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Оглавление1 Historie und Entwicklung der Psychomotorik
1.1 Ursprünge
Konzeptbildung
Ein Konzept entsteht nicht plötzlich aus dem Nichts heraus, sondern es erwächst aus einem praxeologischen Hintergrund. Praxeologisch heißt praxisbezogen: Das Erkenntnisinteresse des Wissenschaftlers ist primärer fahrungs- und praxisfeldbezogen. Erst in einem zweiten Schritt wird der Versuch unternommen, durch Theorieanleihen eine Stimmigkeit des Theorie-Praxis-Verhältnisses herzustellen und das eigene fachliche Handeln zu begründen (Hölter 1998). Ein Konzept entwickelt sich also prozesshaft aus verschiedenen Ideen, Erfahrungen und Theoremen, die zusammengefasst, geordnet und weiterentwickelt werden.
Einen solchen Entwicklungsweg hat das psychomotorische Konzept genommen. Versucht man die Quellen der Psychomotorik zu beleuchten, so wird man feststellen, dass das Ideengut, das in die Psychomotorik eingeflossen ist, einer langen Tradition heil-, sonder- und sportpädagogischer Vorstellungen über die Bedeutung der Bewegung für die Förderung von Kindern, insbesondere entwicklungsbeeinträchtigten Kindern, entspricht. Das ursprüngliche Konzept der psychomotorischen Übungsbehandlung von Kiphard und Hünnekens nimmt also Anleihen bei der Leibeserziehung und Gymnastikbewegung, der Sinnes- und Bewegungsschulung und der rhythmischen Erziehung und macht Elemente für die individuelle Förderung motorisch beeinträchtigter Kinder nutzbar.
„Die großen Erfolge der Psychomotorischen Übungsbehandlung und Erziehung in der Förderung beeinträchtigter Kinder, die zu der großen Verbreitung dieser Methode führten, sind sicherlich darauf zurückzuführen, daß sie in besonderer Weise die enge Verbindung von Wahrnehmen, Bewegen, Denken und Erleben betonte und in das Zentrum praktischer Arbeit stellte“ (Irmischer 1993, 9).
Sinneserziehung
Kiphard beobachtet in der kinder- und jugendpsychiatrischen Klinikpraxis, dass viele seiner Patienten Beeinträchtigungen in ihren Wahrnehmungs- und Bewegungsmustern aufweisen und versucht ihnen die Möglichkeit zu geben, Entwicklungsprozesse nachzuholen. Praktische Anregungen und theoretische Begründung holt er sich aus den Arbeiten von Maria Montessori sowie Itard und Seguin. Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts publizieren diese ihre Ideen, dass die Förderung von Wahrnehmung und Bewegung einen entscheidenden Einfluss auf die Erziehung von Kindern nehmen kann. Aus seinen erzieherischen Experimenten mit Victor, einem „wilden“ Jungen, der in den Wäldern Südfrankreichs aufgewachsen ist, entwickelt der französische Arzt Jean Itard eine Erziehungsmethode, bei der die Sinneserziehung einen wichtigen Platz einnimmt. Er versucht die „scheinbare Idiotie des Kindes“ zu heilen, indem er über gezielte Übungen die Entwicklung der Sinnesfunktionen, der intellektuellen und der affektiven Fähigkeiten des Jungen fördert. Itard findet heraus, dass eine isolierte Stimulation der Sinne sich positiv auf deren Entwicklung auswirkt.Dieses Prinzip der Förderung empfehlen später auch Maria Montessori und Kiphard. Seguin greift die Ideen von Itard auf und erweitert das Anwendungskonzept: Er vermutet, dass die intellektuellen Fähigkeitendes Menschen auf der Wahrnehmungsentwicklung aufbauen. In der Konsequenz entwickelt er ein Fördersystem spezieller Übungen (etwa Tast- und Geschicklichkeitsübungen, Übungen zur Förderung des Gehörs, des Gesichts- und des Geschmackssinns) und besondere Materialien zur Schulung von Nerven, Muskeln und der Sinne als Grundlage der Entwicklung von Intellekt und Wille.
„Wenn Seguin als Voraussetzung für eine gezielte Förderung die Analyse der psychologischen und physiologischen Voraussetzungen der Kinder fordert, so erkennt er bereits den Wert dessen, was später als Diagnostik beschrieben wird“ (Irmischer 1993, 10).
