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3 Ferner Handel – Die Pfade der Wurzel
ОглавлениеWährend das Süßholz eine weltweite Anerkennung genießt, ist der Genuss von Lakritz eine europäische Angelegenheit. Denn auf keinem anderen Kontinent zeigt die Wurzel durch ihre Verarbeitung und Anwendung eine solche Raffinesse und Vielfalt wie in Europa. Die Wurzel sollte hier jedoch erst im Mittelalter ihre volle Akzeptanz finden, nachdem deren Bekanntheit zeitweilig in Vergessenheit zu geraten schien. Deshalb steht nun die Frage im Vordergrund, welche Pfade die Glycyrrhiza seit der Antike auf ihrem Weg in nördliche Gefilde einschlagen musste, um zu diesem Ansehen zu gelangen.
Zunächst ging es nach dem Untergang des weströmischen Reiches um eine Positionierung im Kampf gegen das ›Fremde‹, das von der neuen christlichen Welt mit den antiken Lehren und Wissen verbunden wurde. Denn neben der Zerstörungswut einfallender Barbaren galt es auch, das von den Gelehrten der Antike mühsam zusammengetragene Wissen, und damit die vielen Süßholz-Rezepte, gegen die Schmähungen der christlichen Kirche zu verteidigen und vor dem Untergang bzw. ihrer Zerstörung als ›heidnische‹ Schriften zu retten.
Diese Aufgabe übernahmen ab dem 6. Jahrhundert paradoxerweise Benediktinermönche, die nach Auffassung des Apotheker-Chronisten Adrien Phillippe eher aus Langeweile denn zum Wohle der Wissenschaft die antiken Schriften kopierten und sich so dieses Wissen aneigneten.1 Vor allem durch den Codex »Regula Benedicti«, der Anweisungen für die praktische und literarische Pflege des antiken Wissens enthält, übermittelte der Klerus in seiner Missionstätigkeit der folgenden Jahrhunderte dem paganen Europa nicht nur seine christliche Lehre, sondern auch die Erkenntnisse der antiken Kultur: der Sprache und Literatur, der Künste, der technischen Wissenschaften, Naturwissenschaften und der Medizin.
Darüber hinaus besaßen die Mönche genügend Kenntnisse von der Heilwirkung der Kräuter, um die Arzneien aus der Natur selbst zu bereiten. Ihren Arzneischatz lieferten anfänglich noch die Pflanzen und Kräuter in Steppe und Wald, an Hecken, Ackerrainen und Bachufern. Mit der Regula ist den Benediktinern aber auch der Gartenbau zur Ordenspflicht gemacht worden. In vielen Regionen Europas ebneten die Mönche mit ihren Klostergärten den Weg für eine Kultivierung unbekannter Pflanzen, worunter sich auch die Glycyrrhiza befunden haben soll.
Um der Süßholzwurzel jedoch die Popularität angedeihen zu lassen, die sie im späten Mittelalter erhielt, wurden andere Wege eingeschlagen. Während im westlichen Europa die medizinische Wissenschaft in dichter Finsternis zum Erliegen kam, erblühte sie nach der Teilung des römischen Reiches (337 n. Chr.) im Osten, denn der antike Wissensschatz wurde im oströmischen Byzanz weiter gepflegt und entwickelt. Ein Beispiel hierfür ist die 72-bändige Enzyklopädie des Arztes und Historikers Oribasius aus Pergamon (ca. 325-403), Leibarzt von Kaiser Julian. Diese Enzyklopädie wurde aus den Werken Galenos und anderer Ärzte zusammengestellt. Auf das Wissen von Galen stützte sich auch der lydische Arzt Alexander Trallianus (525-605). In einem Süßholz-Rezept gegen Schlafmangel durch das Herabfließen eines dünnen Sekrets vom Kopf in die Luftröhre empfiehlt er einen Sud aus Mohnköpfen (Opium) angereichert mit Honig, Süßwein und Süßholz, wobei das Süßholz, falls nicht frisch vorrätig, auch durch den aus Kreta importierten Extrakt ersetzt werden kann.2
Ab dem 7. Jahrhundert schloss sich an das byzantinische Reich durch den Gebietsverlust nach der ›islamischen Expansion‹ gegen Süden und Osten ein Hinterland an, das unter dem Einfluss der arabischen Kultur zu einem Paradies erblühte. Mit der Besetzung der iberischen Halbinsel von Mauren im 8. Jahrhundert erstreckte sich dieses neue muslimische Reich zeitweise sogar von Sevilla bis Samarkand und von Aden bis Tiflis. Die unterschiedlichen Kulturen, Glaubensrichtungen und Verwaltungssysteme der besetzten Territorien wurden übernommen, toleriert und in die Gesellschaft der islamischen Kalifate integriert. Dies bildete die Grundlage, auf der dann antikes und arabisches Wissen miteinander verschmolzen. Viele Schriften berühmter Gelehrter der Antike wurden nun aus dem Griechischen ins Arabische übersetzt und durch eigene Erkenntnisse erweitert.
