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1028m.Ü. M.

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Müde, erschöpft und völlig außer Atem.

Mehr als einmal stolperte er über nasse, glitschige Wurzeln, welche sich dunkel über den schmalen, mit runden Querhölzern befestigten Steig schlängelten. Trotz seines wetterfesten Anoraks, der langen Sporthose und den festen Schuhen, begann die Feuchtigkeit langsam nach innen durchzudringen. Vorher, bei seinem überstürzten Aufbruch, hatte er auf das sich über dem Wald zusammenbrauende Unwetter nicht geachtet.

Voller Qual war er einfach von seinem Hof losgelaufen, quer über die Wiesen und schnellen Schrittes im dunklen Tannenwald verschwunden. Dorthin eilend, wo er vor Jahren Frieden und Entspannung fand. Wie schon früher wirkte die majestätische Ruhe des Waldes beruhigend, tröstend und besänftigend auf seine verletzte Seele.

Aber dies allein reichte nicht. Zu tief saßen der Schmerz, die Enttäuschung und die Wut auf seine Nebenbuhler. Trauer und Empörung fraßen ein großes, schwarzes Loch in sein Gemüt. Er musste unbedingt nachdenken, ausruhen, zur Besinnung kommen. Oben am See wollte er den dunklen Wassern seinen Kummer anvertrauen, so wie er in seiner Kindheit dort seine Sorgen abgeladen hatte.

Beunruhigt schaute er sich um, erstmals aufmerksam seine Umgebung wahrnehmend. Heutzutage konnte man sich im Schwarzwald kaum mehr verirren! Jeder Steg, jeder Weg, jede Kreuzung, alles war markiert und gut ausgeschildert. Er brauchte diese Hinweise nicht, denn der Wald war schon immer sein Freund gewesen.

Der heftige Schauerregen hatte ihn gleichwohl voll überrascht. Als er den Steig verließ und einen flach verlaufenden Waldweg erreichte, schritt er langsamer voran.

Sein Herz! Es schlug heute fühlbar anders als gewohnt. Da war ein dumpfer, beklemmender Druck in seiner Brust, leichte Schmerzwellen in seinen linken Arm aussendend, verbunden mit einem ziehenden Schmerz in der Nierengegend. Ob er einfach nur Seitenstechen hatte? Er musste wirklich geruhsamer ausschreiten, schließlich war er nicht mehr so ausdauernd wie früher.

Zur Arbeit fuhr er überwiegend mit dem Bus. Nur im Sommer benutzte er manchmal sein Rad, obwohl er dies eigentlich öfters tun sollte. Die paar Kilometer.

Meistens siegte die Bequemlichkeit. Seine Bürotätigkeit, unten in Achern, dabei den größten Anteil seiner Arbeitszeit sitzend vor dem Bildschirm verbringend, trug nicht gerade zur körperlichen Fitness bei. Wenigstens ergab die mit seinem Hof verbundene landwirtschaftliche Nebentätigkeit einen recht guten Ausgleich.

Ein Auto konnte er sich derzeit nicht leisten, verschlang die dringend notwendige Renovierung des alten, unrentablen Hofes doch sehr viel Geld. Einerseits waren ihm für das Grundstück schon einige recht gute Angebote zugegangen; andererseits, er wollte eigentlich nicht verkaufen. Der Hof war und blieb seine Heimat. Hier war er geboren und aufgewachsen und hier wollte er bleiben und eines Tages eine Familie gründen. Aber dazu brauchte er Geld!

Die Landwirtschaft, nur so nebenbei betrieben, brachte wenig ein. Sein Verdienst als Angestellter war nicht gerade üppig. Zusammengenommen war es trotz allem kaum ausreichend. Letztendlich, aus seiner Sicht, die eigentliche Ursache für die Katastrophe. Für den Verlust seines Glückes, für das Ende all seiner Träume und Hoffnungen!

Irene!

Als einfache Aushilfe, für die Küche und Zimmer eines nahegelegenen Gasthofes, kam sie im Frühjahr nach Sasbachwalden.

Romantische Spaziergänge in der aufblühenden Natur. Eine zarte und still beginnende Liebe. Scheue Küsse in der Dämmerung und ...

Der Ausbruch der Leidenschaft inmitten einer Wiese voll duftender Kräuter. Ihre weiche, weiße, erhitzte Haut in einem Meer aus duftenden Blüten. Sie hatte ihn zum Mann gemacht, ihn geleitet und in die Liebe eingeführt. Abende des Glücks und Nächte der vollkommenen Erfüllung!