Maria Montessori greift die Ideen der beiden Franzosen auf und integriert sie in ihr differenziertes Erziehungskonzept. Sie stellt die Erziehung der Sinne und der Bewegung in den Vordergrund und entwickelt dazu vielfältige Sinnesmaterialien. So betont sie die Wichtigkeit der Selbsttätigkeit und des Selbstlernens des Kindes, was später von Kiphard aufgegriffen wird. Während jedoch Montessori das Spiel als unnütze Tätigkeit ablehnt, dient es in der Psychomotorik als eine wichtige Ausdrucks- und Tätigkeitsform sowie als therapeutisches Medium (Irmischer 1993, 11). Kiphard entlehnt aus der Montessori-Pädagogik wertvolle Beiträge zur Sinnesschulung und auch einige Ideen über Fördermaterialien.
Geistigorthopädische Übungen
In Auseinandersetzung mit der Arbeit von Maria Montessori entsteht in Deutschland das System der geistig-orthopädischen Übungen von Lesemann (1925, 1972), das die Sonderpädagogik in der Bundesrepublik bis in die fünfziger Jahre beeinflusst. In der reformpädagogischen Tradition stehend weist Lesemann schon sehr früh der motorischen Förderung seiner Hilfsschulkinder einen besonderen Stellenwert zu, um mit einem gezielteren Entgegenwirken körperlicher Beeinträchtigungen und Gebrechen einen Beitrag zur ganzheitlichen Erziehung zu leisten. In der besten Absicht, die kindliche Persönlichkeit als Ganzes zu thematisieren, sind diese Sichtweisen doch ein Beleg für die defektologische Grundlegung der Heilpädagogik der damaligen Zeit und ein Quellennachweis für Parallelen des psychomotorischen Konzepts der Anfangszeit.
Rhythmik
Die Entwicklung der Psychomotorik wird von Anbeginn stark durch die Rhythmik geprägt; Elemente der Rhythmik sind bis heute wichtige Bestandteile psychomotorischer Arbeit. Mimi Scheiblauer (1956) und Charlotte Pfeffer (1958) versuchen, phantasievoll und einfühlsam durch Rhythmik die ganzheitliche natürliche Bewegungsentwicklung ihrer behinderten Kinder zu fördern. Kiphard übernimmt beispielsweise Teile aus dem Orff-Schulwerk und Orff-Instrumente, um das rhythmisch-musikalische Angebot zu erweitern (Schäfer 1993, 21).
Individuelle Zielsetzung
Das Verdienst des Psychologen Löwnau ist es schließlich, die Bewegungserziehung entwicklungsbeeinträchtigter Kinder um gezielte (psycho-)therapeutische Akzente bereichert zu haben. Kennzeichen seiner therapeutischen Überlegungen ist es, stärker individualisierte Zielsetzungen in den Förderprozess zu integrieren. Kein fremdbestimmter Lehr- oder Stoffplan (etwa der Leibeserziehung) solle Problemkindern „übergestülpt“ werden, um durch körperliche Ertüchtigungeine Verhaltensregulation zu erwirken, sondern gehemmte, ängstliche,aber auch unruhige und triebhafte Kinder bräuchten vielmehr einen möglichst behutsamen, nicht direktiven Weg, bei dem die Anerkennung der Persönlichkeit des Kindes im Vordergrund steht (Irmischer 1993, 16). Es sind dies bereits konzeptionelle Strukturelemente, die heute unter dem Begriff kindzentrierte Bewegungserziehung diskutiert werden und die Wesenszüge des psychomotorischen Konzepts ausmachen.
Einflüsse der Leibeserziehung
Wesentliche Impulse erhält die Psychomotorik aus der Leibeserziehung. Vertreter wie Liselott Diem (1935), die bereits 1935 für den Primarbereich eine ganzheitliche Bewegungserziehung fordert, Ludwig Mester, der das Ziel der Leibeserziehung in der Grundschule 1954 in der „Erziehung durch Bewegung“ sieht und Konrad Paschen, der dem Sportunterricht fachübergreifende Erziehungsaufgaben zuweist, sind nur einige Vertreter, die die Entstehung und Entwicklung der Psychomotorik beeinflussen. Von Seiten der Psychomotorik sind diese Quellen und Bezüge nicht hinreichend aufgearbeitet worden; allenfalls Irmischer (1984, 1993) beschäftigt sich mit einer historischen Perspektive. Sie sind jedoch wichtig für die Entstehungsgeschichte und wissenschaftliche Einordnung des Ansatzes sowie die Begründungslinien der aktuellen Annäherung von Psychomotorik und Sportpädagogik im Begriff der Bewegungserziehung. Wichtige Hinweise finden sich bei Röthig (1966) und Größing (1993), die die Quellen der Reformpädagogik und der Gymnastikbewegung – insbesondere des rhythmischen Prinzips – für eine sportpädagogische Grundlegung nachzeichnen. Als Überblicksdarstellung für den Elementar-, Primar- und Förderschulbereich unter einer inklusiven Perspektive ist auch das Werk von Stabe (1996) zur Rhythmik als ganzheitliche Entwicklungsförderung wertvoll. Erst in jüngerer Zeit wird das Thema des Rhythmisch-Musikalischen als wesentliches Element der psychomotorischen Entwicklungsförderung wiedererkannt (Röthig 2002; Wehle 2003; von Dreusche/Graul-Mayr 2006; Bankl 2016).
