Читать книгу Mystische Schwarzwaldgeschichten - Klaus F. Kandel - Страница 4
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ОглавлениеSchaudernd sträubten sich seine Nackenhaare. Eisig berührte ihn der tastende Hauch des kalten Nachtwindes. Im fahlen Mondlicht war sein Ziel nur undeutlich zu erkennen. Geduckt lauschend sah er aufmerksam auf den Kreuzweg, den Spaten sorgsam hinter seinem Rücken verbergend.
Erschrocken fuhr er zusammen. Obwohl er nur darauf gewartet hatte, traf ihn der laut dröhnende Klang der Kirchenglocken völlig überraschend. Klar und mächtig hallten die Töne durch das schlafende Tal.
Zwölfmal! Mitternacht!
Die Lichter der Gasthöfe waren schon seit geraumer Zeit erloschen. An die Südseite des ›Bären‹ gelehnt, war er in direkter Nähe des hinter ihm schwarz und dunkel aufragenden alten ›Freihofes‹. Vor Jahrhunderten schon hatten dort die Äbte des Klosters ihr Freigericht abgehalten. Jetzt kündete nur noch der Name von den vergangenen Epochen.
Schräg gegenüber lag der Gasthof ›Zum Sternen‹, ›Zu den Stuben‹ oder den ›Drei wilden Schweinsköpfen‹, drei Namen für ein und dasselbe Wirtshaus. Ob der Wirt wohl wusste, welches der ursprüngliche Name war? Bei den letzten Zechereien dort war es ihm nicht gelungen, dies herauszufinden. Vielleicht konnte es der ›Spiegel‹ ihm eines Tages zeigen?
Das Knarren der Kirchentür lenkte seine Aufmerksamkeit umgehend wieder auf sein Vorhaben. Der Mesner verließ das Gotteshaus. Schweren Schrittes schlurfte er vorüber, über die alte Steinbrücke des Waldhäuserbaches, am Rathaus vorbei, hinunter ins Tal. Das Rauschen des Baches verschluckte alsbald jeden anderen Laut. Beim Auftauchen des alten Mannes hatte er sich tief in den Schatten zurückgezogen. Einige Herzschläge verharrte er völlig ruhig. Nach einem schnellen, prüfenden Rundblick, das Dorf lag in tiefem Schlaf, machte er sich leise ans Werk.
Mit heimlich geweihter Kreide zog er schnell und gründlich die vorgeschriebenen Schutzzeichen, das Pentagramm und die geheimnisvoll verschnörkelten Runen. Auf dem mit Pferde- und Ochsenmist durchtränkten Boden war das gar nicht so einfach! In weiser Voraussicht hatte er zusätzlich ein größeres Säckchen voll Kreidepulver eingesteckt. So konnte es keinerlei Unterbrechung der Linien geben.
Fünf kleine Kerzen in irdenen Schalen. Hoffentlich blies sie der Wind nicht aus!
Leise murmelnd sprach er die mühsam auswendig gelernten Beschwörungsformeln. Konzentriert begann er zu graben. Keines der teuflisch um ihn herum aufschimmernden, tuschelnden, fauchenden und ihn verführen wollenden Trugbilder sollte ihn beirren! Nicht einen Fußbreit trat er aus dem Schutzkreis. Nicht vor der Vollendung seines Werkes und dem Abschluss der Beschwörungen! Er würde das hochgesteckte Ziel erringen, dem Herrn der Unterwelt widerstehen und diesen dann später um seinen Höllenlohn betrügen!
Einige wenige, nahezu unhörbare Spatenstiche, das kurze, matte Aufblinken einer polierten Stahlplatte im Mondlicht. Schnell wurde diese in der Tiefe versenkt. Sorgfältig trat er den zähen Lehm anschließend wieder fest. Wenn er nicht tief genug gegraben hatte, würden die schmalen Räder der Kutschen und Bauernkarren die Platte früher oder später beschädigen. Aber sie sollte nicht allzu lange dort ruhen. Nicht umsonst war er das Risiko eingegangen, den Kreuzweg mitten im Dorf, in allernächster Nähe der Kirche, auszuwählen.
Wiederum ein gründlicher Rundblick, doch keines der Fenster in der näheren Umgebung zeigte auch nur den geringsten Lichtschimmer. Letzte gemurmelte Worte der lateinischen Formel. Verschwunden waren die Visionen, nur undurchdringliche Dunkelheit herrschte ringsum. Vorsichtig trat er aus dem schützenden Bannkreis, blies die flackernden Lichter aus und wandte sich zum Gehen.
Taghell erleuchtet erschien der hellrote Sandstein des Gotteshauses. Jede Ritze und Fuge zeichnete sich mehr als deutlich vor seinem entsetzten Blick ab, erleuchtet vom Feuer der Ewigkeit. Starr, wie gelähmt, stand er auf dem Kreuzweg, als die Welt um ihn herum anschließend in tiefster Schwärze versank.
Schiefgegangen! Todesangst ergriff ihn. Krachend dröhnte der Donner und erste herabklatschende Tropfen, vermischt mit kleinen, eisigen Hagelkörnern, durchnässten ihn in Sekundenschnelle. Erleichtert aufschluchzend rannte er nach Hause. Nur ein ganz normales Gewitter! Er hatte dessen Auftauchen nicht bemerkt und schon die feurigen Pforten der Hölle vor sich gesehen!
