutet“, sprach die Erscheinung und Arthur Lassalles Stimme schien wirklich aus dem Inneren des Lichtwesens zu kommen, das ihm bis aufs Haar glich. Das Trugbild suchte nach einem Ansprechpartner, schaute sich um, schien sich aber auf niemanden einlassen zu wollen.
„Ich verstehe eure Empörung über diese geheime Forschungs-, ja Überwachungszentrale hier. Seit aber nicht zu sicher, den Antworten auf eure Fragen näher gekommen zu sein“, sagte Lassalle. „Das Transhumanum ist der gescheiterte Versuch, die überirdischen Erfahrungen in eine neuronale Form zu kleiden und Teile eines Menschen komplett zu rekonstruieren, um ihn eines Tages beliebig nach- oder umbauen zu können. Die Hologramme, die daraus entstanden sind, können auch heute noch beeindrucken. Und vielleicht begreift ihr bereits bei diesen Bildern, mit welcher Effizienz hier einst versucht wurde, das Gehirn des Menschen bis ins kleinste Detail nachzubilden.“
Der virtuelle Arthur Lassalle unterstrich seine Anwesenheit mit Gesten, die an eine erwachende Statue erinnerten und begann fast schwebend im Rund des Transhumanums herumzuwandern.
„Ich habe damals maßgeblich dazu beigetragen, dass dieses Projekt gestoppt wurde. Es gibt also keinen Grund in Panik zu geraten. Aber Subworld könnte ernsthaft in Gefahr geraten, wenn ihr nicht sofort umkehrt. Natürlich verspürt ihr den Wunsch, nachzusehen, was sich noch hinter all diesen Toren verbirgt. Gebt mir deshalb die Chance, euch davon zu überzeugen, es nicht zu tun und hört mir zu. Ihr werdet dann hoffentlich einsehen, dass euch nur der Rückweg offen bleibt. Ich erinnere mich noch sehr genau an die großartigen Jahre nach Krassovs Tod etwa um 2160. Der Druck, unsere Projekte in den vorgeschriebenen Zeiträumen umzusetzen, ließ nach. Collin Athnans Ansicht, dass die Zeichen des einen Rings nichts mit der christlichen Zeitrechnung zu tun haben konnte, fand immer mehr Anhänger. Das Terraforming-Programm auf dem roten Planeten zeigte Wirkung. Wir staunten über die ersten wirklich grünen Hügel auf dem Mars und tauften diese frischen Ebenen Auenlande. Und wir glaubten, damit rückt unser Traum näher, auf dem Mars eine völlig neue und gerechte Gesellschaft zu errichten. Eine Gesellschaft, die alle Ängste, Abhängigkeiten und Vorurteile der alten Erde überwunden hatte und die sich auf neuen Strukturen des Zusammenlebens gründen sollte. Wir verfassten Traktate, die eine Bilanz enthielten über den metaphysischen Verlauf der Weltgeschichte bis zu den Konflikten in unserer Zeit und wir entdeckten in diesen Strukturen eine unheilvolle Systematik. Diese Erkenntnisse sollten als Grundlage einer möglichen Marsgesellschaft dienen und sie verbreiteten sich in allen aufgeklärten Sektoren. Gleichzeitig kamen aber Ereignisse in Gang, die wir in unserer naiven Euphorie nicht sogleich durchschauten. Wir wurden gleichsam von den aktuellen Geschehnissen überrollt. Die Spannungen zwischen den Traditionalisten unter den Daaniern, die das Jahr 2222 unter allen Umständen verteidigen wollten und den unruhigen Daanjeries wurden so groß, dass ein Ausschluss der Daanjeries von allen öffentlichen Ämtern gefordert wurde. Diese Disziplinierungsversuche waren der Beginn einer internationalen Kampagne gegen die Daanjeries. Auch unsere Ideen wurden in diesem Klima der Verdächtigungen angeprangert. Man behauptete, eine modernisierte Gesellschaft kann sich nur auf der Grundlage der bestehenden Ordnung erneuern. Unsere Utopien beschleunigen dagegen den Verfall der demokratischen Ordnung und man warf uns vor, Gegner des Masterplankalendarium zu sein. Und in der Tat, eine ganze Generation begann gegen die bekannt gewordenen Praktiken des Masterplankalendariums zu rebellieren. Ohne seine Thesen zu widerrufen, versuchte Collin Athnan seinen Einfluss geltend zu machen, um die Situation zu entschärfen. Leider ohne großen Erfolg. Natürlich verteidigte er das Masterplankalendarium, aber er wollte es umfassenden Reformen unterwerfen.