1.2 Psychomotorik als Meisterlehre
E.J. Kiphard
Der Begriff Psychomotorik ist in Deutschland eng mit dem Namen Kiphard (1923–2010) verbunden; dieser wird nicht selten als „Urvater“und „Seele“ bezeichnet (Abb. 1). Kiphard entwickelt die wesentlichen Grundzüge der Psychomotorik im Laufe seiner langjährigen Tätigkeit am Westfälischen Institut für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Heilpädagogik in Hamm. Kiphard und Hünnekens (als ärztlicher Leiter) verknüpfen im klinischen Kontext die gerade bei dieser besonderen Klientel deutlich zu Tage tretende „diagnostische Erkenntnis des Zusammenhangs zwischen Entwicklungsstörungen/seelischen Behinderungen und motorischen Retardierungen mit dem Ansatz von Therapie über Bewegung, Förderung der Entwicklung über Motorik, der „Psychomotorischen Übungsbehandlung“ (Jarosch et al. 1987, 12). Am Anfang der konzeptionellen Entwicklungen in Deutschland steht in den fünfziger und sechziger Jahren nicht die Theorie, sondern die Praxis.
Abb. 1: E. J. Kiphard, der Begründer der deutschen Psychomotorik
Nach dem Umzug der Gütersloher Fachklinik in das Institut für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Heilpädagogik nach Hamm (1965) kommt es verstärkt zu Forschungen und Veröffentlichungen über die Bedeutung der Motorik für die kindliche Entwicklung, Möglichkeiten der Motodiagnostik und pädagogischer und therapeutischer Förderung durch Psychomotorik.
Erste Effizienzüberprüfung
Durch einen Forschungsauftrag des Sozialministeriums Nordrhein-Westfalen im Jahre 1957/58 kommt es zu einer ersten Effizienzüberprüfung der damaligen Psychomotorischen Übungsbehandlung.Die Ergebnisse werden 1960 im Jahrbuch der Jugendpsychiatrie (Band 2) veröffentlicht und im gleichen Jahr erscheint die erste Auflage des Büchleins „Bewegung heilt“, in dem Kiphard versucht, die Grundzüge seiner praktischen Arbeit in systematisierter Form darzustellen. Er setzt sich zum Ziel, über die Motorik eine leibseelische Harmonisierung und Stabilisierung der Gesamtpersönlichkeit der ihm anvertrauten jungen Patienten zu bewirken. So werden Übungen zur Sinnesschulung, Körper-, Raumwahrnehmung, Behutsamkeit, Selbstbeherrschung, rhythmisch-musikalischen Schulung und zum Körperausdruck spielerisch motivierend in Kindergruppen durchgeführt.
„Die besondere Faszination, die von der Persönlichkeit Kiphards über Zauberkünste, Gags, akrobatische Einlagen, Einsatz des Schifferklaviers ausging, darf nicht unerwähnt bleiben. Verhaltensänderungen waren bei den Kindern nach einer ca. 6-wöchigen psychomotorischen Übungsbehandlung deutlich beobachtbar: Die Kinder waren aufmerksamer, strukturierter, sozial integrierter, fröhlicher, mutiger und ausgeglichener im Verhalten“ (Schäfer 1998, 82).
Entwicklung der Motodiagnostik
Ein Forschungsauftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG)im Jahre 1965/66 soll die ausgewiesenen Effekte belegen; jedoch erweisen sich die bekannten psychomotorischen Testbatterien als wenig effektiv. Forschungsanliegen wird es nun, neben der Erweiterung motometrischer Tests vor allem motoskopische Verfahren zu entwickeln. So entstehen in mehrjähriger interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen Kiphard (unterstützt durch seine Mitarbeiter Ingrid Schäfer und Georg Kesselmann), dem Jugendpsychiater Helmut Hünnekens und dem Psychologen Friedhelm Schilling
■ der Trampolin-Körperkoordinations-Test (TKT); Veröffentlichung 1970,
■ der Körperkoordinations-Test für Kinder (KTK); Veröffentlichung 1974,
■ das Sensomotorische Entwicklungsgitter; Veröffentlichung mit Filmdokumentation 1975 (Schäfer 1998, 82).