Aber mit dem Ende des Sommers kühlte auch Irenes Zuneigung merklich ab. Seine auftauchende Konkurrenz war groß, viel zu groß. Und sie besaß schicke Autos, viel Zeit und genügend Geld für Discos.

Das Ende kam vor ein paar Stunden, heute früh, an diesem Samstagmorgen, per Post. Nur wenige paar Zeilen, voll Kälte und Härte. Hals über Kopf hatte er danach den Hof verlassen, war tränenblind den Berg hochgestürmt. Inzwischen war sein Zorn verraucht. Die erste Empörung hatte einer stillen Resignation Platz gemacht.

Das Brigittenschloß lag hinter ihm. Die sagenumwobene Ruine hatte er unterhalb umgangen. Von seinem Hof aus, der in einem kleinen Seitental lag, benötigte auch ein geübter Wanderer gut viereinhalb Stunden bis zum Ziel. Der Weg führte streckenweise steil bergauf. Mehr als die Hälfte hatte er bereits geschafft.

Eine von Sträuchern teilweise zugewachsene Bank, ein paar Schritte in den Wald hineinversetzt, zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Ermattet setzte er sich.

Kalte Nebelschwaden, die Reste des kurzen Herbstgewitters, zogen den Hang herab und trieben vorbei, mal hell und licht, dann wiederum nass, kalt und dunkel. Gleichmäßig drang das leise Geräusch der von Blatt zu Blatt herniederfallenden Regentropfen an sein Ohr. Kleine Rinnsale flossen vor ihm auf dem Pfad, immer tiefere Furchen grabend. Ein Geruch nach Pilzen lenkte ihn kurz ab.

Wenn doch nur der Druck auf seine Brust nachlassen würde! Ob er nicht besser wieder umkehren sollte?

Plötzlich horchte er auf. Schritte! Kräftige, feste Schritte!

Sich weit vorbeugend, erblickte er einen sich nähernden Mann. Breitschultrig, an die zwei Meter groß, in ein sonderbares Wams gekleidet.

Der Fremde schritt zielstrebig näher und bat höflich um Erlaubnis, sich zu ihm setzen zu dürfen, was er ihm auch nickend gewährte. Aus der Nähe sah der Unbekannte eigentlich gar nicht mehr so seltsam aus, ja er benahm sich so, als ob er zeit seines Lebens niemals etwas anderes getragen hätte!

Das ungewöhnliche Äußere passte zu dem Mann mit dem wettergegerbten Gesicht. Ein Gesicht, voll Furchen und Falten, die Spuren eines ereignisreichen Lebens tragend. Seine Kleidung bestand aus einem uralt scheinenden Wams aus grober Leinwand und seine ungeheuren Flößerstiefel waren weit über die Lederbeinkleider heraufgezogen.

Eine beinahe ansteckende Ruhe und Gelassenheit ging von dem Mann aus. Für einen Moment fröstelte ihn neben der Achtung gebietenden Gestalt und ein eisiger Schauer durchfuhr ihn.

»Kalt, Peter, nicht wahr?« Tief und rau, diese Stimme. Nun erschrak er wirklich. Woher kannte der Fremde seinen Namen?

Der Wald ringsum schien schlagartig abzukühlen und abweisend, still und erschrocken den Atem anzuhalten. Doch der ihn zutiefst beeindruckende Fremde sprach gelassen, wie zu sich selbst, weiter:

»Die Geschichte wiederholt sich immer und immer wieder! Jahrhundert um Jahrhundert! Nie sind die Menschen mit dem, was das Schicksal ihnen zumisst, zufrieden! Immer wollen sie ein wenig mehr haben, mehr besitzen! Reichtum! Macht! Liebe! Aber sei ohne Sorge, Peter! Ich kenne Deine Gedanken! In Deinem Fall ist leicht zu helfen!«

In seiner tiefen Verzweiflung, in seiner törichten, alles übertreffenden Sehnsucht nach Irenes Liebe, im quälenden Verlangen nach ihrer Umarmung, ihren Liebkosungen, hätte Peter so gut wie alles versprochen und hingegeben.

»Was verlangst Du?«

Hoffnungsvoll, erwartungsvoll blickte er den Fremden an.