Mitte der 30iger Jahre kam es dann zum endgültigen Bruch mit den traditionellen Daaniern und die Daanjeries wurden aus der großen Welt-Gemeinschaft der Ringe ausgeschlossen. Es folgten Jahre der Unruhe und der Rebellion. Wir hatten genug von diesem unendlichen Krieg gegen unsere wertvollsten Lebensgrundlagen, der uns als einzige Logik der Rettung seit Jugendjahren eingeimpft worden war. Wir gefielen uns allmählich in der Rolle der Außenseiter und verachteten die alten Technokraten des Masterplankalendariums, die all zu starr ihren Zielen folgten. Viele von uns zog es in die Hauptsektoren, weil sich dort in den Außenbezirken der Metropolen bedeutende Gemeinschaften der Daanjeries gebildet hatten, die neue kulturelle Ausdrucksformen praktizierten und damit neuen Ideen zum Durchbruch verhalfen. Aufklärerische Texturen, opulente Klangoratorien, episches Bühnenspiel, freie Medjaproduktionen und Artnik-Styles erlebten eine unerwartete Blütezeit. Viele von uns waren der Ansicht, man müsse versuchen, vor allem innerhalb der Institutionen der Vereinigten Central Staaten den Fortgang des Masterplankalendariums zu beeinflussen. Im Gegensatz dazu waren nicht wenige entschlossen, den Weg des gewaltsamen Widerstands zu gehen und die sich ständig verschärfende Repression der staatlichen Institutionen aus dem Untergrund heraus zu bekämpfen. Im Julio 2144 wurde der Energieadministrator Oktan Rowls innerhalb der Sperrzone von Dubai von einem Attentäter ermordet. Der Verdacht fiel sofort auf eine militante Gruppe der Daanjeries, da man ein entsprechendes Medja der Bekenner am Tatort fand. Weitere politisch motivierte Anschläge folgten und fanden kaum Aufmerksamkeit im INet unter all den täglichen Morden in dieser Zeit. Gleichzeitig mussten die Strategen des Masterplankalendariums einige schwere Rückschläge verkraften. Die ozeanische Metropole „Mediterraneo City“ wurde durch einen Monster-Hurrikan verwüstet und unzählige Bewohner der künstlichen Inseln fanden den Tod. Das große Zukunftsmodell einer schwimmenden Stadt im Meer für hunderttausende von Menschen, Tieren und einem funktionierenden Biosystem musste erst einmal begraben werden. Auch der Widerstand gegen die ungerechte Umsiedlungspolitik der Regierung nahm zu. Fünf Millionenstädte in Küstenregionen wurden langsam aber stetig von den steigenden Fluten der Weltmeere verschlungen. Die Zustände, die dort unter der breiten Masse der Armen herrschten, waren unbeschreiblich und verschärften das politische Klima auch in anderen Regionen. Aufstände und Rebellionen waren an der Tagesordnung und diese Konflikte, die sich im INet widerspiegelten, zeigten den Zustand der Welt am Rande des Chaos und eine ohnmächtige Regierung, die stur in ihren Dogmen verharrte.