Für die Anfangszeit der Psychomotorik konstitutiv – und wesentlich für ihre interdisziplinäre Anerkennung – ist somit ein diagnostisches Fundament (Schilling 1973, 2002; Schäfer 1993), das sich im Laufe der Ausdifferenzierung des Fachgebietes zu einem umfassenden (aber nicht einheitlichen) motodiagnostischen Konzept entwickelt hat. Dennoch bleibt die ursprüngliche psychomotorische Übungsbehandlung als Meisterlehre kiphardscher Prägung bekannt; sie gilt als Inbegriff der praxeologisch ausgerichteten Entwicklungslinie der Psychomotorik. Kiphards Verständnis zufolge handelt es sich um eine „Ermutigungspädagogik mit zirzensischen Mitteln“ (Seewald 1997, 4). Eine kategorische Zuordnung zu Pädagogik oder Therapie ist nicht erkennbar, vielmehr soll mittels einer spielerischen und darstellenden Methodik eine Hilfe zur Selbsterziehung ermöglicht werden. Kiphard selbst hat in seinem Werk eine Wandlung vollzogen, die die paradigmatischen Veränderungen der Psychomotorik widerspiegelt. Von einer medizinisch-psychiatrischen Sichtweise ausgehend hat er sich später verstärkt einem ganzheitlichen Paradigma verschrieben. Hierbei beruft er sich u.a. auf den Gestaltkreis von V. von Weizsäcker, auf die Reformpädagogik und die Rhythmikerziehung. Insgesamt ist die Meisterlehre (Kiphard 1998) jedoch vornehmlich als praxeologisches Konzept zu verstehen, da sie das Selbstverständnis aus der Praxis und weniger aus theoretischen Begründungszusammenhängen gewinnt. Kiphard bleibt sich im Grundkonzept seines Ansatzes ein Leben lang treu. In den persönlichen Rückblicken von Kiphard selbst (Kiphard 2002, 2004a und b) und in einem Schwerpunktheft der Zeitschrift Motorik nach Kiphards Tod durch Wegbegleiter (Höhne/Jessel 2011; Schäfer 2011; Göbel 2011) wird deutlich, dass Bewegung und Spiel als kindgerechte Elemente pädagogisch-therapeutischer Interventionen verbunden mit einem Schuss Freude, Humor und Clownerie immer ihre Wirkkraft entfalten. In einer Zeit der Verarmung des kindlichen Spielverhaltens gilt freudvolle Aktivität und Leidenschaft als Lebensbereicherung. Insofern hat das Lebenswerk Kiphards auch eine Zukunftsperspektive.
1.3 Etablierung der Psychomotorik als Wissenschaftsdisziplin (Motologie)
Aktionskreis Psychomotorik e.V.
Die Verwissenschaftlichung der Meisterlehre Kiphards ist in der Anfangsphase eng an die Gründung des Aktionskreises Psychomotorik (e.V.) gebunden. Dieser wird 1976 als gemeinnütziger Verein in Hamm/Westfalen gegründet. Der Begriff Psychomotorik betont innerhalb der menschlichen Motorik den engen Zusammenhang von Wahrnehmen, Erleben, Erfahren und Handeln. Damit ist der Gegenstandsbereich als Ausdruck der gesamten Persönlichkeit des Menschen programmatisch gesichert, der Zielbereich von Anfang an als interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaft von Bewegungsfachleuten aus den Disziplinen Pädagogik, Psychologie und Medizin ausgewiesen (Kiphard 2004a; Müller 2001, 2002; Schilling 2001).
Internationale Motorik-Symposien
Vorausgegangen ist der Vereinsgründung ein erhöhtes Interesse der Fachöffentlichkeit an den Themen und Erfolgen der psychomotorischen Arbeit. Im Jahre 1968 findet das 1. Internationale Motorik-Symposium auf Initiative von Kiphard in Hamm statt. Es folgen das 2. Internationale Motorik-Symposium 1971 in Frankfurt zum Thema Die Bedeutung der Motorik für die Entwicklung normaler und behinderter Kinder und das 3. Symposium 1973 in Luxemburg zum Thema Motorik im Vorschulalter. Letzteres wird vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft (Köln) durchgeführt und dokumentiert das gewachsene nationale und internationale Interesse an Ergebnissen der Motorikforschung in der Entwicklungsspanne der Kindheit. Der Kongressbericht wird dreisprachig (deutsch, englisch, französisch) von Müller et al. (1975) herausgegeben und wird zu einem Anknüpfungspunkt interdisziplinärer Fachgespräche.