»Sie hat Dir Dein Herz gebrochen! Du brauchst es nicht mehr, Peter! Gib es mir und ich verschaffe Dir alles Glück der Welt! Du brauchst nur Dein Herz zu tauschen, Dein Herz gegen eine Nachbildung aus ...«

Erstarrend hörte Peter diese Worte! Was für ein Spinner! Woher der auch immer seinen Namen wusste, er, Peter Ziegler, brauchte sich in seinem Unglück nicht auch noch zusätzlich verhöhnen zu lassen! Zornig, ohne weiter zuzuhören, was der Fremde weiter zu ihm sagte, stand er auf und wollte gehen. Er kam nicht weit. Der Mann hielt ihn am Arm fest.

»Hör zu, Peter! Dies ist mein voller Ernst! So hoch ist mein Preis nicht! Ein anderes Angebot kann Dich viel teurer zu stehen kommen! Denke darüber nach! Wenn Du mich brauchst, so rufe laut meinen Namen! Ich weiß, Du kennst ihn!«

Wütend und enttäuscht riss Peter sich los und eilte weiter. Als er sich nach kurzer Strecke umblickte, sah er, dass der Fremde, eine schattenhafte Gestalt im Dunst, ihm nachsehend stehen geblieben war. Dann klang es, raunend und flüsternd, vielfältig von den Bäumen als leises Echo zurückgeworfen, durch den ihm nun so unheimlich erscheinenden Wald.

»Rufe meinen Namen! Vergiss es nicht!«

So ein Schwachsinn! Der Mann wollte ihn wirklich ärgern! Natürlich kannte er das Ammenmärchen vom ›Kalten Herz‹! Und er ahnte, wem er begegnet war.

Was für ein Unfug! Übrigens gab es da nicht einen weiteren Berggeist? Ja, richtig! Und dann fiel ihm auch wieder der Vers ein, mit dem man das andere sagenhafte Waldgespenst, das Glasmännchen, rufen konnte. Nun, von dort würde ganz sicher keine Hilfe kommen! Er war kein Sonntagskind! Nein, wirklich nicht! Nur ein Pechvogel, nichts als ein armes Schwein. Und danach dachte er wieder an Irene.

*

Nass glänzend lag das Asphaltband der Schwarzwaldhochstraße vor ihm. Die Sonne hatte das Gewitter vertrieben und tilgte nun schnell dessen letzte Spuren. Nicht viele Autos waren an diesem Herbsttag nachmittags unterwegs. Heute war, fiel ihm gerade ein, wenigstens für ihn, ein besonderes Datum.

Tag- und Nachtgleiche! Ach Unsinn! Wirklich kein besonderer Tag! Nur für Narren, Schwarzseher, Hexen und Druiden! Nichts für moderne, aufgeklärte Menschen! Purer Aberglaube! Oder?

Mit schnellen Schritten überquerte er die B500 und konnte nun den etwas oberhalb parallel zu ihr verlaufenden Jägerpfad benutzen. Der Waldboden war allemal bequemer als der harte Straßenbelag. Und zum See war es nun nicht mehr weit.

Unverhofft taumelte er gegen den Stamm einer mächtigen Tanne. Der Schmerz, der scharfe, stechende Schmerz in der Brust! Er fühlte sich matt und müde.

Gequält wollte er weiter, als sein Blick auf einen Hexenring, gebildet aus Ziegenbart, am Waldboden fiel. Die bisher so harmlos wirkenden, in einem etwas unregelmäßigen Kreis aus der Erde gewachsenen, gelborangen Korallenpilze flammten in einem gespenstischen Licht direkt vor ihm auf.

Eine Warnung? Ein Omen? Erschrocken sah er sich um. Ein sanfter Windstoß durchfuhr den Wald und schüttelte sacht die Baumkronen. Feine Tröpfchen rieselten hernieder, doch er war schon viel zu durchnässt, um es zu fühlen.

Wieder fiel sein Blick auf den Hexenring. Still, ruhig und unbeweglich standen die feinen Gewächse fest im Boden verwurzelt da, ganz und gar nichts Unheimliches ausstrahlend.

Seine Sinne mussten ihm für einen kurzen Augenblick einen Streich gespielt haben. Eine Halluzination, ein Trugbild! Seine brennende Liebe zu Irene?

Urplötzlich wichen die Schmerzen und die Müdigkeit war wie weggeblasen. Locker ausschreitend strebte er durch den hohen, unterholzfreien Baumbestand seinem Ziel zu. Bald schon erkannte er die im Sonnenlicht hell spiegelnden Fenster des Berghotels am See, hörte den Lärm der an- und abfahrenden Autos auf den Parkplätzen, das Kreischen von Kindern, die Stimmen erwachsener Besucher sowie das Kläffen eines Hundes.