Glück im Unglück! Der unerwartete Gewitterguss würde die Spuren seiner nächtlichen Tätigkeit gründlich verwischen. Jetzt konnte er in Ruhe abwarten. Der erste Teil seiner Tat war erfolgreich abgeschlossen!
*
Mit angstvoll aufgerissenen Augen sah ihm seine Frau entgegen. Ein beruhigendes Nicken beantwortete ihre unausgesprochene, bange Frage. Schnell half sie ihm aus den nassen Kleidern und ins warme Bett. In weiser Voraussicht hatte sie zwei heiße Ziegelsteine hineingelegt, den großen Kachelofen noch einmal kräftig angefeuert. Dazu ein langer, wärmender Schluck aus dem Steinkrug, dies würde einer Erkältung gründlich vorbeugen!
*
... drei Kindstaufen ...
... drei Hochzeiten ...
... drei Leichenzüge ...
... drei mal drei gesegnete Menschen ...
... getaufte Kinder, gesegnete Brautpaare, mit dem Sterbesakrament versehene Tote ...
Sie mussten die Stelle des Kreuzweges passieren, an der er die polierte, spiegelnde Stahlplatte vergraben hatte. Und dann fehlte nur noch eines.
*
Die letzten Sommermonate waren prachtvoll gewesen. Jetzt, Anfang Oktober, im Jahre 1852 des Herrn, herrschte ein goldener Herbst. Kühle Morgen mit leichtem Nebel, taunassen Wiesen, gefolgt von trockenen, sonnigen Tagen, abgelöst von klaren Nächten. Diese wurden immer länger und kälter.
Die Scheunen und Heuböden begannen sich zu füllen, das Korn war eingefahren und Haus und Hof auf den Winter gut vorbereitet. Ihn selbst trieb die Unruhe immer mehr durchs Dorf. Seine Nachbarn und Bekannten fingen an, seines ungeduldigen Verhaltens wegen, zu tuscheln.
»Vater! Was ist mit Dir?«
Sein ältester Sohn, der einmal den Hof übernehmen sollte, fragte ebenfalls besorgt nach. Längst war ihm das veränderte Verhalten des Vaters aufgefallen. Aber der wies ihn stets schroff zurück.
Auch die Mutter schien ihre Fröhlichkeit eingebüßt zu haben. Immer öfter ruhte ihr Blick auf der schmaler werdenden Gestalt ihres Mannes. Nur zu genau wusste sie ob des unheimlichen, verzehrenden Feuers, das in ihm brannte.
Der flackernde, unstete Blick, die zunehmende Unsicherheit, die häufige Abwesenheit der Gedanken. Immer öfter fragte er sich, ob das, was er getan hatte, was er erreichen wollte, richtig war. Manchmal fasste er den Entschluss, einfach alles auf sich beruhen zu lassen, das Buch zu verbrennen, das Stück Metall im Kreuzweg einfach zu vergessen. Und dann saß er wieder viele Abende lang im ›Sternen‹ oder ›Bären‹, schön abwechselnd, und versuchte die Stelle zu lokalisieren, wo die Versuchung wartete und lockte.
... und in wenigen Tagen würde der erste Herbstvollmond scheinen!
*
Noch wagte sich der Nebel auf den Wiesen nicht ganz ins Dorf. Lediglich erste durchsichtige Schwaden bewegten sich vorsichtig tastend heran.
In tiefer Stille, in silbriges Licht getaucht, lag der Kreuzweg vor ihm. Dunkel, drohend und abweisend ragten die Mauern der Kirche hoch empor. Eine einsame Laterne flackerte unruhig über der Eingangstür vom ›Freihof‹, gespenstische Schatten werfend.
Fast vermeinte er, das Pochen seines Herzens als donnernden Widerhall von den Häusern ringsherum zu vernehmen. Trotz der Nachtkälte war er in Schweiß gebadet. Soeben kam der schwierigste und gefährlichste Teil des Unternehmens.
Das Zappeln im Sack neben ihm lenkte ihn kurz ab. Für einen Moment erfüllten ihn schwaches Bedauern und Mitleid mit der armen Kreatur da drin. Andererseits, was war das Leben einer Katze schon wert? Nichts! Überhaupt nichts!
Anschließend lauschte er wieder aufmerksam in Richtung Kirche. Wie schon vor Monaten schlugen die Glocken zwölfmal, wiederum vergingen ein paar Minuten und der Mesner schlurfte zurück nach Hause. Und wieder verschluckte das Murmeln des Waldhäuserbaches alle Geräusche.
Eilig huschte er auf den Platz und begann zu graben. Vorher hatte er anhand der Häuserlinien den Ort so genau wie möglich eingepeilt.
Der Lehm der Dorfstraße war zäh und fest wie eh und je. Nun ja, befestigte Wege mit Kopfsteinpflaster gab es nur in großen und reichen Gemeinden wie in Zell, Biberach oder Gengenbach. Aber hier hinten im Tal?
Klirrend stieß der Spaten auf Metall. Erschrocken sah er sich um. Hoffentlich hatte niemand etwas gehört! Aber um diese Nachtzeit war außer ihm kein Mensch unterwegs.
Vorsichtig legte er den Sack neben die kleine Grube und zog eine Katze daraus hervor. Die Vorder- und Hinterläufe des Tieres waren zusammengebunden, um sie am Weglaufen zu hindern. Ein Knebel verhinderte zuverlässig jedes Geschrei.