Zeitschriften-publikationen
In der Folgezeit häufen sich die wissenschaftlichen Publikationen zur Psychomotorik (für einen Rückblick s. Fischer/Behrens 2012). Im Jahre 1976 gibt der AKP die Zeitschrift Psychomotorik heraus. F. Schilling (Marburg) übernimmt die Funktion des verantwortlichen Redakteurs und vertritt fortan den inhaltlichen Schwerpunkt Motologie und Motodiagnostik. E.J. Kiphard wird Fachredakteur für Mototherapie und G. Neuhäuser wird zuständig für die medizinischen Grundlagen. Ab 1978 ändert sich die Zeitschriftenpublikation durch Herausgabe von zwei Zeitschriften, der eher praktisch orientierten Praxis der Psychomotorik und der eher theoretisch orientierten Motorik. In der Folge erscheinen psychomotorisch orientierte Beiträge in zahlreichen pädagogischen, psychologischen und medizinischen Fachzeitschriften.Mehrere wissenschaftliche Buchreihen mit psychomotorischen Themenschwerpunkten werden herausgegeben.
Grundlagenkommission
Nach der Gründung des Aktionskreises entsteht das Problem, das von Kiphard und seinen Mitstreitern geschaffene Gedanken- und Übungsgut lehrbar zu machen und weiter theoretisch zu fundieren. Zu diesem Zwecke wird eine Grundlagenkommission einberufen, die in den Jahren 1977 bis 1979 die theoretischen Grundlagen der deutschen Psychomotorik entwickelt. In der Folge werden diese zum Fundament für
■ die erste Motopädenausbildung (ab 1977 in Dortmund). Heute existieren in Deutschland mehr als ein Dutzend Fachschulausbildungen von ein- bis dreijähriger Dauer mit pädagogischen und therapeutischen Schwerpunktsetzungen (Borgmeier 2002);
■ den ersten post-gradualen Studiengang Motologie (seit 1983 an der Universität Marburg mit einer wissenschaftlichen und berufspraktischen Doppelqualifikation in den Bereichen Motopädagogik und Mototherapie sowie zahlreiche Neukonzeptionen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Wer sich in der Aus-, Fort- und Weiterbildungslandschaft (auch akademisch ausgebildeter)Psychomotoriker/Psychomotorikerin nennen darf stellt Späker (2012) überblicksartig zusammen. Es ist das Verdienst von Friedhelm Schilling (Abb. 2), mit seiner wissenschaftlichen Grundlegung des Fachgebietes Motologie (1976) sowie einigen wissenschaftlichen Projekten an der Universität Marburg die Voraussetzungen für die universitäre Etablierung und Entwicklung des Wissenschaftsgebietes Motologie geschaffen zu haben.
Das Fachgebiet der Motologie beschäftigt sich mit der „Lehre von der Motorik als Grundlage der Handlungs- und Kommunikationsfähigkeit des Menschen, ihrer Entwicklung, ihrer Störungen und deren Behandlung“ (Schilling 1981, 187). Es gliedert sich in die Teilgebiete der Motogenese, der Motodiagnostik und der Motopathologie sowie in der Anwendung von Fördermaßnahmen in Motopädagogik und Mototherapie. Abbildung 3 gibt einen Überblick über den Aufbau der Motologie im Entwurf der 1980er-Jahre (erste Fachsystematik).
Abb. 2: F. Schilling, der Initiator des 1. Studiengangs Motologie bei seiner Festrede aus Anlass des 15-jährigen Jubiläums des Studiengangs im November 1998
Motopädagogik und Mototherapie gestalten die angewandte Motologie und beinhalten die abgeleiteten Ziele und Methoden der Grunddisziplin zur Persönlichkeitsbildung und -therapie über das Medium der Bewegung. Basis für motopädagogisches Handeln sind die Erkenntnisse über die Entwicklung des Menschen (Motogenese) mittels diagnostischer Maßnahmen und Ableitungen aus Theorien (Motodiagnostik). Dabei steht das Prinzip einer ganzheitlichen Sichtweise der Motorik im Mittelpunkt des Fachinteresses. Schilling versteht Motopädagogik als Konzepterweiterung der psychomotorischen Erziehung und definiert sie als „ganzheitlich orientiertes Konzept der Erziehung durch Wahrnehmung, Erleben und Bewegung“. Mototherapie wird dagegen als
Abb. 3: Aufbau des Fachgebietes Motologie (1. Fachsystematik) (Schilling 1981, 187)
„bewegungsorientierte Methode zur Behandlung von Auffälligkeiten, Retardierungen und Störungen im psychomotorischen Verhaltens- und Leistungsbereich“ verstanden (Schilling 1986a, 728).
Motopädagogik ist präventiv bedeutsam, so in der Frühförderung oder als bewegungserzieherisches Konzept der Vorschulpädagogik; Mototherapie wirkt eher rehabilitativ und ist u.a. dem klinischen Bereich der Kinder- und Erwachsenenpsychiatrie zuzuordnen. Auch für das mototherapeutische Handeln bilden die Grundlagen der Motogenese, der Motodiagnostik und Motopathologie die Voraussetzung.