Von Westen her, aus Richtung Baden-Baden kommend, nahm er eine Abkürzung, hinter dem Hotel vorbei, dabei die Leitplanke der für Autos gesperrten Straße zur Hornisgrinde überkletternd, direkt zum hinteren Teil des Sees. Welch Glück! Seine Lieblingsbank war frei. Tief aufseufzend ließ er sich darauf nieder, die Beine dabei weit, bequem ausstreckend. Eigentlich, dachte er, hätten ein paar Bänke mehr, rund um den See, auch nicht allzu sehr geschadet.

Zwei Tretboote glitten leise platschend über das dunkle Wasser. Ein Stich von Neid durchfuhr ihn beim Anblick der eng umschlungenen, sich glücklich und verliebt küssenden Paare.

Irene!

Finster blieb sein Blick an den Booten hängen, um dann in Richtung der umliegenden Berghöhen zu schweifen. Zorn und Trauer erfassten ihn ob des Frevels, ob der Gewalt, welche die Menschen der Natur antaten. Kaum dass noch ein paar kümmerliche Tannen wuchsen. Wo einst dichter Wald den See eingerahmt hatte, versuchten diese restlichen Bäume dem Waldsterben tapfer zu trotzen. Vielerorts war bereits der kahle, geschundene Berghang zu erkennen.

Doch was nützte all sein Ärger? Letztendlich konnte er allein auch nichts mehr ändern! Also würde er sich jetzt ein wenig ausruhen und danach zum Hotel hinübergehen. Unbedingt musste er einen kräftigen, wärmenden Schluck trinken. Vielleicht fand sich jemand, dem er von seinem Kummer erzählen konnte.

Nur ein paar Minuten ruhig sitzen bleiben, nur einen kurzen Augenblick. Der jäh aufkommende, schneidende Schmerz zwang ihn nieder. Sekundenlang schloss er die Augen.

*

Tiefes, dröhnendes Brausen, das Ächzen und Stöhnen gewaltiger Bäume, veranlasste ihn, die Augen wieder zu öffnen. Zu seiner Verblüffung fand er sich auf weichem Moos sitzend, an den knorrigen Stamm einer riesigen Tanne gelehnt. Ein unwirkliches, von allen Seiten scheinendes Zwielicht erhellte seine Umgebung.

Scharf pfiff der Wind über den sich heftig kräuselnden See. Der See! Er hatte sich verändert! Wieso wirkte er plötzlich nur so groß? Überrascht sprang Peter auf. Die eigenartig geformte, dichte Nebelbank über der Seemitte war vorher nicht da gewesen. Unwichtig!

Aber wo waren die Boote geblieben, ja der ganze Anlegesteg mit der Hütte und, wo zum Kuckuck, war das Berghotel hingekommen? Und die Wald- und Wanderwege, die Bank und die Abfallkörbe? Alles wie weggewischt! Verwirrt stand er da.

Lacus mirabilis! Der See machte seinem mittelalterlichen Namen wirklich alle Ehre! Dann ...

Die Tannen! Er hätte das Ungewöhnliche daran sofort erkennen müssen! Stolz und edel, unberührt von aller Umweltzerstörung, kraftstrotzend, rank und schlank gewachsen, in sattes Grün gekleidet, umstanden sie das schilfbewachsene Seeufer, einen gewaltigen, schier undurchdringlichen Wald bildend!

Vorsichtig trat er zum Wasser und tauchte die Hand hinein. Keine Sinnestäuschung, keine Illusion! Die moorige Brühe war lediglich nass und bitterkalt!

Eine schattenhafte Bewegung im See lenkte seine Aufmerksamkeit zurück auf die Nebelbank. Obwohl der heftige Wind weiterhin zwischen den Stämmen hindurch hinaus auf das Wasser wehte, veränderte sich das Gebilde keineswegs! Seltsam!

Ein dunkler Schatten schälte sich aus dem Nebel hervor und glitt auf ihn zu. Immer deutlicher erkannte er die Umrisse eines kleinen Bootes. Ein schmaler Kahn, anscheinend aus einem einzigen Stück Glas geformt!

Und er kam geradewegs auf ihn zu! Ein leises, geheimnisvolles Klingen, wie von unsichtbaren Silberglöckchen stammend, ging von dem Boot aus. Er rührte sich nicht, auch nicht, als es mit leichtem Knirschen vor ihm ans Ufer glitt. Wachsam beobachtete er die schmale Gestalt, die bisher am Bug gestanden hatte und nun aufs Land zu schweben schien.