Gerade diese Assimilation des Wissens führte zur Schaffung einer eigenständigen Heilkunde, aus deren Feder neue Wortschöpfungen wie Alkohol, Sirup oder Julep stammten. Entwickelt wurde auch das Lacuq (Looch), ein den Latwergen ähnlicher, dünner, süßer Gelee, der wie ein weiches Bonbon aufzulecken ist. Die schleimigen Teile von Früchten und Wurzeln werden hierzu aufgekocht und mit Mandelöl und Honig vermischt. Nach einem Süßholz-Rezept, das auch einer heutigen Anweisung für ein Lakritz-Bonbon entsprungen sein könnte, werden hierzu Gummiarabikum, Traganth, Succus Liquiritiae, Zucker und eine Latwerge von Samen geschälter Quitte, süßen Mandeln und gezuckerten Kürbiskernen miteinander vermischt und aufgekocht, bis es eine zusammenhängende Masse bildet, aus der man ein liebliches Hustenmittel enthält. Eine Lakritz-Apotheose der arabischen Heilkunst anderer Art ist ein Rezept, bei dem Süßholzpulver und andere Zutaten mit Veilchensirup und Rosenwasser angedickt werden. So zauberhaft es klingt, so banal ist seine Anwendung: Am späten Morgen geschluckt, hilft das Mittel gegen brennenden Harnausschuss [Tripper].3
Verbunden mit den arabischen Neuerungen kam der Wissensschatz der Antike dann an den kulturellen Nahtstellen von Orient und Okzident zurück nach Europa. Zwei Städte mit unterschiedlicher Geschichte spielten dabei eine wesentliche Rolle: Toledo und Salerno.
Im spanischen Toledo, das von 711 bis 1085 unter maurischer Herrschaft gestanden hatte, wurden zahlreiche Texte aus dem Arabischen ins Lateinische übertragen. Beispielhaft für diese Epoche der maurischen Gelehrsamkeit mit ihrer Vorliebe für die süße Wurzel sei der in Malaga geborene arabische Botaniker und Arzt Ibn-al Baithar (gest. 1248) genannt. Er stützte sich in seinem Werk nicht nur auf die Ausführungen von Dioskurides und Galen, sondern auch auf den Arzt Avicenna (Ibn-Sina, 980-1037). Dieser vereinte in seinem ›Kanon der Medizin‹ (Qanun al-Tibb) griechische, römische und persische Traditionen und beschrieb 760 Medikamente mit Angaben zu deren Anwendung und Wirksamkeit. Avicenna empfahl Süßholz neben den Erkrankungen des Atmungstraktes, des Magens, der Niere und der Blase auch als Wundmittel und bei Geschwüren. In der Übersetzerschule von Toledo wurde eine Abschrift seines Kanons angefertigt, auf die Ibn-al Baithar zurückgreifen konnte und die er mit eigenen Kommentaren versah.4
Abb. 7 Glykyrrhiza, Abbildung aus dem ›Pariser Dioskurides‹ (9. Jh.)
Im italienischen Salerno entstand Ende des 10. Jahrhunderts die erste medizinische Fakultät Europas. An dieser weltoffenen Schule, die nach einer praxisorientierten Lehre ausgerichtet war, studierten neben christlichen Klerikern und Laien auch Juden und Frauen. Ihren Ruhm erlangte diese Schule durch den Einfluss des in Karthago geborenen Arztes Constantinus Africanus (1018-1087). Er gab mit seinen Übersetzungen arabischer Schriften in die lateinische Sprache nicht nur dem europäischen Medizinalwesen neue Impulse, sondern richtete hier ein Zentrum zur sorgfältigen Untersuchung der Glycyrrhiza auf ihre pharmakologischen Eigenschaften ein.5
Eine seiner Quellen ist das Werk des Gelehrten Abū Manșū Muwaffaq, der eine eigene Materia medica (ca. 980) in persischer Sprache verfasst hat. Nach Art von Galen beschreibt Manșū Muwaffaq die Süßholzwurzel als mäßig heiß, feucht und kalt, deren adstringierende Wirkung mit Feuchtigkeit gemischt sei. Neben den bekannten Anwendungsmethoden erleichtere der Saft den Frauen die Geburt und fördere den Brechreiz. Die Blätter sollen auch den üblen Geruch der Achselhöhle und des Fußes beseitigen.6
Die Schule von Salerno mit ihrer praxisnahen Ausrichtung ist zwar seit der Entstehung neuer Universitäten während des 12. und 13. Jahrhunderts in Montpellier, Bologna, Paris, Oxford, Cambridge und Padua unbedeutend geworden. Allerdings waren die in Salerno verfassten Lehrbücher noch lange Zeit als ärztliche Ratgeber in Umlauf. Zum Beispiel stellte die Drogenliste der Salerniter, die Alphita, für viele Arzneihändler bis in die Frühe Neuzeit eine verbindliche Richtschnur für ihren Drogenbestand dar. Zu den Werken, die hier ihren Ausgang nahmen, zählen auch das ›Antidotarium Nicolai‹ und der ›Liber de simplici medicina‹ (auch bekannt als ›Circa instans‹). Während das Antidotarium Nicolai recht komplizierte Arzneiformeln mit Angaben der Wirkungsweise und Anwendungsart enthält, werden in der Circa Instans die Drogen alphabetisch aufgelistet und ihre Elementarqualitäten sowie Indikationen beschrieben. In diesen und weiteren Kompendien aus dem 12. Jahrhundert durfte das Süßholz natürlich nicht unerwähnt bleiben. Matthaeus Platearius (M. de Platea; gest. 1161), ein Arzt und Lehrer an der Schule von Salerno und Verfasser eigener medizinischer Schriften, gibt sogar eine Anweisung für die Succus-Herstellung und benennt die noch heute handelsüblichen Formen: »Man zerstößt oder zerquetscht die Wurzeln, kocht die Masse mit Wasser aus, dickt die Lösung bis fast zum Trocknen ein, presst ab, trocknet den Extrakt an der Sonne und formt ihn, der Gestalt der benutzten Gefäße entsprechend, in Kuchen, Stangen oder runde Stücke.«7