1.4 Ziele und Inhalte
Erfahrungen in Handlungssituationen
Motopädagogik will den Menschen anregen, sich handelnd seine Umwelt zu erschließen, um seinen Bedürfnissen entsprechend auf sie einwirken zu können. Sie versucht dies zu erreichen, indem sie vielfältige Wahrnehmungs- und Bewegungserfahrungen in Handlungssituationen vermittelt. Motopädagogik ist auf die Ganzheit der menschlichen Persönlichkeit gerichtet, weil sie nicht die Verbesserung bestimmter motorischer Fertigkeiten in das Zentrum ihrer Bemühungen stellt, sondern weil sie Bewegungshandeln als Verwirklichungsmöglichkeit der kindlichen Persönlichkeit und als wesentliches Mittel der Förderung betrachtet (Irmischer 1987, 13; im Überblick s. Zimmer 2012, 19–25; Krus 2015a; Schneider 2015). Als Richtziel ihres Förderungsbemühens formuliert die Motopädagogik die Kompetenzerweiterung des Kindes, sich sinnvoll mit sich selbst, mit seiner materialen und personalen Umwelt auseinander zu setzen und entsprechend handeln zu können. Daraus lassen sich folgende, nur analytisch trennbare Kompetenzbereiche ableiten:
■ sich und seinen Körper wahrzunehmen, zu erleben, zu verstehen, mit seinem Körper umzugehen und mit sich selbst zufrieden zu sein (Ich-Kompetenz);
■ die materiale Umwelt wahrzunehmen (= sie zu erleben und zu verstehen) und in und mit ihr umzugehen (Sach-Kompetenz);
■ Sozial-Kompetenz zu erwerben, d.h. zu erfahren und zu erkennen, dass sich alle Lernprozesse im Spannungsfeld zwischen den eigenen und den Bedürfnissen anderer vollziehen.
Körpererfahrung
Daraus ergeben sich die drei inhaltlichen Lernfelder der Körpererfahrung, der materialen Erfahrung und der Sozialerfahrung. Die Körperlichkeit des Kindes ist das Zentrum seiner Persönlichkeit, der Dreh- und Angelpunkt seiner Existenz. Handeln schließt immer die körperliche Bewegung mit ein. Im Bewegungshandeln lernt das Kind seinen Körper kennen, mit ihm umzugehen, ihn einzusetzen und auf die Umwelt einzuwirken. Die Orientierung am eigenen Körper ist die Basis jeder Orientierung im Raum. Zugleich ist der Körper der Spiegel psychischen Erlebens; über seinen Körper erlebt das Kind seine Befindlichkeit und bringt seine Gefühle und Bedürfnisse zum Ausdruck. Das Lernfeld Körpererfahrung in der Motopädagogik will Körper- und Bewegungserfahrungen vielfältigster Art ermöglichen und gestaltet seine Angebote adäquat dem Entwicklungsalter der Zielgruppen entsprechend.
Materiale Erfahrung
Der Lernbereich der materialen Erfahrung strukturiert schwerpunktmäßig die kognitiv-emotionalen Entwicklungsimplikationen der räumlich-gegenständlichen Umwelt. Der Umgang mit Materialien wird zum Medium der Erkenntnisgewinnung. Im Spiel mit unterschiedlichsten Objekten gewinnt das Kind Informationen über Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten der dinglichen Umwelt: Es erweitert seine Sach- und Handlungskompetenz. Entscheidend für die Förderung kindlicher Handlungskompetenz sind Materialien, die die Selbstständigkeit und das kreative Spiel des Kindes provozieren. Bevorzugt werden Alltagsmaterialien in die Angebote einbezogen, um sinnvolle Bezüge zur Alltagsrealität herzustellen. Materialgestaltete Spielsituationen im Kindesalter wären etwa die Benennung, Kategorisierung, Unterscheidung von Gegenständen, der sach- und zielgerichtete Einsatz von Material, die Kombination unterschiedlicher Spielobjekte, das Transportieren, Bewegen und Verändern von Material. Auch die Natur (Wald, Wiese, Wasser, Schnee etc.) bietet aus motopädagogischer Perspektive ein reichhaltiges Feld materialer Erfahrungen.