Zwei bis drei Meter vor ihm blieb der Unbekannte stehen und schob die Kapuze nach hinten. Unwillkürlich trat Peter vor Erstaunen ein paar Schritte zurück. Der Bootsführer war eine Frau, ein Mädchen! Ein überirdisch schönes, junges Mädchen! Grazil und ...

Ihre Haare! Wie fein gesponnenes Silber, in denen Wassertropfen, eisblauen Diamanten gleich, funkelten und glitzerten! Einladend wies sie zum Boot. Klar und rein sprach sie, mit sanfter, heller Stimme. Niemals vermeinte er, je ein liebreizenderes Geschöpf gesehen zu haben.

»Unsere Königin erwartet Euch! Steigt ein!«

Schon wollte er ablehnen. Wie konnte er ihr in seinem schäbigen, klatschnassen, schmutzigen Aufzug folgen?

Ein Blick an sich herunter brachte ihn beinahe vollends um die eh schon mühsam bewahrte Fassung. Seine Kleidung! Sie war sauber, warm und trocken!

Zaghaft stieg er ins Boot, gefolgt von der Frau. Nur einen Augenblick später glitten sie übers dunkle Wasser hinaus. Ruhig und gleichmäßig schlug sein Herz. Keine bedrückende, qualvolle Enge mehr. Ein flüchtiger Blick zurück.

Kurz bemerkte Peter die schemenhaften Gestalt eines Mannes in Flößerkleidung, welche ihm enttäuscht nachzuschauen schien. Was soll's! Mit dem Holländer-Michel wollte er wirklich nichts zu tun haben!

*

Lautlos glitt der gläserne Nachen übers nun spiegelglatte Wasser. Wie wurde das Boot eigentlich angetrieben? Fragend wandte er sich der jungen Dame zu. Diese schien seine Gedanken zu erraten.

»Das Boot ist aus einem einzigen Stück Bergkristall geformt und lenkt von selbst! Hier, in unserer Welt, hinter dem Spiegel, gelten Eure Naturgesetze nicht! Wir haben eigene Regeln!«

»Hinter dem Spiegel? Und wieso bin ich in ›Eurer‹ Welt?«

»Die Seeoberfläche, das spiegelnde Wasser, trennt die Welt der Menschen von der Seenwelt und ihren Bewohnern! Während die Menschen die Natur zerstören, werden wir sie bewahren und beschützen, solange wir existieren!«

»Aber warum kann ich Eure Welt sehen und alle anderen Menschen nicht?«

»Nicht nur Ihr könnt diese Welt sehen! Unschuldige Kinder und Menschen, die sich ihre Fantasien und ihre Träume bewahrt haben, gelangen manchmal ebenfalls, allerdings nur für eine kurze Zeit, hierher! Aber es gibt eine weitere Möglichkeit! So wie Ihr hierher gelangtet! Bald werdet Ihr den Grund von selbst erkennen! Wenn die Zeit dafür gekommen ist!«

Ein Schatten huschte über ihr Antlitz. Er wagte nicht, weiterzufragen. Außerdem war er von dem Anblick, der sich ihm nun eröffnete, ganz in Anspruch genommen. Ihr Zauberboot war in den Nebel über dem See eingetaucht. Wie gebannt hing sein Blick an dem sich nun zeigenden Wunder. Für Peter gab es nur eine Erklärung.

Träume, von Feen und Elfen gewoben, hatten den nun vor ihm erscheinenden, in reinstem Licht erstrahlenden Kristallpalast erschaffen, errichtet auf einer Insel aus Alabaster! Stumm, staunend und ergriffen nahm er das Wunder in sich auf ...

... und vergaß Irene!

Wunderschöne Mädchen, sie glichen seiner Führerin, geleiteten ihn aus dem Boot, die weite, geschwungene Freitreppe hinauf zu einem sich langsam öffnenden Portal.

Goldenes, warmes Licht aus tausenden von hell brennenden Kerzen, gebrochen und gespiegelt in unzähligen Kristalltropfen, empfing ihn. Funkelnde Bergkristalle, mit meisterhaft geschliffenen Facetten, an Silberkettchen und goldenen Schnüren aufgefädelt, angeordnet in Vorhängen, schmückten den Palast, eine Pracht, wie er sie nie zuvor erblickt hatte! Silberne Kandelaber, brokatverkleidete Wände, Paneele aus edlem Rosenholz, gold- und silbergefasste Spiegel und ...