An den neuen Universitäten, die unter starkem kirchlichem Einfluss standen und an denen Frauen nicht zugelassen waren, wurde das Medizinstudium allerdings ein Teil des ›Studium Universale‹ und war eher Gegenstand theoretischer Betrachtung als das Resultat praktischer Erfahrung. Gelehrt wurde dort eine Schulmedizin, die keineswegs das Vertrauen und die Anerkennung genoss, die der heutigen Medizin zuteil wird. Mit ihrer Etablierung trug sie jedoch entscheidend zum Untergang der weiblich-dominierten Heilkunde bei. Dabei waren die weisen Frauen jahrhundertelang die einzigen ›Samariterinnen‹ der Landbevölkerung. Denn während die Kaiser, Könige, Päpste und reichen Adligen ihre eigenen Ärzte hatten, konnten sich die einfachen Menschen auf dem Lande, wohin sich keiner der ›studierten‹ Laienärzte verirrte und wo die Kirche als Heilmittel nichts außer Wasser anzubieten hatte, nur an diese Frauen wenden. Dass die Süßholzwurzel nicht zu dem Repertoire der heilkundigen Frauen zählte, soll hier nicht weiter beunruhigen, denn einerseits ist die Quellenlage sehr dürftig, andererseits verwendeten sie nur den heimischen Pflanzenschatz, worunter in vielen Regionen, vor allem in Mitteleuropa, die Süßholzpflanze (noch) nicht zählte.
Bekannt war die Wurzel allenfalls durch einige wenige Kräuterbücher und Rezeptsammlungen und wurde zum Beispiel im Codex Bambergensis (ca. 795) und im Codex Sangallensi (ca. 1260) als Heilmittel aufgeführt.8 Erstaunlich ist allerdings, dass die Äbtissin Hildegard von Bingen (1098-1179) in ihrer Schrift ›Ursachen und Behandlung der Krankheiten‹ zwei Rezepte mit Süßholz (Succus Liquiricus) benennt, eines mit Fenchel und Honig gegen Herzleiden und das andere als Abführmittel:
»Ein Mensch, der Abführgetränke herstellen und geben will, soll Ingwer, halb soviel Süßholz und ein Drittel soviel Zitwer wie Ingwer nehmen, dies pulverisieren und durchsieben und schließlich das ganze Pulver abwiegen. Dann nehme er so viel Zucker, wie das Pulver wiegt.«9
Hildegard von Bingen übernahm zwar nicht einfach kritiklos die Drogenkunde des Altertums, sondern bildete sich durch Beobachtung und praktische Erfahrung ihre eigene Meinung zur Wirkungsweise der einzelnen Heilpflanzen und bezog das naturkundliche Volkswissen ihrer Umgebung mit ein. Der Einsatz der Glycyrrhiza ist aber sehr wahrscheinlich nicht ihren naturheilkundlichen Kenntnissen, sondern vielmehr dem Einfluss der Klostermedizin zu verdanken. Ungewiss ist auch, ob sie auf Wurzeln aus dem eigenen Klostergarten zurückgreifen konnte oder das Süßholz über den Handel erstanden hat.
Im 12. Jahrhundert ist jedenfalls ein Handel mit der Süßholzwurzel nach Deutschland nachgewiesen. Sie wird in zwei Zolltarifen aus Stain an der Donau in Niederösterreich, einer Zollstätte an der Hauptstraße des Transithandels von Konstantinopel nach Deutschland, aufgeführt. Neben Süßholz wurden auch andere orientalische Kostbarkeiten, Aromen, Räucherwerk, duftende Gewürze und seltene Drogen, außerdem Seiden- und Goldstoffe, Priester-Ornate, Purpurmäntel und messingbesetzte Degenkoppeln gegen Waffen, Wolle, Tuch, Metalle und Holzwaren getauscht. Der Preis für Süßholz wird auf dieser Zollliste mit »Saum likoricii XXIIII or denaren« (24 Gold-Denare) angegeben.10
Der Beginn des Handels nach Konstantinopel reicht zwar in das frühe Mittelalter zurück. Mit den Kreuzzügen des 12. und 13. Jahrhunderts hatte er aber eine so große Ausdehnung, dass er mitunter den Beginn des interkontinentalen Transithandels markierte. Während dieser Zeit beluden die europäischen Kaufleute und Drogenhändler ihre Schiffe mit den begehrten orientalischen, vorder- und ostasiatischen Luxuswaren und wohlriechenden Stoffen nicht nur in Konstantinopel, sondern auch in den Mittelmeerhäfen von Beirut, Alexandria, Accon und Tyrus und brachten sie nach Italien. Aus dieser Zeit ist in einem venezianischen Seestatut von 1233 die Bestimmung für die Ausfuhr von Süßholz aus Syrien festgehalten. Laut diesem Statut wurden die Waren nach ihrem Verhältnis von Gewicht und erforderlichem Raum in drei Ladeklassen eingeteilt, wobei Süßholz zu der ersten Ladeklasse gehörte.11 Die größten Umschlaghäfen, von denen die Waren dann per Landweg oder zur See weiter nach Norden transportiert wurden, waren die beiden Stadtstaaten Venedig und Genua.