Sozialerfahrung
Nur im Kontakt mit den Mitmenschen lernt der Mensch sich zu verständigen und auszudrücken. In geeigneten Situationen lernen Kinder mit Partnern zu kooperieren, Rücksicht zu nehmen, Verantwortung zu tragen, Einfühlungsvermögen zu zeigen, aber auch sich durchsetzen zu können. So sind z.B. Wagnis und Abenteuerlust psychisch erlebbare Zustände, die pädagogisch viel zu selten im Sinne der Stärkung von Selbst- und Sozialerfahrungen genutzt werden. Dabei ist es durchaus legitim und pädagogisch sinnvoll, etwa durch das Arrangement eines Geräteparcours in der Turnhalle oder die Aufgabenstellung der Überwindung eines Hindernisses in der Natur (Erklimmen eines Hanges oder Überqueren eines Baches), bei Kindern Prozesse in Gang zu setzen, die das Selbstwertgefühl des Einzelnen stärken und die Anerkennung in der Gruppe sichern. Die Erfahrungen gemeinsam durchlebter Abenteuersituationen und der kooperativen Bewältigung komplexer Aufgabenstellungen erweisen sich für die besondere Klientel beeinträchtigter Kinder als persönlichkeitsstärkende Lebenshilfe.
Abgrenzung von Mototherapie und -pädagogik
In der Anfangszeit der Verwissenschaftlichung der Meisterlehre sind die Übergänge zwischen Motopädagogik und Mototherapie fließend und lassen sich nur unscharf voneinander abgrenzen. So spielen in der Mototherapie pädagogische Grundlagen eine wichtige Rolle, während in der Motopädagogik auch therapeutische Elemente zum Tragen kommen. Dieses ändert sich in den 1980er-Jahren mit der Notwendigkeit, eine klare Definition und Indikationsstellung zu formulieren, will die Mototherapie die Verordnungsfähigkeit durch das medizinische System erreichen. Die wissenschaftliche Fundierung dient dazu, die damalige Psychomotorik zu legitimieren. Es zeigt sich, dass motorische Schwierigkeiten des Kindes immer in Verbindung mit anderen emotionalen und sozialen Persönlichkeitsbereichen stehen. Erstere werden als „zentrales Problem der Persönlichkeitsentwicklung“ interpretiert. Dies führt zu dem theoretischen Grundaxiom der „Sekundärstörungen“ (Schilling 1984, 102), wonach psychische Auffälligkeiten als sekundäre Kompensationsphänomene zu verstehen sind. Die weiteren Überlegungen führen zu einer dynamischen Betrachtungsweise von Störungen, da sich die behinderten Kinder trotz gleicher Ursachen ihrer Behinderungen im Verhaltens-und Leistungsbereich erheblich voneinander unterscheiden.
Wissenschaftliche Grundlagen
Da die Motologie zu diesem Zeitpunkt über keine eigene Entwicklungs- und Persönlichkeitstheorie verfügt, die individuelle Entwicklungsförderung jedoch zentrales Anliegen von Motopädagogik und -therapie ist, wird in der Theoriebildung auf allgemeine Theorien zurückgegriffen. Für den wissenschaftlichen Hintergrund der Motologie der 1970er-und 1980er-Jahre sind insbesondere die Gestaltkreistheorie von v. Weizsäcker (1947), die materialistische Handlungstheorie von Leontjew (1973) und die kognitive Entwicklungstheorie Piagets (1975)bedeutsam, wobei Theoriebezüge üblicherweise zu Grundlagen hergestellt werden, die von Piaget und seinen Mitarbeitern in der Zeit von 1936 bis 1948 erarbeitet wurden (Fischer 1996a, 19) (zur Vertiefung s. Kapitel 3 und 4). Für die motologische Theoriekonstruktion steht die Handlungs-und Kommunikationsfähigkeit des Menschen im Vordergrund. Entwicklung vollzieht sich danach „in der tätigen, wechselseitigen Interaktion mit der Umwelt in Abhängigkeit von biologischen Bedingungen“. Dem Bewegungsfachmann – auch dem Forscher – kommt dabei die Aufgabe zu, „Differenzierungsprozesse zwischen Reifen, Wachsen und Lernen als umfassende adaptive biologische Aneignungsprozesse zu verstehen“ (Schilling 1986b, 59; 1993, 55).
Die klassische Theorielegung der Motologie ist ein Beitrag zur Verwissenschaftlichung der Psychomotorik, dennoch ein Kind ihrer Zeit und gerät aus diesem Grund mit dem sich wandelnden Wissenschaftsverständnis der 1990er-Jahre in die Kritik. Diese bezieht sich im Wesentlichen auf die ursprünglich linear-kausale Modellvorstellung der Psychomotorik (Motologie) und den nur schleppenden Übergang zu einem ressourcenorientiert-kontextuellen Wissenschaftsverständnis des Ansatzes.