Langsam durchschritt er die Säle. Sanfte Musik, sehnsuchtsvoll und anziehend, erfüllte sie. Flüchtig durchdrangen ihn Erinnerungen an all die irdischen Märchenschlösser eines unvergessenen Königs, an den Eispalast der Schneekönigin und an Cinderellas Träume.

Ein Hauch, ein Gedanke von weit her. »Sie alle, sie sind nur ferne Schatten dieses Schlosses!«

Tiefer und tiefer gelangte er in das mystische Feenschloß. Und danach ... der Thronsaal! Ohne sein bewusstes Zutun schritt er immer weiter auf die ferne, dennoch klar hervorgehobene Gestalt zu, welche ihn auf einem prachtvollen Thron erwartete.

Die Königin! Eine junge Seekönigin! Kein alter, grauslicher König, wie die Menschen immer fantasiert hatten! Neben ihrer Schönheit und Anmut verblassten selbst die ihm eben noch so unwiderstehlich vorgekommenen Mädchen.

Langsam erhob sich die Frau und schritt die Thronstufen herab auf ihn zu. War ihre Schönheit allein schon überwältigend, so nahm ihn der Zauber der lieblichen Stimme vollends gefangen.

»Sei mir Willkommen, Peter! Ich kenne das Angebot des Holländer-Michels! Und ich weiß um deinen Kummer und deine Sorgen! Stets standest Du auf der Seite der Natur! Oft hast Du dem stillen Wasser des Sees deine Nöte und Kümmernisse, deine Gedanken und Hoffnungen anvertraut!«

Peter wagte kaum zu atmen.

»Alle hundert Jahre erwähle ich einen Sterblichen, für eben diese Zeit, zu meinem Gemahl! Ich biete Dir hundert Jahre Glück und Liebe an meiner Seite! Danach gebe ich Deine Seele frei! Wähle, Peter, wähle schnell, denn es bleibt Dir nicht viel Zeit!«

Peter hatte alles um sich herum vergessen. Dieses war also das zweite Angebot! Nun, was hatte der Holländer-Michel seinerseits schon viel zu bieten? Nichts als Tand, billigen, weltlichen Tand! Nur äußerer Schein! Talmi!

Die Entscheidung fiel ihm leicht. Freudig nickte er.

Die Seekönigin schloss die Augen. Ihre vollen, roten Lippen, fein geschwungenen Rosenblättern gleich, boten sich ihm zum besiegelnden Kuss. Glücklich beugte er sich dem wunderschönen Wesen zu.

*

Donnernd, krachend, splitternd, in unmenschlichen Tönen grausam zerspringend, barst der Kristallpalast. Ohne noch einen Blick auf die Seekönigin erhaschen zu können, riss ihn eine tiefe, tödliche Schwärze mit sich. Schmerzvoll seine Brust zerreißend, sich schwertgleich in sein Herz bohrend, waberten feurig rote, blitzende Flammen um ihn und durch ihn hindurch, ließen ihn in unsäglichen Qualen schreien.

Unvermittelt öffnete er die Augen. Diese Schmerzen!

Die Sonne stand hoch am wolkenlosen Himmel und er selbst lag nun mitten auf dem großen Parkplatz, vor dem Berghotel, auf einer Trage! Ein ihm völlig unbekannter Mann kniete neben ihm, seltsame Gegenstände, ähnlich kleinen Bügeleisen, in der linken, eine Spritze in der rechten Hand haltend.

»... Adrenalin ... Ich musste es Ihnen injizieren ...«

Zwar hörte Peter die Worte, doch verstand er deren Sinn nicht. Was machte der Mann da mit ihm? Warum ließ er ihn nicht in Ruhe? Er wollte nur eines! Zurück zur Seekönigin!

Vorsichtig drehte er den Kopf zur Seite. Verdammte Gaffer! Wieder sprach der Mann auf ihn ein.

»Hören Sie! Ich bin Notarzt! Sie haben einen Herzinfarkt erlitten und müssen umgehend in eine Klinik! Hier! Sehen Sie!« Der Mann zeigte auf die Bügeleisen.

»Wir haben Sie wiederbelebt! Verstehen Sie mich? Antworten Sie!«

Peter versuchte zu begreifen.