Mit abgewandtem Gesicht stocherte er vorsichtig im Erdreich. Kurz darauf bekamen seine zitternden Finger die Stahlplatte zu fassen. Die Augen fest geschlossen, tastete er blind umher und ergriff das sich angstvoll und verzweifelt windende Tier. Dann hob er den Spiegel vor das kleine Katzengesicht und ließ das Tierchen hineinschauen.
Er spürte, wie die Katze sich jäh aufbäumte, erschlaffte und danach keinerlei Lebenszeichen mehr von sich gab. Geschafft! Endlich geschafft! Er hatte die Prüfung bestanden!
Leise lachend hielt er die silbern funkelnde Metallplatte triumphierend hoch ins Mondlicht. Ein Bergspiegel! Er hatte einen Bergspiegel gegraben, einen wirksamen Talisman, wie er den Sympathiedoktoren Benz und Morlok, wenn man den Leuten glauben durfte, schon lange zur Verfügung stand!
Demnächst war auch er in der Lage, Wunderheilungen zu vollbringen und Verlorenes wiederzufinden. Wie im Buch beschrieben, hatte er dem Teufel den Spiegel unter Gefahr für Leib und Leben abgerungen, die magischen Vorschriften erfüllt und zu guter Letzt den Herrn der Hölle um seinen Lohn geprellt! Denn das erste Lebewesen, das in den Spiegel sah, sollte dem Teufel gehören. Nun, er wünschte diesem viel Vergnügen mit der dummen Katze!
Sorgfältig schlug er ein Tuch um den kostbaren Spiegel und barg ihn in seinem Wams. Schnell scharrte er die Grube zu, trat den Boden einigermaßen fest, nahm Spaten und Sack an sich, löste die Fesseln der toten Katze und warf das Tier einfach in den Bach.
Zögernd kroch der Nebel ins Dorf. Nass und kalt. Wo er vorher noch kräftig geschwitzt hatte, breitete sich nun klamme Kälte aus. Ein kurzer, bellender Husten erschütterte ihn. Hastif eilte er nach Hause.
*
Gespannt verfolgte er jede Handbewegung des Pfarrers. Nicht eine Sekunde lang verweilten seine Gedanken bei der Messe. Sein Blickfeld schien, seltsam verengt und eingeschränkt, nur die Mitte des Altars mit dem flach darauf liegenden Altartuch zu erfassen.
Quälend die Momente, in denen ihn sein Husten zwang, den Blick vom Ziel zu nehmen. Besorgt beobachte ihn seine Frau aus den Augenwinkeln. Das kurze, mühsame Luftholen, der fiebrig glänzende Blick, der röchelnde Husten, die zittrigen, fahrigen Handbewegungen, kein Zweifel, ihr Mann war krank. Aber der würde sich keinesfalls ins Bett legen, nicht vor der Vollendung!
Heute Nacht würde es so weit sein! Dann ...
»... in spiriti sancti, Amen!« Segnend, das Kreuzzeichen vollführend, beendete der gütig auf seine Schäfchen blickende alte Pfarrer die Messe.
Vollbracht! Endlich vollbracht! Die letzte Bedingung, das Lesen einer Messe, sozusagen eine Art Rückversicherung durch die christliche Kirche gegenüber den finsteren Mächten, die nun im Bergspiegel zu seinen Diensten gezwungen wurden, war endlich erfüllt! Freudig verließ er die Kirche, dem Opferstock eine reichlich bemessene Spende zukommen lassend.
*
Weinend verließ die Bäuerin das frische Grab. Was hatte ihr Mann nun von all seinen Mühen gehabt?
Triumphierend hatte er noch in der Sonntagnacht das heiß ersehnte Kleinod nach Hause gebracht. Sorgfältig hatte er es, zusammen mit dem Buch, in einer kostbaren Holzschatulle in Sicherheit gebracht, nicht, ohne es vorher sorgsam nochmals eigens in ein seidenes Tuch einzuschlagen.
Fünf Stunden später stand der eilends aus Biberach herbeigerufene Arzt vor dem Krankenlager des Bauern. Mit düsterem Blick verließ er kurz darauf das Zimmer.
»Eine Lungenentzündung! Er muss schon länger krank gewesen sein! Hat er seinen Husten nicht beachtet? Warum hat er nie etwas dagegen getan?«
Die Bäuerin schlug verlegen die Augen nieder. Der Arzt nickte verständnisvoll. Er kannte seine Pappenheimer. Lieber liefen sie zu irgendwelchen Wunderheilern und Kräuterfrauen, als dass sie sich den ›Studierten‹ anvertrauten.
»Ich verstehe! Doch es ist zu spät! Sie sollten jetzt den Herrn Pfarrer holen!«
Erschrocken sah die Bäuerin auf. Waren alle Mühen umsonst gewesen? Nachdem der Arzt gegangen war, hatte sie als erstes die Schatulle weit hinter altem, wertlosem Gerümpel auf dem Dachboden verborgen.
Früh am nächsten Morgen hatte ihr Mann sie verlassen. Teilnahmslos nahm sie die Beileidsbezeigungen der Nachbarn und Bekannten entgegen. Ihr Ältester würde den Hof wenigstens schuldenfrei übernehmen. Dafür war gesorgt. Aber vorher musste sie noch den Unglücksbringer aus dem Haus schaffen!