Von Venedig aus setzte sich im späten Mittelalter der Handel mit der Süßholzwurzel in nördliche Richtung auf den alten Handelsstraßen über den Ostalpenpass, die die Lagunenstadt mit der Donau und dem Rhein verbanden, fort. In Deutschland gelangten die Waren landeinwärts direkt in die großen Handelsstädte Nürnberg, Augsburg und Regensburg oder in die Messestädte Frankfurt (Main), Braunschweig oder Leipzig. Dort deckten sich dann auch die Arzneihändler mit den Drogen ein, die sie nicht aus der näheren Umgebung beziehen konnten.
Dieser vermehrte Handel barg auch Gefahren. So war die Verbreitung der Pest in der Mitte des 14. Jahrhunderts über weite Teile von Europa der Vernetzung durch Handelskontakte zuzuschreiben. Seinen Ausgang nahm der ›Schwarze Tod‹ 1346 an der Seidenstraße, wo Pelzhändler mit virenverseuchten Murmeltierfellen ihren Handel trieben. Über Astrachan und Kaffa (Feodossija) gelangte der Virus schließlich auf dem Seeweg nach Konstantinopel und verbreitete sich weiter nach Westeuropa und den nordafrikanischen Ländern, bis die Seuche 1352 in Russland abklang. Ein Drittel der damaligen europäischen Bevölkerung fiel der Pest zum Opfer. In vielen Städten wurde zur Bekämpfung der Pandemie eine ›Pestschrift‹ erlassen, die einen Verhaltenscodex und Rezepte enthielt. Unter den hilfreichen Drogen zur Bekämpfung der Seuche wurde auch das Süßholz aufgezählt, so zum Beispiel in der Pariser Pestschrift von 1348.12 Durch solche Schriften erlangte die Glycyrrhiza im 14. Jahrhundert eine, wenn auch ungewollte, so doch europaweite Bekanntheit.
Die verheerenden Seuchen des 14. Jahrhunderts führten ebenfalls zu einer starken Vermehrung der Apotheken. War der Apotheker ursprünglich ein Händler, der von Stadt zu Stadt zog und seine Waren in offenen Verkaufsständen anbot, ließ er sich im Laufe des 14. Jahrhunderts häuslich nieder und regelte seine Geschäfte aus den Kontoren. Den Kontoren angeschlossen waren die ›Apotheca‹, zunächst Lagerräume für Waren unterschiedlichster Art, die sich ab dem 14. Jahrhundert zu den heute wohl vertrauten Handelsorten für Arzneimitteln entwickelten.
Ab dem 15. Jahrhundert lässt sich der Handel mit der Süßholzwurzel durch den Weg, den die Arzneimittel in die Apotheken-Lager genommen haben, weiter nachzeichnen. Bezeugt durch die Arzneitaxen13, die von dem Magistrat der Städte und den Landesfürsten aufgestellt wurden, um die Preise für Arzneimittel festzulegen und dadurch einen aus der Not der Kranken heraus denkbaren skrupellosen Handel mit Heilmitteln zu unterbinden, taucht die Wurzel zum ersten Mal in einer italienischen Liste aus Ferrara von 1424 als Requelizia auf. 1450 befindet sie sich auf einer Taxe der Stadt Frankfurt (Main), wo sie als Liquericia angeboten wurde.
In dem darauffolgenden 16. Jahrhundert geben die Medikamenten-Listen jedoch nicht nur Aufschluss über die Bezeichnung der angebotenen Waren, sondern auch über deren Darreichungsform und Herkunft. In dem Drogenverzeichnis der Stadt Esslingen von 1550 befindet sich der Succus Liquiritie, in der Apothekentaxe von 1571 sogar ein liquiriciae liquor cond., ein kondensierter Lakritz-Likör, und eine brandenburgische Taxe von 1574 weist geschabtes Süßholz (Glycyrrhizae rasae) aus. Mehrere Listen führen Kreta als Herkunftsort für den Succus auf, zum Beispiel die Frankfurter Listen von 1582 und 1609, die Taxen der Stadt Mainz von 1605 und Schweinfurt von 1608. Darüber hinaus stehen die ›skythische‹14 und ›spanische‹ Wurzel (Rad. Dulcis Scytia et Hispanica, Frankfurt a. M. 1582) und der ›venezianische Süßholzsaft‹ (Worms, 1609) in hohem Kurs.
Doch das Süßholz wurde von Venedig oder Genua nicht nur auf dem Landweg über den Alpenpass in den Norden gebracht. Die Galeeren der italienischen Händler umschifften auch die iberische Halbinsel weiter nach Flandern und Brabant, Brügge und Antwerpen. Die Niederlande erhielten bereits im 13. Jahrhundert ›recalisse‹ aus Italien und Spanien, und im 14. Jahrhundert wurde es auch über Hamburg und Lübeck eingeschifft. Aus Flandern gelangte das Süßholz in die nördlichen Regionen, vor allem nach Dänemark, wo Hendrik Haperstreng schon 1244 seine Heilwirkung lobte.