»Schauen Sie dort hinüber!«

Mühsam drehte er den Kopf. Langsam begann sein Verstand wieder zu arbeiten. Daher also die schier unerträglichen, immer wieder auftretenden Brustschmerzen seit heute Morgen! Ein Herzinfarkt! Aber er hatte die Anzeichen nicht verstanden! Andererseits, eigentlich hatte er sie sehr wohl bemerkt! Nur, er hatte sie nicht zur Kenntnis nehmen wollen! Nicht vor Erreichen seines Zieles.

Bis zum See hatte er es gerade noch geschafft. Danach war er umgekippt. Da die anwesenden Touristen ihn sofort gefunden sowie umgehend Wiederbelebungsmaßnahmen eingeleitet hatten, der Notarzt rasch herbeigerufen wurde, hatte man ihn wieder ins Leben zurückgeholt!

Sch... Handys! Zum Kuckuck mit allen Touristen! Hätten sie ihn doch einfach am See liegen lassen!

Die zwei kleinen Bügeleisen? Trotz seines Zustandes musste er innerlich leise Lachen. Natürlich, ein Defibrillator! Daher die zusätzlichen Schmerzen und die feurigen Blitze! Mist! Dabei hätte er nur noch ein paar Sekunden hinter dem Spiegel gebraucht!

Oh, ja! Die Aussage des Mädchens im Boot! Wie leicht war sie jetzt zu verstehen! Kinder, Träumer und ... er wagte nur langsam weiterzudenken ... und Sterbende!

Jetzt war zum Angebot der Seekönigin auch deren Preis klar! Der Preis war sein Leben! Die Qual der Wahl.

Der Holländer-Michel? Ein bekannter Gauner und Betrüger seit Ewigkeiten! Auch der verschenkte nichts umsonst. Die Seekönigin? Hundert Jahre Glück und Liebe an ihrer Seite! Und was kam danach? Oder, die dritte Möglichkeit, weiterhin ein einsames Leben auf seinem Hof? Nein, sein Entschluss stand eindeutig fest!

Danach wurde er von der Wirklichkeit wieder eingefangen. Auch das noch! Der Rettungshubschrauber wartete bereits! Rot, mit weißer Aufschrift. Auf einem extra abgesperrten Teil des Parkplatzes. Mit rotierenden Blaulichtern parkte dicht daneben ein Polizeifahrzeug.

»Er ist nur bedingt transportfähig! Trotzdem! Wir haben keine Wahl! Er muss unbedingt sofort in die Klinik! Hier oben stirbt er auf jeden Fall!«

Von wem sprachen die denn? Dann fiel es ihm wieder ein. Er selbst war ja derjenige, welcher. Panik erfasste ihn. Er wollte nicht fort vom See! Schon lächelte ihm der Arzt beruhigend zu.

»Keine Angst! Wir heben Sie jetzt in die Maschine! Sie haben es bald gut überstanden! Keine Sorge!«

Aber Peter dachte anders. Er sah und fühlte ihn, den schwarzen Schatten der Ewigkeit. Der Arzt log ihn an!

*

Nicht sehr angenehm der Augenblick, als er auf der Trage durch die dunkle Enge des Hecks ins Hubschrauberinnere geschoben wurde. Sein Kopf und seine Brust lagen nun relativ frei, umgeben von medizinischen Notfalleinrichtungen, während sein Unterleib und die Beine in der engen Röhre untergebracht waren.

Seine Oberbekleidung war ihm abgenommen worden. Dafür hatte der Arzt, der direkt hinter seinem Kopf in Richtung des Cockpits saß, überall Elektroden auf seiner Brust befestigt. Abwesend lauschte er einen Moment auf die Geräusche seiner Umgebung.

Wortfetzen aus der Helikopterkanzel:

»Leitstelle Bühl! ... Christoph 43 ... wir starten ... Karlsruhe? ... Nein! ... zu weit! ... Baden-Baden? Ja, sofort ...!«

Dazwischen tönte ein rhythmisches »piep ... piep ... piep ...«

Der alles durchdringende Lärm der langsam anlaufenden Turbine. Und danach ...

Der leichte, beinahe unmerkliche Andruck, verursacht durch die abhebende Maschine. Er wollte nicht zurück! Nein! Nein! Nein!

Seine Lider schlossen sich.

*

Aus dem grauen Nebel schälte sich die dunkle Gestalt des Holländer-Michels. Fragend blickte er Peter an, doch der erteilte ihm klare, eindeutige Absage.