Ein vielstimmiger Schreckensschrei ertönte. Die durchgehenden Pferde erfassten die Bäuerin und schleuderten sie zur Seite. Wie wunderschön doch die weißen Wolken am Himmel sind, dachte sie.
Sie fühlte sich so leicht. Ganz leicht und unbeschwert. Wahrlich, ein goldener Herbst!
*
Finster starrte Karl in sein leeres Bierglas.
»Nun hab Dich nicht so, Karl! Du hast jetzt wirklich genug intus! Normalerweise müsste ich Dir jetzt sogar die Autoschlüssel abnehmen und ein Taxi rufen!«
Der Wirt war recht deutlich geworden. Beruhigend sprachen seine Kumpels auf ihn ein.
»Er hat recht, Karl! Für heute langt's wirklich! Komm, lass uns gehen!«
Sie alle hier im ›Freihof‹ kannten ihn. Karl hatte noch nie ein Glas zuwenig getrunken, eher zwei zu viel! Außerdem war Karl seit ein paar Tagen nicht gut drauf. Schon wieder hatte ihm eine Freundin wegen seiner Trinkerei den Laufpass gegeben. Wütend knallte er das leere Glas auf den Tresen, warf einen Geldschein hinterher und hastete überstürzt zur Tür. Nach dem Qualm in der Kneipe, dem Geruch des Essens, den nach Bier und Schnaps riechenden Fahnen seiner Kumpels, tat die frische Nachtluft geradezu gut. Schlagartig fühlte sich er wieder richtig fit. Von wegen angetrunken und so!
Der Himmel hatte sich bezogen, erste schwere, dicke Regentropfen fielen aus der Nacht und überzogen die Straßen mit dem spiegelnden Widerschein der Lichter aus Häusern und Straßenlampen. Nasses Herbstlaub machte Wege und Fahrbahn glitschig. Der erste kalte Windstoß des nahenden Winters.
Seinen roten Golf GTI hatte er auf dem Parkplatz an der Kirche abgestellt, nur wenige Schritte vom Lokal entfernt. Sein rasanter Start, mit dem er nach links in die Straße einbog, veranlasste ein herannahendes Auto zu wütendem Hupen. Pah, sollte der ihn doch mal! Was der Idiot nur wollte! Es hatte doch gerade so gelangt!
Mit pfeifenden Reifen schoss er durch den Ort, hinaus auf die Landstraße, Richtung Biberach. Dies war seine Nacht, seine Straße, zumindest bis zum nächsten, größeren Ort.
*
»Ja, ja, der Karl! Lang geht's nimmer gut! Der bringt sich mit seiner Sauferei und Raserei noch um! Wartet's ab! 's geht nimmer lang!«
Zustimmend nickend tranken sie ihr Bier, während der Wirt besorgt zum Fenster hinaussah. Natürlich hatten sie Karls Start, das wilde Gehupe und seine ausdrucksvolle Fahrweise mitbekommen. Aber wer wollte sich schon mit einem der reichsten Bauernsöhne aus Unterharmersbach anlegen? Sie ganz bestimmt nicht!
Wobei sie im Stillen hofften, dass eine Polizeikontrolle das Problem, zumindest für einen längeren Zeitraum, im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Verkehr ziehen würde. Und dann tranken sie weiter.
*
Huschende Schatten, zuckende Blitze, grollender Donner.
Kaum, dass die Scheibenwischer den Regenmassen trotzen konnten.
Überlaute, dröhnende Musik aus den Lautsprechern. Irgend so ein unverständlicher, Nerven zerfetzender Heavy Metall Song. Karl störte es nicht. Ihn störte heute überhaupt nichts! Sein Golf besaß einen Frontantrieb, der kam nicht ins Schleudern! Erst recht nicht mit einem so versierten und sicheren Fahrer, wie er einer war!
Zwei leichte Bögen, der letzte nach links, dann immer geradeaus zum Sägewerk! Volle Kanne, volle Scheinwerfer, dazu die Breitstrahler. Wenn kümmerte das denn?
Verdammt! Die Brücke! Jetzt schon? Fluchend riss er den Wagen scharf nach rechts, danach, mit protestierend quietschenden Reifen, nach links zurück. Schleudernd, die volle Straßenbreite benötigend, brachte er den schlingernden GTI mühsam wieder in seine Gewalt. Ha! Wer sagt's denn!
Übrigens, waren da eben nicht noch zwei Lichter gewesen? Ein hastiger Blick in den Rückspiegel. Nein! Da war nichts, rein gar nichts zu erkennen.
Während sein Golf über die Brücke gerast war, hatte er zufällig einen kurzen Blick in den Bach geworfen. Verdammt viel Wasser! Nun, es hatte ja in den letzten Tagen heftig und ausdauernd geregnet. Es war nicht das erste und ganz sicher auch nicht das letzte Hochwasser in diesem Tal. Wenn er da reingedonnert wäre! Nicht auszudenken! Trotz der Wärme im Auto durchfuhr ihn ein kurzer, eisiger Schauer. Das Aufflammen der Scheinwerfer entgegen kommender Fahrzeuge, die ihn so plötzlich blendeten, zwangen ihn notgedrungen, sein eigenes Fernlicht abzublenden. Elende Dunkelheit!