Dann kam der Tag, der unser Leben radikal verändern sollte, der sich durch diese furchtbaren Ereignisse unauslöschbar in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt hat, der 12. Oktobar 2146. Ich befand mich im Speisesaal der Trion-Labs, als die ersten Nachrichten aus New Kairo über die Informationsnetze der INet-Schirme flimmerten. Noch wurde diese Tragödie als bedauerlicher Unfall in irgendeiner biotechnologischen Produktionsstätte dieser 30 Millionen Metropole dargestellt. Aber durch Meldungen verschiedenster Medien wurde schon bald klar, dass sich da eine Katastrophe größeren Ausmaßes anbahnte. Es stürzten kurz danach Bilder von verbarrikadierten Stadtteilen, Horden von Personen in Kontaminierungsanzügen unter Schwärmen von Helikoptern auf uns ein. Die unbeschreiblichen Leichenberge versuchte man uns zu ersparen.
Als Sitz des Ringonen Rates war New Kairo eines der großen spirituellen Zentren der Vereinigten Central Staaten. Die Bauwerke des alten Monotheismus wurden damals, in den Zeiten des Kulturschocks, zu Versammlungsorten der Daanier mit islamischer Prägung, die bis heute ihren speziellen Einfluss auf die Entwicklung des Daaniertums bewahren konnten. Aber auch die Daanjeries bildeten hier in allen Teilen der Stadt und der Gesellschaft eine starke Oppositionsbewegung. Diese Konstellation machte aus Kairo in den Tagen vor dem großen Sterben ein brodelndes Pulverfass.
Als an diesem 12. Oktobar sehr rasch Filmmaps von unzähligen Menschenopfern, als Leichenberge aufgehäuft, im INet auftauchten, die Entsetzen auslösten, verhängte der Gouverneur von New Kairo die totale Nachrichtensperre und rief das Kriegsrecht über das gesamte Stadtgebiet aus. Nur eine Stunde später, trat der Präsident der Vereinigten Central Staaten, Lessly Okama vor die Weltmedien und erklärte, dass in Kairo ein furchtbarer Terroranschlag mit hochtoxischen Nanobakterien stattgefunden habe, die von manipulierten Insektenschwärmen im Stadtgebiet verbreitet worden waren. Nach ersten Erkenntnissen müsse eine ganz bestimmte Gruppe aus dem Umkreis von fanatisierten Daanjeries dafür verantwortlich gemacht werden. Er nannte Namen, legte Netzwerke und mögliche geheime Laborzellen offen. Als erste Opferzahlen bekannt wurden, brach eine Verleumdungskampagne der Medien über uns herein. Kairo war in kürzester Zeit grausamst entvölkert worden und zu einer stark dezimierten Megacity verkommen. Uns erfasste das Grauen. Bis heute wird New Kairo komplett abgeschottet, ein weißer Fleck unter absoluter Geheimhaltung.