Den Schiffstransport von spanischem Süßholz nach Nordeuropa bezeugt auch die Schmähschrift »The Libelle of Englyshe Policye« (Das Büchlein von Englischer Staatsklugheit) aus dem Jahre 1436. In dem ersten Kapitel werden die Waren aufgezählt, die von Spanien nach Flandern zum Hafen von Brügge verschifft werden:
»Ihr, die ihr’s wissen wollt, mögt jetzt erfahren,
Was aus Hispanien an brauchbaren Waaren
Zum Handel kommt. Es sind dem Lande eigen
Rosinen, Datteln, Bastardwein und Feigen,
Sevilla-Oel, Süßholz zu bill’gen Preisen
Castil’sche weisse Seife, Wachs und Eisen,
Korn, Wolle, Fries, Ziegen- und Lammfell auch,
Für Laschen-Macher trefflich zum Gebrauch,
Quecksilber, Schwefel.«15
Diese Verse zeigen eindeutig, dass im 15. Jahrhundert die spanische Süßholzwurzel (»dem Lande eigen[e Waren]«) und nicht mehr das Süßholz aus der Levante zu billigen Preisen gehandelt wurde. Für den regen Tausch mit der spanischen Wurzel spricht auch die Handelsbezeichnung ›Spanisches Süßholz‹, die seit dem Mittelalter verbreitet ist.
Im gleichen Zeitraum, wie der unbekannte Autor der ›Englischen Staatsklugheit‹ die spanischen Galeeren mit Süßholz an den englischen Küsten vorüberziehen sah, soll sich auch ein französischer Staatsmann um die Verbreitung der Pflanze verdient gemacht haben. Es ist Jacques Cœur (1395-1456), der Kaufmann aus Bourges und Schatzmeister des französischen Königs Karl VII., ein kluger Geschäftsmann und Abenteurer seiner Zeit, dem am Ende seines Lebens durch eine Intrige der Mord an der Favoritin des Königs, Agnès Sorel, vorgeworfen wurde. Durch seine Verbindungen mit dem Hause Aragon, dessen Königreich auch Sizilien und Süditalien einbezog, hatte er rege Handelsbeziehungen nach Neapel. Die Schiffe seiner Handelsflotte sollen, unbestätigten Quellen zufolge, von hier das kalabresische Süßholz nach Marseille und Montpellier mit sich geführt haben. Ein solcher Handel zwischen Sizilien und Marseille wird jedoch bereits im 12. Jahrhundert erwähnt. Demnach hatte ein französisches Schiff in Italien 17 Pack (etwa 480 kg) gebündeltes Süßholz (faisos Liquiricie) an Bord genommen.16
Über das Mittelmeer und die Levante kamen mit der französischen Handelsflotte aber auch andere, seltene Spezereien nach Europa – so zum Beispiel das Gummiarabikum, das bis in die heutige Zeit als natürliches Bindemittel für die Lakritz-Herstellung eine wichtige Rolle spielt.17 Ursprünglich wurde das Gummiarabikum in Ägypten eingeschifft. Hierher kam das Beste aus der senegalesischen Akazie gewonnene Harz, von der Westküste Afrikas. Es wurde quer durch den ›arabischen‹ Kontinent zu den Häfen der Levante transportiert, was ihm auch seinen Namen gab. Dieser Handelsweg verkürzte sich, als 1364 französische Kaufleute aus Dieppe die westafrikanische Küste ansteuerten, das Gummiarabikum aus dem Senegal ausführten und vor Ort eine Handelsgesellschaft gründeten, die von nun an den europäischen Kontinent auf direktem Wege mit dem teuren Harz versorgte. An dem Handel mit Gummiarabikum beteiligte sich auch Jacques Cœur, dessen Schiffe in den französischen Mittelmeerhäfen anlegten.
Montpellier, eines der Zentren seiner Handelstätigkeiten, stand im Mittelalter ebenfalls unter dem Szepter des Hauses Aragon und unterhielt Konsulate in Accon, Tyrus und Tripolis. Die Stadt lag an der mittelalterlichen Salzstraße und war eine Station auf dem Jakobsweg, der zahlreiche Pilger zum Grab des heiligen Apostels Jakob nach Santiago de Compostela führte. Bereits im 12. Jahrhundert bezeugte der Rabbiner Benjamin bar Jona aus Tudela in Kastilien in seinem Reisebericht den frühen Handel in Montpellier.18 In diese Zeit wird auch die Legende über schlaue Händler angesiedelt, die mit kleinen Lakritz-Honigkugeln das Wechselgeld aufrundeten, das sie an die Pilger des Jakobswegs herausgaben, wenn diese auf ihrem Weg nach Santiago de Compostella in der Basilika Notre-Dame-des-Tables eine Pause einlegten.19
Parallel zum Handel hatte sich Montpellier auch zu einer bedeutenden mittelalterlichen Universitätsstadt mit einer starken medizinischen Fakultät entwickelt. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass mehrere chirurgische Schriften im 13. Jahrhundert den ›Succus liquiritiae‹ erwähnen und selbst die Empfehlung zum Befördern des ›Zahnens‹ bei kleinen Kindern, niedergeschrieben von dem italienischen Arzt Aldebrandino di Siena (1256), aus Montpellier stammt.20 Für den Gründer der Universität, den Burgunderkönig Phillip IV. (1268-1314), wurde auch eine Handschrift des Platearius (der sog. Codex Hamilton) angefertigt, die eine frühe Abbildung einer stilisierten Süßholzwurzel enthält.