Sauwetter! Erleichtert bog er ein paar Minuten später in den Hof ab. Geschafft! Gleich darauf kroch er müde ins Bett. Schwach vernahm er das ferne Geheul von Martinshörnern. Wer da wohl wieder nicht aufgepasst hatte? Welch Glück, dass er ein so sicherer Fahrer war!
*
Fröhlich, den bunten Ball unter den Arm geklemmt, hüpfte Lisa zur Tür. Das Klingeln der Türglocke war nicht zu überhören gewesen.
Die Nacht von Samstag zu Sonntag hatte sie, wie schon öfters, wenn ihre Eltern ausgingen, bei ihrer Tante verbracht, wo sie am Sonntagmorgen von Mama und Papa abgeholt wurde. Die Eltern! Endlich! Freudig riss sie die Tür auf, um gleich darauf erstarrt stehen zu bleiben.
»Guten Morgen, Lisa! Hol' bitte deine Tante!«
Ernst sah der junge Polizist auf sie herab, Lisa kannte ihn flüchtig. Sie brauchte ihre Tante nicht zu rufen, die kam bereits hinter ihr hergelaufen. Als diese das kummervolle Gesicht des Beamten sah, erfasste sie eine furchtbare Vorahnung.
»Was ist passiert?« Nur mühsam brachte sie die Worte hervor.
»Lisas Eltern sind heute Nacht von der Straße abgekommen und ganz in der Nähe des Sägewerkes in den Bach gestürzt! Vermutlich hat sie einer von der Straße abgedrängt! Ein Mann, welcher den Unfall von Ferne beobachtet hat, benachrichtigte zwar sofort die Polizei, doch wir kamen zu spät! Das verunglückte Fahrzeug wurde vom Hochwasser weit mitgerissen. Der Aufprall und dann die Eiseskälte ...«
»Horcht!«
Lisa lauschte mit geneigtem Kopf und entrücktem Blick den leise vom Wind herbeigetragenen Glockentönen.
»Mama und Papa! Sie grüßen uns und sagen Lebewohl!«
Verträumt verfolgte das kleine Mädchen noch einen Moment die feinen, schwachen Klänge. Danach wurde Lisas Blick starr, leer und inhaltslos. Nie wieder füllte ein Lächeln ihr Gesichtchen, nie wieder sprach sie ein Wort. Sie hatte der Welt, die ihr das Liebste genommen hatte, für immer den Rücken gekehrt.
*
Lautlos rannen die Tränen über Mariellas Wangen. Seit Tagen hatte sie die Hinterlassenschaft ihrer verunglückten Schwester und deren Mann gesichtet und aufgeräumt. Sie war jetzt Lisas Vormund und hatte die Kleine immer bei sich. Lisa ließ sich geduldig waschen und anziehen. Wenn sie Hunger hatte, aß und trank sie, was man ihr vorsetzte. Wurde sie ausgezogen und ins Bett brachte, schlief sie nach einiger Zeit ein. Was man auch immer zu ihr sagte, ihr zeigte, Lisa reagierte nicht. Verloren und leer ihr Blick. Meist saß sie in einem Kinderstühlchen am Fenster, die Augen in unendliche Fernen gerichtet, das Gesicht zu einer puppenhaften Maske erstarrt.
Mariella öffnete gerade eine altes, liebevoll geschnitztes Eichenkästchen, als urplötzlich Lisa auftauchte. Gespannt, wild und unheimlich flackernd hing ihr Blick plötzlich voll Interesse an der unscheinbaren Truhe.
Für einen kurzen Augenblick erschrak Mariella. Anschließend öffnete sie den Deckel. Ein paar alte, vergilbte Bücher, größtenteils modrig, vergammelt und unleserlich, schwache Reste magischer Zeichen und lateinischer Sprüche erkennen lassend. Achtlos legte sie den Plunder zur Seite.
Ganz unten lag noch ein angeschimmeltes, feuchtes Tuch. Angewidert hob sie es hoch. Klirrend fiel eine handtellergroße Stahlplatte heraus. Vorsichtig, scharf von Lisa beobachtet, hob sie das Metallstück hoch und wischte es blank. Ein Druidenstern und unbekannte Runen fassten die polierte, unerklärlicherweise völlig rostfreie Innenfläche ein. Ein alter Handspiegel, Mariella erkannte dies sofort.
Ehe sie reagieren konnte, hatte Lisa ihr den Spiegel mit einem scharfen, katzenhaften Fauchen aus der Hand gerissen und hielt das Ding wie einen kostbaren Schatz fest an sich gepresst.
»Du kannst den alten Spiegel gerne behalten, Lisa!«
Mit äußerster Kraft zwang Mariella sich zu einem beruhigenden Tonfall. Langsam schwand Lisas hasserfüllter, ja geradezu dämonischer Blick und machte der üblichen seelenlosen Leere Platz. Den Spiegel eisern festhaltend, zog sie sich in ihr Stühlchen am Fenster zurück, Sekunden später gewohnt teilnahmslos hinausstarrend.
Sachte rieselten erste Schneeflocken herab.
*
Gerüchte, Getuschel. Leise, heimlich.