Wir Daanjeries wussten zunächst nicht, wie wir auf diese Tragödie reagieren sollten. Unser radikaler Flügel bestritt die Tat, aber die Beschuldigungen waren nicht so einfach von der Hand zu weisen. Das politische Klima verschärfte sich von heute auf morgen. Militärapparate und Geheimdienste bekamen unbegrenzte Vollmachten. Die Haftanstalten füllten sich. Jeder Daanjerie musste in dieser Zeit damit rechnen, unversehens das irdische Nirwana kennenzulernen. Die Regierung baute schon seit langem an einem weltumspannenden Sicherheitssystem, scheitete aber immer wieder an der Gesetzeslage und an den menschlichen Unzulänglichkeiten. Nun, da die Welt unter Schock stand, nutzte man die augenblickliche Machtverteilung und baute aus den vielen privaten Sicherheitskonzernen „Univers Shield“, eine halbstaatliche Kontroll- und Überwachungsinstitution, um die wichtigsten Instrumente der staatlichen Gewalt und der hoch effizienten privaten Sicherheitstechnologien unter einem Dach zu vereinen, ohne der Legislative entscheidende Kontrollfunktionen zugestehen zu müssen. Aus Univers Shield wurde ein Apparat, der alle Lebensbereiche durchdringen und damit die Welt fest im Griff behalten sollte.“
Der Kopie Artur Lassalles schien die Luft auszugehen. Sie schwieg jetzt bedeutungsschwer. Schwebte dabei unfassbar leicht über den reich verzierten Steinfußboden und mit ihren Bewegungen wandelten sich auch die übergroßen Schattierungen der Lichtgestalt auf den Säulenrundungen zu einem schaurigen Tanz der Schatten. Was hatte dieses Wesen da von sich gegeben? War das eine Warnung oder schon eine Drohung? Naila Elisar und Ali Snitz schauten sich an und waren sich einig, dass sie bis jetzt nur einem inhaltsschweren Schauspiel beigewohnt hatten, das ihnen Geschehnisse der Oberfläche näher bringen wollte, aber ohne unmittelbare Auswirkungen blieb. Der 12. Oktober 2146 war für sie nur ein historisches Katastrophenszenario unter vielen. Was aber hatten diese Ereignisse mit ihrer Gegenwart im Transhumanum zu tun? Lassalle hatte nicht gesagt, warum wir überwacht worden sind und warum alles so klinisch sauber sein musste in diesen menschenleeren Labors. Ahnte dieser Artur Lassalle überhaupt etwas von ihrer persönlichen Anwesenheit, was eigentlich ganz unmöglich schien. Die Gestalt erneuerte nun ihre Präsenz, indem sie sich durch zusätzliche Lichtstrahlen noch plastischer darstellte und fand auch sogleich neue Worte.
„Ihr glaubt zu wissen nach was ihr suchen müsst, um die ganze Wahrheit des Rings zu erfahren. Aber täuscht euch nicht, ich bin mir sicher, dass ihr die Konsequenzen nicht bedacht habt. Ihr seit auf dem besten Weg, Univers Shield auf euch aufmerksam zu machen. Was das bedeutet, habe ich versucht euch klar zu machen. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorstellen zu können, was diese mächtige Institution vermag, wenn man ihr in die Quere kommt. Elisar, du spürst, dass etwas in deinem Körper vorgeht. Ich weiß, dass du neues Leben hervorbringen wirst. Dieses neue Leben muss unter allen Umständen beschützt werden. Es hängt sehr viel davon ab. Mein Sohn muss leben, weil er ein ganz besonderer Mensch werden wird. Er muß in Subworld geboren werden. Darum beschwöre ich euch, geht diesen Weg nicht weiter, kehrt um.“
Lassalles letzte Worte gingen in einem Aufschrei Elisars unter, die all ihre Energie aus sich herauspresste. Sie kauerte auf dem Boden und drückte schreiend ihre Stirn gegen die Mosaiken. Dabei jagte ein Echo um die Säulen, als ob man die schauerlichen Klagen eines ganzen Chores zu vernehmen glaubte. Oreade beugte sich sanft über sie, legte den Kopf auf ihre Schultern und versuchte sie zu beruhigen. Ihre Schwangerschaft mit ihren sichtbar fülligeren Körperrundungen konnte sie nun allerdings nicht mehr als übliche Fressmarotten abtun. Sie hatte natürlich geahnt, was mit ihr los war, wollte es aber nie wirklich wahr haben. Nachdem sie sich ausgetobt hatte, blickte sie nur verschämt ins Leere. Die Lichtgestalt des Arthur Lassalle hatte sich aufgelöst. An seiner Stelle verglühte nun über ihren Köpfen einsam ein Ring, wie ein sterbender Stern, der nichts Gutes verheißen lässt in diesen unterirdischen Gefilden des Transhumanums. Für einen Moment schien die Zeit stehen geblieben zu sein, denn sie bemerkten, wie müde sie waren und bald fielen alle erschöpft in einen tiefen Schlaf.