Abb. 8 Liquirite, Abbildung des Codex Hamilton (13. Jh.)
Ebenfalls in Montpellier soll das erste pharmazeutische Konfekt hergestellt worden sein. Diese Behauptung stützen die Manuskripte des berühmten Anatomie-Professors Bénédicitin (1494-1553). Nach seinen Rezepten hätten ortsansässige Apotheker kleine Lakritz-Dragées hergestellt, die als Glücksbringer von den Absolventen der Fakultäten verteilt wurden.21
Die Süßholzwurzel wurde jedoch nicht nur über die Handelszentren eingeschifft und in den Handels- und Messestädten angeboten, sondern auch in heimischen Gefilden angebaut. Wo es die Bodenbeschaffenheit und die klimatischen Bedingungen zuließen, war die Wurzel ein Bestandteil der Kräutergärten. Diese waren nach dem Vorbild der Klostergärten ausgebaut und gehörten den Apotheken oder wurden von Städten und Gemeinden angelegt. In solchen Gärten, so genannten Viridarien, zogen die Apotheker einen Teil ihrer Arzneipflanzen, die zur Ergänzung des Drogenbestandes, aber auch dem Studium dienten, selbst heran. Erst durch einen solchen Anbau wurde die Süßholzwurzel vollständig in den europäischen Arzneimittelschatz integriert.
Frühe Anzeichen für den Pflanzenanbau liefert bereits die erste christliche Weltchronik des Sextus Julianus Africanus aus Jerusalem (3. Jh. n. Chr.). Er schrieb, dass der Wein fruchtbarer werde, wenn man Süßholz dazwischen pflanze. Enthalten ist diese Empfehlung in der ›Geoponica‹, einem Sammelwerk über den Landbau, das Kaiser Konstantin VII. von Byzanz während seiner Regierungszeit (912-959) anlegen ließ. Noch zu seiner Zeit galt, dass Süßholz die Fähigkeit habe, Weinstöcke zum reichlichen Tragen zu bringen.22
Ungeachtet dieser Quelle konkurrierten bis ins 20. Jahrhundert vor allem Spanien und Italien um die Vorherrschaft, die Pflanze als erste kultiviert zu haben, obwohl in beiden Ländern Regionen mit wildwachsendem Süßholz vorhanden sind. Vor allem in Italien gilt Plinius’ Bemerkung über die sizilianische Wurzel als Beweis, das älteste süßholzkultivierende Land in Europa zu sein. Doch erst 1076 wird ein möglicher Anbau in Florenz erwähnt, der durch Steuerabgaben an ein städtisches Kloster in Form von ›rigritia‹ nachweisbar sei.23 Dies ist jedoch kein Beweis für einen Anbau in Italien. Vielmehr bedurfte der Süßholzstrauch in diesen Regionen keiner besonderen Pflege, sondern er war als Wildwuchs verbreitet. Erst am Anfang des 14. Jahrhunderts (1305-1309) beschrieb der Botaniker und Jurist Petrus de Crescentiis (1230-1321) aus Bologna in einem weit verbreiteten und viel gelesenen Buch einige Sätze über die Regeln beim Anbau. 1518 kam dieses Werk in einer deutschen Übersetzung in Straßburg heraus.24 Darin heißt es, dass die Wurzel einen leichten sandigen Boden begehre, um darin zu wachsen, und wenn sein junger Stängel in die Erde gesteckt werde, entstünden daraus andere Wurzeln.
Jedoch ist kaum anzunehmen, dass in Italien die Nutzung der Pflanze im 14. Jahrhundert schon so bedeutend entwickelt war, wie die heutige Ernte vermuten lässt. Vielmehr äußerten sich im Mittelalter die italienischen Autoren etwas verhalten über die italienische Glycyrrhiza. Der italienische Arzt und Botaniker Pietro Andrea Mattioli (1501-1577) schreibt zwar, dass es in großer Menge unter anderem in Apulien und auf dem Berg Gargano wachse und damit gehandelt würde. Doch da, »wo Süßholz einmal hin gepflanz wirdt / da kreucht es hin und wider / und kann schwerlich außgereuttet werden.« Er benennt zudem einen Wildwuchs der Pflanze in der Nähe von Montpellier, der in anderen Kompendien nicht aufgeführt wird.25
Dies alles sind jedoch keine Belege für einen sorgfältigen Anbau der Glycyrrhiza. Ein solcher lässt sich erstmals im 16. Jahrhundert in deutschen Landen finden. Frühe Hinweise liefern zum Beispiel die botanischen Abhandlungen der »Väter der Botanik«, allen voran das »Kreuterbuch« (1539) des Botanikers und Gartenbauinspektors Hieronymus Bock (1498-1554) aus Zweibrücken. In seinen Beschreibungen berücksichtigt er vor allem die Pflanzenwelt seiner engeren Heimat, des Wasgau. Daneben bezog er einige importierte Pflanzen ein, die im Wasgau kultiviert wurden, wie den Mandelbaum, die römische Kamille und das Süßholz.26 Sein Lieferant für die Süßholzpflanze könnte der Besitzer der Nürnberger Apotheke »Zum weißen Schwan«, Georg Öllinger, gewesen sein, der um 1540 einen Kräutergarten anlegte und Hieronymus Bock mit den seltenen Gewächsen aus seinem Garten versorgte.27