›Damals ...?!‹
›In jener Nacht?!‹
›War da nicht der Karl, angetrunken wie des Öfteren, in seinem GTI unterwegs, gerade zu dieser Zeit?‹
Natürlich sprach es niemand offen aus, doch Karl fühlte deutlich die fragenden, forschenden, nachdenklichen Blicke. Zwar mied ihn niemand direkt, doch in dem Maße, wie die Zahl seiner Freunde abnahm, stieg sein Bierkonsum. Zudem trug ihm sein aufbrausendes, jähzorniges Verhalten kaum Sympathien ein. Jedoch mit dem Ende des Winters, dem aufkommenden Frühling, vergaßen die Leute im Dorf allmählich den Vorfall, die Gerüchte verstummten langsam, zögernd.
*
»Lisa! Lisa! Lisa!!!«
In heller Aufregung, lauthals rufend, suchte Mariella ihre Nichte. Lisa war verschwunden!
Für ein paar Minuten war Mariella im Keller gewesen. Diese kurze Zeitspanne musste Lisa ausgenutzt haben, um das Haus zu verlassen. Nachdem sie Haus und Garten gründlich abgesucht hatte, konnte sie nur noch die Polizei benachrichtigen. Und warten.
*
»Hallo, Lisa!«
Die alte Bäuerin, ihr Hof lag ganz in der Nähe auf dem Billersberg, kannte die Kleine und trat neugierig näher. Natürlich hatte sie von Lisas traurigem Schicksal vernommen.
Zu Füßen des Gekreuzigten, auf dem feuchten Boden, an das verwitterte Holz gelehnt, beschirmt von den drei zart grünenden Linden, saß das Mädchen regungslos, unbewegt durch die vorbeifahrenden Autos hindurchsehend. Gleichgültige Blicke streiften das Kind.
Als die Bäuerin nähertrat, erkannte sie ein altes Lied aus ihrer Kindheit, welches Lisa leise vor sich hinsummte. Verwundert lauschte die alte Frau den kaum vernehmbaren Tönen. Wer hatte Lisa diese längst vergessene Melodie beigebracht? Wie erschrak sie aber, als ihr die Bedeutung der unscheinbaren Metallscheibe, welche Lisa krampfhaft in der Hand hielt, klar wurde.
Ein Bergspiegel! Finstere, verbotene, Unheil bringende Teufelskunst! Aber ungeachtet des Sakrilegs Schwarzer Magie schien der Erlöser huldvoll auf das Kind herabzulächeln.
Unschlüssig stand die Frau vor Lisa. Ein Polizeiwagen schoss heran, bremste scharf ab, bog in den Feldweg ein und hielt an.
*
Erleichtert schloss Mariella die stumm und steifbeinig aus dem Polizeifahrzeug ausgestiegene Lisa in die Arme. Für einen Moment schien die Kleine kurz zu reagieren, doch dann verfiel sie gleich darauf wieder in ihre gewohnte Teilnahmslosigkeit.
Allerdings blieb da noch ein ziemliches Rätsel. Die freundlichen Beamten konnten nicht erklären, wie Lisa, gut zehn Kilometer von hier entfernt, zu den drei Linden gelangt war. Sie war einfach da gewesen, wie vom Himmel gefallen. Niemand hatte das Mädchen unterwegs gesehen. Reichlich mysteriös!
Die Polizisten verabschiedeten sich freundlich und Mariella brachte Lisa ins Haus. Ohne Zögern marschierte Lisa zu ihrem Stühlchen am Fenster, sorgenvoll beobachtet von ihrer Tante. Aber Lisa verhielt sich, als ob nichts geschehen wäre.
*
Mariella verzweifelte beinahe. In unregelmäßigen Abständen verschwand Lisa.
Kurz darauf tauchte sie in der Nähe der drei Linden wieder auf, sich zielstrebig zu Füßen des Kreuzes niederlassend. Die ausladenden Blätterkronen beschützten das Kind vor der Tageshitze genauso wie vor dem Regen.
Ließ man sie ungestört, setzte sie sich nach Einbruch der Dämmerung in Bewegung und lief seelenruhig nach Hause. Meist las irgendjemand aus der Nachbarschaft Lisa auf und fuhr die Kleine das letzte Stück. Aber niemals konnte man erkennen, wie Lisa verschwand! Mariella gab sich alle Mühe, aber Lisa schien es direkt zu spüren, ob sie beobachtet wurde oder nicht.
Erneut kam es im Tal zu Getuschel und Geraune. Hexerei! Gab es da nicht eine finstere, längst vergessene Magie? Flüsternd machte unter den Alten ein nur scheu hinter vorgehaltener Hand weitergetragener Satz die Runde:
»Lisa wird durch einen magischen Bergspiegel geschützt! Wehe dem, der ihr Übles will!«
*
Manchmal, wenn Karl an dem Kreuz vorbeifuhr, sah er die kleine Gestalt des Kindes dort im Schatten der drei Linden kauern.
Seltsam, obwohl alle erzählten, die Kleine sei völlig abwesend, schien sie ihn hingegen mit teuflisch flammenden Augen scharf zu beobachten. Eiseskalt fuhr es ihm unter dem brennenden Blick des Kindes den Rücken hinunter.
Dämlicher Aberglaube! Alles nur Einbildung! Was konnte so ein verblödetes Ding ihm schon antun! Ausgerechnet ihm! Ha! Wütend trat er das Gaspedal durch.
*
Lisa fror. Sie war dünn geworden, sehr dünn.
Ein klarer, kühler, trockener Herbst hatte den warmen Sommer abgelöst. Die fallenden Blätter schufen zwar eine wärmende Unterlage, aber die Kälte drang von Ausflug zu Ausflug immer stärker durch ihre Kleidung.