»Vergiss dein Angebot, Holländer-Michel! Ich behalte mein Herz und schenke es jemand anderem! Sicherlich findest Du genügend Kaltherzige, die Dir für Geld und Macht ihr lebendes und dennoch gefühlloses Herz überlassen, um es gegen deinen kalten Ersatz einzutauschen! Diese werden den Unterschied sowieso nicht merken!«

Etwas wie widerwillige Anerkennung glomm im Blick des Holländer-Michels auf.

»Mach es gut, Peter! Du hast Dich entschieden! Wir werden uns nie mehr wiedersehen!«

Wieder umwirbelten ihn die Nebelschwaden, heller und heller scheinend. Die Seekönigin! Strahlend lächelnd kam sie auf ihn zugeschwebt. Ihre Lippen berührten die seinen.

*

Piep-piep-piep-piep- ...

Das bisher so gleichmäßige Piepsen nahm, ohne einen für den Arzt ersichtlichen Anlass, rasend schnell zu. Verdammt! Beginnendes Herzkammerflimmern! Sie waren nicht weit gekommen! Kaum dass die Maschine aufgestiegen war, kurz die Höhe gehalten hatte, um danach schnell ins Tal hinabzugleiten, war auch schon die Krisis eingetreten! Piiiieeeep ...

Der lang gezogene Dauerton und die flache Linie auf dem Monitor! Verzweifelt setzte der Arzt den Defibrillator ein, versuchte sich in allen ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten. Piiiieeeep ...

Aber er hatte keinen Erfolg. Eine kurze Information an den Piloten und dieser brach umgehend den Notanflug auf die Klinik Baden-Baden ab, zog gleich darauf die Maschine in einer weiten Schleife auf einen neuen Kurs in Richtung Karlsruhe. Jetzt besaßen sie Zeit, sehr viel Zeit!

*

Schweigend standen die beiden Männer neben der Maschine und sahen bedrückt zu, wie Rettungssanitäter die Trage mit der stillen Gestalt heraushoben und zu dem wartenden Fahrzeug brachten.

Wie immer, wenn ein Leben unter seiner Hand zerronnen war, Gevatter Hein das andauernde Duell gewonnen hatte, fühlte der Arzt sich müde, deprimiert, ausgelaugt und zerschlagen. Fahrig zog er ein zerknautschtes Päckchen aus einer seiner Taschen hervor, zog mühsam eine Zigarette heraus und zündete sie mit zittriger Hand an.

»Sonderbar!« Tief sog er den Rauch ein.

»Für mich sah es beinahe so aus, als wollte der Mann nicht weiterleben! Kaum dass Du mit dem Sinkflug begonnen hattest, hat er laut ›Nein! Nein!‹ gerufen! Und ›Nicht nach unten! Nein!‹ Was der Mann wohl in einer letzten Vision gesehen hat?«

»Gleich zu Beginn des Fluges? Beim Runtergehen?«, fragte der Pilot. Der Arzt nickte.

Langsam wandte sich der Pilot zum Gehen, müde, mehr wie zu sich selbst, in einem seltsam schleppenden, rauen Tonfall, sprechend:

»Er wollte und musste oben bleiben! Er hat sich entschieden! In genau 1028 Meter Flughöhe über dem Meeresspiegel hat er uns verlassen! Er selbst ist noch immer dort oben! Dort, wo er die nächsten hundert Jahre verweilt, benötigt er seine sterbliche Hülle nicht mehr! Und die Königin hat einen neuen Gatten!«

Der Arzt traute seinen Ohren nicht.

»Wie bitte? Was hast Du eben gesagt?«

Aber der Pilot reagierte nicht darauf. Was war das?! Entsetzt wischte sich der Arzt über die Augen.

Nun hörte und sah er schon Gespenster, denn für einen kurzen Augenblick erschien ihm der Pilot, statt in seine weite Fliegerkleidung urplötzlich in eine mittelalterliche Flößerkleidung gehüllt. So wie einstens eine uralte Sagengestalt! Leise fluchend warf der Arzt die kaum angerauchte Zigarette zu Boden.

Er sollte sich die unvermeidlichen Rückschläge seines Berufes doch nicht immer so zu Herzen nehmen! Und endlich das Rauchen aufgeben! Leichter gesagt als getan!

Gleich darauf fiel ihm das Schild am Berg-Hotel ein. Nur flüchtig war sein Blick auf dieses gefallen. Aber jetzt erinnerte er sich mit aller Klarheit der Inschrift:

»Mummelsee 1028m.ü.M.«

Mystische Schwarzwaldgeschichten

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