Im 16. Jahrhundert trat aber vor allem eine Stadt aus dem Frankenland ins Rampenlicht des Süßholzanbaus – Bamberg. Die Bamberger Gärtnerei – ein Lieferant für jeglichen Genuss – war spezialisiert auf den Anbau von Arznei- und Gewürzkräutern und den Handel mit Gemüsesamen. Das berühmteste Erzeugnis der Bamberger Gartenflur war jedoch das Süßholz.28
Der früheste Bericht über dessen Anbau stammt aus dem Jahre 1520 von Boemus Aubanus (Johannes Boemus, 1485-1536).29 Er schreibt über den Süßholzanbau als eine altgewohnte, längst bekannte Sache, was die Vermutung nahe legt, dass es schon im 15. Jahrhundert angepflanzt wurde. Denn laut Boemus sei die Ernte so reichlich, dass ganze Wagenladungen des begehrten Wurzelwerks abgefahren wurden. Tatsächlich wurden in dem nachfolgenden Jahrhundert mit dem Bamberger Süßholz nicht nur die umliegenden Apotheken, sondern auch das gesamte Frankenland und Städte wie Worms (1609), Goslar (1631) und Frankfurt a. M. (1656) beliefert. Darüber hinaus fuhren Wagen, mit dem Bamberger Süßholz bepackt, nach Böhmen, Österreich und Ungarn, und selbst in Kopenhagen wurde 1619 die Liquiritiae aus Bamberg in den Apotheken geführt, wie aus deutschen und dänischen Apothekertaxen jener Zeit ersichtlich ist.30
Wie das Süßholz jedoch nach Bamberg gelangt ist, wird ein unlösbares Rätsel bleiben. Einerseits besteht die Möglichkeit, dass Benediktinermönche der Bamberger Abtei St. Michaelsberg die Stammpflanze im 14. Jahrhundert mitbrachten und ihre Kultur in der dortigen Gegend einführten. Schließlich kommt in einer Urkunde des Klosters Michelsberg von 1390 der Name »Heinrich Lackritzen« vor. Diese Benennung könnte tatsächlich einen Gärtner bezeichnen, der Süßholz anbaute, oder einen Händler, der vom Verkauf seiner ›Lakritze‹ lebte. Andererseits kann die Wurzel durch den Handel von Venedig nach Augsburg in die Gärtnerei eingeführt worden sein. Schließlich betrieb auch die Nachbarstadt von Augsburg, Ulm, um 1562 den Süßholzanbau.31
Für die Kultivierung der Pflanze eigneten sich vor allem das milde Klima und der leichte Sandboden an den Ufern der Regnitz, jene Bodenstücke und Parzellen, auf denen der Sage nach das Kaiserpaar Kunigunde und Heinrich im 11. Jahrhundert geschritten sein soll, und dadurch an diesen Stellen den Süßholzanbau ermöglichten. Zu jener Zeit war ein Anbau der Pflanze wohl kaum bekannt, doch wird mit dieser Legende die hohe Wertschätzung angedeutet, die der Glycyrrhiza entgegengebracht wurde.
Mit ebensolcher Wertschätzung und gebührender Verwunderung erwähnen auch Ärzte und Botaniker den Bamberger Süßholzanbau in ihren Kompendien. Hieronymus Bock schreibt beispielsweise:
»Wie andere Völker sich des Zuckers rühmen / dürfen wir Deutschen uns des Süßholz nicht schämen / besonders wird der Bamberger Acker gelobt / dass er genügend Süßholz liefern kann / und ist ja solche süße Wurzel samt desselben Saftes lobenswert / und auch nützlicher / bequemer und gesünder / als der Zucker. Sollte ich je zwischen den Beiden eins entsagen müssen / wollte ich lieber den Zucker als das Süßholz entbehren / denn für den Zucker kann ich wohl Honig wählen …«32
Ebenso erwähnt ein enger Freund von Martin Luther, Phillip Melanchthon (1497-1560), das Bamberger Süßholz an einer Stelle seiner 1538 verfassten »Declamatio de encomio Franciae«. Für ihn ist die künstliche Art des Anbaus bewundernswert: »… hier streitet nämlich die Kunst mit der Natur in staunenerregendem Wetteifer.«33 Das gleichfalls im 16. Jahrhundert (1558) erschienene Schwankbüchlein »Katzspori« von Michael Lindener erzählt uns, »daß in Bamberg gute Zwiffel wachsen und das süße Holtz das wie Lebkuchen schmeckt und ein guter trunck safft darauf tut …«34
Einen weiteren Hinweis für die Bamberger Süßholzkultur liefern die Hofkammerrechnungen aus den letzten drei Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts. Sie enthalten Einträge, wonach Süßholzkränze, hergestellt in einer speziellen Flechttechnik, als Ehrengeschenk an benachbarte und befreundete Fürsten offeriert wurden.35 So übersandte beispielsweise 1598 der Fürstbischof Neithard von Thüringen dem Kurfürsten Friedrich von der Pfalz, der ein Bewunderer des Bamberger Süßholzanbaus war, eine Wurzel »welche 42 Werkschuhe« (etwa 12 Meter) maß.