Nur ein oder zweimal sollte sie noch zum Kreuz. Danach würde sie Mama und Papa wiedersehen! Der freundliche, gütige Mann im Spiegel hatte es ihr ganz fest versprochen! Und nie mehr musste sie danach wieder durch den Spiegel gehen. Der Durchgang widerstrebte ihr. Die unangenehmen, ekligen Geräusche, die Hitze und der durchdringende Gestank nach Schwefel.
Aber wenn sie dem Mann half, durfte sie bald zu Mama und Papa. Und nur das zählte!
*
Wütend trat Karl gegen den Flipper. TILT! In fetter, roter Schrift, sodass die Kumpels es auch ja gut mitbekamen.
Der Tag war schwül gewesen. In den Nachrichten war für die Nacht eine aufziehende Kaltfront mit heftigen Gewittern angekündigt worden, das Ende des sonnigen Herbstwetters.
Karls Laune war wieder einmal tief im Keller. Er fühlte sich äußerst unruhig und gereizt, obwohl, wenn man ihn gefragt hätte, er keine Antwort hätte geben können, warum. Es war einfach so.
Missgestimmt schüttete er ein Bier nach dem anderen in sich hinein. Düster, an den Flipper gelehnt, schaute er aus dem Fenster ins Dunkel. Eine schwarze und finstere Neumondnacht, für Sekunden von feurigem Wetterleuchten aufgehellt, danach umgehend in noch tiefere Schwärze versinkend.
Unsicherheit und Zweifel nagten an ihm. Damals ...
Ob er nicht vielleicht doch ein bisschen mit schuld war? Nein! Niemals! Warum waren sie auch nicht vorsichtiger gefahren, wenn sie den Wagen schon nicht richtig auf der Straße halten konnten? Selbst schuld! Eindeutig! Und dennoch ...?
»Karl! Es langt für heute, wirklich! Hör auf!«
Verdammt! Schon wieder mischte sich der Wirt ein! Moralische Vorträge ob seines Alkoholkonsums waren das Letzte, was er jetzt hören wollte! Schimpfend bezahlte er seine Zeche, schnell noch der Rosel, der Bedienung, kräftig an den Hintern fassend. Da er deren Reaktion voraussah, konnte er der Ohrfeige knapp ausweichen.
Hämisch grinsend verzog er sich. Vielleicht sollte er sich eine neue Stammkneipe suchen? So langsam hasste er es, wenn jedes seiner kleinen Bierchen von allen mitgezählt, spitz und misstrauisch kommentiert wurde. Ob an den Gerüchten möglicherweise doch etwas dran war?
Die kalte Luft tat richtig gut. Das trockene Laub raschelte unter seinen unsicheren Schritten.
Ein kurzer Blick zum Himmel. Während es im Osten noch sternenklar war, kroch von Westen dräuend eine schwere Gewitterwand heran. Der Widerschein der fernen Blitze erhellte für Sekundenbruchteile schemenhaft die umliegenden Häuserwände.
Eilig lief er zu seinem Fahrzeug und schloss es hastig auf. Rasch kletterte er in seinen Golf. Wenn er zügig fuhr, kam er rechtzeitig nach Hause, ohne nass zu werden. Wie gewohnt, vom schrillen Pfeifen der durchdrehenden Vorderräder begleitet, schoss der Wagen aus der Parklücke.
*
Obwohl barfüßig, nur in ihr dünnes Nachthemdchen gekleidet, empfand Lisa die vom matten Sternenschein erfüllte Nacht als warm und angenehm.
Ganz überraschend hatte der Spiegel strahlend hell aufgeleuchtet und der freundliche Mann darin hatte sie aufgefordert, mit ihm zu kommen. Dieses eine Mal mitten in der Nacht! Heute würde sie ihre Eltern wiedertreffen!
Vereinzelt fuhren Autos vorbei. Kühe muhten in ihren Ställen, weit entfernt ertönte das einsame, klagende Winseln eines Hundes. Lautlos, an ihren schwach grünfunkelnden Augen gut zu erkennen, strich eine Katze vorüber und verschwand im anliegenden Feld.
»Jetzt, Lisa! Jetzt!«
Der neben ihr stehende Mann lächelte ihr freundlich bestimmend zu. Rasend schnell schossen die grellen Scheinwerfer eines Wagens heran.
»Wirf den Spiegel hoch über die Straße, Lisa!«
Im Sternenlicht schwach aufblinkend, stieg die kleine Metallscheibe in die Luft. Der urplötzlich aufzuckende Blitz verwandelte den Bergspiegel in eine hell glühende Wolke aus feinstem Metalldampf. Langsam sank diese nieder, das in diesem Augenblick vorbeischießende Fahrzeug in sanft nachleuchtenden Nebel einhüllend.
Als Lisa sich umblickte, war der freundliche Mann verschwunden. Sie war allein. Traurig ließ sie sich zu Füßen des Kreuzes nieder. Die frierenden Beine eingezogen, die heiße Stirn fest an das kühlende Holz gelehnt. Aus dem Nachthimmel fielen zwei Sternschnuppen.
»Hallo, Lisa!«
Mühsam hob die Kleine den Kopf.
»Mama! Papa!«
Laut aufjubelnd sprang sie in die weit ausgebreiteten Arme der Eltern. Feine weiße Flocken trieben sacht herbei, der erste Schnee des nahenden Winters. Gnädig hüllten sie die zusammengekauerte Gestalt in ein weißes Gewand.
*
Hundertzehn zeigte die Tachonadel, als Karl seinen Golf mit pfeifend protestierenden Reifen durch die lang gezogene Rechtskurve zog. Ein schemenhaft aufragendes Gebilde rechts der Straße. Die Trafostation schien sich mahnend zu bewegen. Danach die leichte Linkskurve. Kein Problem für seinen Golf! Laut dröhnte die Musik im Radio.
»When Johnny comes marching home again, hurrey, hurrey! - They give a party to welcome him ...«
Ja, früher! Das war noch ein Leben gewesen! Da wurden Männer noch zu Hause willkommen geheißen. Schade, dass diese Zeiten vorbei waren. Wo konnte man heute noch Held sein, seinen Wagemut, seine Tapferkeit beweisen? Damals, die Föderierten, in ihren feldgrauen Uniformen, auf ihren prachtvollen, stolzen Pferden! Vorbei!
Und heutzutage? Seine Mutter sah ihn meist nur vorwurfsvoll an und sein Vater meckerte andauernd an ihm herum.
Er gab mehr Gas. Langsam stieg die Tachonadel höher.
Die drei alten Linden reckten für einen kurzen Moment im Licht der vorbeihuschenden Scheinwerfer ihre entlaubten Äste drohend in die Dunkelheit. War da nicht eben, wie ein kleines Gespenst, die schattenhaften Umrisse des verhassten Mädchens gewesen?
Geblendet kniff er die Augen zusammen. Ein greller Blitz war direkt über ihn hinweggezuckt. Scheißwetter!
Hundertvierzig! Erneut heulten die Reifen in der nachfolgenden Linkskurve gequält auf. Dann ging es eine kurze Zeit nahezu geradeaus, bis hin zur Brücke.
»Today it's our finest day, hurrey, hurrey! Victory comes by the way, hurrey, hurrey ...!« Noch immer erklang der heldenhafte Song im Radio.
Eine schwach leuchtende Schicht lag plötzlich über seiner Windschutzscheibe. Schnurgerade verlief die Straße. Endlich konnte er seinen GTI mal so richtig ausfahren! Was war schon dabei? Nichts, gar nichts!
Die Musik schien sich abrupt zu verlangsamen, der Klang der Trommeln verwandelte sich zu einem seltsam bedrohlich wirkenden Rhythmus, die Fahrgeräusche wurden immer leiser. Die Zeit stand still.
Der Sekundenzeiger der Uhr verharrte auf Mitternacht. Ruhig, ohne sich zu bewegen, zeigte die Tachonadel einhundertfünfundsiebzig an. Super! Was für ein Erlebnis!
Die runden, hellen Scheiben vor ihm? Sahen aus wie die Enden von aufgestapelten Baumstämmen! Wirklich, ein köstlicher Witz! Baumstämme mitten auf der Straße! Übrigens, war das eben nicht die Brücke gewesen, dort rechts? Unsinn! Nur eine kleine Sinnestäuschung! Alles in Ordnung, er fühlte sich wirklich gut.
»Willkommen, Karl!«
Karl lachte. Ein freundlicher, dezent gekleideter Mann unbestimmbaren Alters saß locker auf den Stämmen dort draußen und sprach laut und deutlich zu ihm.
»Freut mich sehr, dass Du pünktlich bist, Karl! Genau Mitternacht! Ach ja, weißt Du vielleicht, warum die Menschen glauben, ich gäbe mich mit einer billigen Katze zufrieden? Nicht? Na ja, macht nichts! Dennoch, alle Achtung! So schnell wie Du fährt selten einer zur Hölle!«
Das sanfte Glühen auf der Frontscheibe erlosch und Karl, im Augenblick des Erkennens, öffnete den Mund zu einem furchtbaren Schrei. Der Nerven zerfetzende Krach, mit dem der Golf an den aufgeschichteten Baumstämmen des Sägewerkes regelrecht zerbarst, übertönte alles. Im Nu hatte der explodierende Tank die ausgetrockneten Stämme entzündet. Eine meterhohe Feuerlohe markierte Karls Ende.
Die leise herabrieselnden Schneeflocken hatten gegen dieses Flammeninferno keine Chance.
*
Mechanisch überflog Mariella am darauf folgenden Abend die kurze Notiz in der Tageszeitung.
›... fast an der gleichen Stelle, an der vor genau einem Jahr die Landstraße L94 zwischen Unterharmersbach und Oberharmersbach beim Ortsteil Grün zwei Todesopfer gefordert hatte, fuhr Karl S. aus bisher ungeklärten Umständen mit extrem hoher Geschwindigkeit gegen die im angrenzenden Sägewerk gestapelten Stämme. Dies ist umso unerklärlicher, da Karl S. die Strecke gut kannte. Es wird angenommen, dass ...‹
Wie unter einem hypnotischen Zwang stehend, erhob sich Mariella und trat auf den Balkon. Eine vorbeihuschende Sternschnuppe schien ihr freundlich zuzuwinken.
Aus der Ferne erklangen leise Glockentöne. Dazwischen vermeinte sie, Lisas ferne Stimme zu vernehmen.
›Mach's gut, Mariella! Leb Wohl und vielen Dank für Alles!‹