Schließlich bildete der Landvermesser Peter Zweidler das Süßholz 1602 in einer kleinen Vignette, die drei Stauden mit einem langen Wurzelgeflecht und zwei Wurzelkränzen zeigt, auf einem Stadtplan ab.
Abb. 9 Süßholzvignette auf dem Bamberger Stadtplan (1602)
Damit seien genügend Beweise erbracht, die die Vermutung untermauern, dass Bamberg ein mittelalterliches Zentrum des Süßholzanbaus war.
Parallel zu der Entwicklung in Bamberg finden sich zu dieser Zeit auch Belege für einen Süßholzanbau in einem anderen europäischen Land – in England. Hier wird der Handel mit ›griechischem‹ Süßholz von italienischen Kaufleuten zum ersten Mal in einer Haushaltsliste (1264) von Heinrich III. erwähnt.36 Der Bischof Richard de Swinfield verzeichnet in seiner Rechnungsführung aus den Jahren 1289 bis 1290 den Kauf von Süßholz als Gewürz.37 Danach führt das Testament (ca. 1303-1310) von Thomas Button, Erzbischof von Exeter, 13,5 Pfund Liquiricie auf.38 Zeitgleich erhob Eduard I. nach einer Ordonanz von 1305 in London einen Brückenzoll auf Süßholz und anderen Kräutern, um damit die Reparaturkosten der London-Bridge abzudecken.39
Dies sind frühe Hinweise für einen englischen Handel mit der Glycyrrhiza, die aus der Levante und Spanien eingeführt wurde. Den Anlass, die Wurzel auch vor Ort anzubauen, könnte eine Veränderung der englischen Trinkgewohnheiten gegeben haben. Um 1425 wurde Englands wichtigstem alkoholischem Getränk, dem mit Malz bereiteten Ale, erstmals Hopfen hinzugefügt, um es haltbarer zu machen. Hierdurch veränderte sich auch der Geschmack, und das vormals süße Bier wurde bitter. Um diese Bitterkeit auszugleichen, wurde das Ale nun mit Süßholz angereichert, wodurch sich auch der Süßholzbedarf erhöhte und ein eigener Anbau zweckmäßig wurde. Einen frühen Hinweis für den Anbau der Pflanze liefert der Botaniker Thomas Tusser (ca. 1524-1580) jedoch erst im darauffolgenden Jahrhundert in seinem Buch ›Fünfhundert Punkte für gute Landwirtschaft‹ (Five hundred points of good husbandry, 1573). Darin listet er Süßholz als eine der notwendigen Pflanzen auf, die in jedem Arzneigarten angepflanzt werden sollen.40
Wesentlich präziser legt der Chronist John Stow (ca. 1525-1605) den Beginn für den Süßholzanbau in das erste Regentschaftsjahr von Königin Elisabeth I. (1558).41 Aber William Turner (1508-1568), der Gründer der britischen Botanik, benennt als einzigen Anbauort der Glycyrrhiza die Berge in Deutschland. In England hat er die Pflanze niemals wachsen sehen.42
Das Süßholz war zu jener Zeit jedoch nicht nur für die englische Ale-Brauerei oder als Gewürz für Lebkuchen unabdingbar, sondern fand als Pharmakon eine breite Verwendung. Elisabeth I. ließ sich noch im Jahre 1563 von ihrem Botschafter aus Madrid berichten, dass der spanische König Philipp II. (1527-1598) aufgrund eines zu hohen Alkoholkonsums an Gicht litt und sein Hausarzt Dr. Vessalius ein Getränk aus Süßholz und Gerste verschrieb.43 Während sich der englische Hof um das Wohlergehen des spanischen Königs sorgte, stand für die Londoner Untertanen jedoch die Bedrohung durch die Beulenpest auf der Agenda. Eines der Krankheitssymptome dieser Seuche war ein blutiger Auswurf, begleitet von starkem Husten, der mit Kampfer und Süßholz behandelt wurde. Hierdurch, wie auch bereits während der großen Pandemie auf dem europäischen Festland, konnte sich die Glycyrrhiza vollends im englischen Arzneischatz etablieren.44
Im 17. Jahrhundert pflanzte der Londoner Apotheker und seiner Majestät königlicher Botaniker John Parkinson (1567-1650) das Süßholz in seinem Garten in Holborn, jenem Hügel mit der ehemaligen Richtstätte vor den Toren Londons. Eine weite Verbreitung fanden auch seine Rezepte, die oft von nachfolgenden Ärzten kopiert wurden: Destilliertes Süßholz mit Rosenwasser und Traganth als wohltuender Tee, Süßholz aufgekocht mit Quellwasser, Widertod (Trichomanes) und Feigen gegen Husten und Heiserkeit, und feines Pulver zum Reinigen der Augen.45 Der Arzt und Astrologe Nicholas Culpeper (1616-1654) lobte sogar den englischen Saft. Er sei besser als sein spanischer Verwandter. In alchemistischer Manier ordnete Culpeper die Pflanze dem Merkur als segenspendendem Planeten zu.46
Solche astronomischen Vorstellungen sind aus heutiger Sicht sicherlich individueller Natur und nicht auf die Allgemeinheit übertragbar, was aber unmittelbar die Frage nach den geschmacklichen Vorlieben jener Zeit aufwirft. Dies scheint sich vor allem während einer Epoche zu ändern – der Renaissance.