1.5 Paradigmenwechsel in der Fachdiskussion
Der Mensch als Subjekt
Der Wandel zu einer eher ganzheitlichen Sichtweise in der Wissenschaft beginnt vor mehr als einem halben Jahrhundert und ist noch nicht abgeschlossen. Der Mediziner und Philosoph Viktor von Weizsäcker kann als geistiger Initiator des Paradigmenwechsels in der wissenschaftlichen Diskussion betrachtet werden, da er in den fünfziger Jahren die Aufhebung des Dualismus fordert und der Frage nachgeht, wie sich Subjekt und Objekt, d.h. Mensch und Welt, begegnen (Philippi-Eisenburger 1991a, 10). Er sieht den Menschen als einen aktiven, sich selbst gestaltenden und ganzheitlichen Organismus an, den das informationstheoretische Verarbeitungsmodell nicht hinreichend darstellen kann, da Phänomene von Wahrnehmung und Bewegung nicht berücksichtigt werden.Von Weizsäcker legt damit die theoretische Grundlage für neuere konzeptionelle Entwicklungen in der Psychomotorik (Motologie). In der gegenwärtigen postmodernen Sichtweise wird der Mensch als Subjekt,als ein „sich bewegendes, wahrnehmendes, fühlendes, denkendes und sinngebendes“ (Philippi-Eisenburger 1991a, 10; Eisenburger 2003a)Wesen, damit als Person gesehen und innerhalb eines Netzwerkes von Entwicklungsfaktoren verortet. Über verschiedene Zwischenschritte des Fachdiskurses hat sich das Wissenschaftsverständnis der Psychomotorik und Motologie kontinuierlich weiterentwickelt und ein modernes Menschen- und Weltbild etabliert (Hammer 2004a; Mattner 2004).
Darüber hinaus trifft die Fachdebatte auf einen internationalen und interdisziplinären Fachdiskurs, der Bewegung und Körperlichkeit (Embodiment) zur tragenden Thematik in den Kognitions- und Entwicklungswissenschaften erhebt und ein (radikal) ganzheitliches Wissenschaftsverständnis formuliert (Shepherd 2017)(siehe Kap. 3.2).
In der Begriffswahl hat sich seit einiger Zeit der Terminus Psychomotorik gegenüber dem der Motologie durchgesetzt (Fischer 2001a, 2015a, b; Krus/Jasmund 2015; Reichenbach 2011; Zimmer 2012). Zum einen weil Motologie enger das von Schilling (1976a) konzipierte und von Seewald (2007) modifizierte Fachgebiet und den Studiengang in Marburg repräsentiert, zum anderen weil der Begriff Psychomotorik sich als Leitbegriff des von Kiphard begründeten Fachdiskurses über die Einheit von Bewegen, Wahrnehmen, Erleben, Erfahren und Handeln als Basis von Bildung, Förderung und Therapie versteht. Zudem ist Psychomotorik der international gebräuchliche Fachterminus (s. Kap. 1.6).
Vier Perspektiven
In der Konzeption der Psychomotorik der letzten Jahre gibt es verschiedene Diskussionslinien oder Perspektiven, die prinzipiell gemeinsame Leitmotive erkennen lassen (etwa die Orientierung am Kind bei gleichzeitiger Berücksichtigung der Prinzipien der Ganzheitlichkeit und der Nähe zur Lebenswelt); dennoch gibt es unterschiedliche begriffliche und inhaltliche Akzentsetzungen. Vier Perspektiven seien an dieser Stelle überblicksartig angesprochen (vgl. Fischer 2015a; Fischer/Krus 2013; Krus 2015a; Kuhlenkamp 2017); einzelne Konzepte werden in Kapitel 4 ausführlicher dargestellt.
Die funktionale Perspektive
Die klassische Perspektive ist eher funktional ausgerichtet; sie umfasst den ursprünglichen Ansatz der Psychomotorischen Übungsbehandlung von Kiphard, das Konzept der Klinischen Psychomotorischen Therapie (Jarosch et al. 1993) sowie, aus der engen Zusammenarbeit mit Inge Flehmig am Institut für Kindesentwicklung in Hamburg, die Sensorische Integrationstherapie von Ayres (1984, 1998) in der Weiterentwicklung von Brand et al. (1985) sowie Kesper und Hottinger (1992, 2015), die Bewegung als Funktionsgeschehen betrachten. Hauptkriterien der funktionalen Perspektive sind: Gewandtheit, Wohlkoordiniertheit,Rhythmus, Sicherheit, Tempo, Kraft, Ausdauer, Tonusregulation. Der Ansatz orientiert sich traditionell stärker an der medizinisch-defizitorientierten Sichtweise, in der die vier Stationen Ursachendiagnostik, Therapieindikation, Durchführung der Therapie und Erfolgskontrolle programmatisch durchgeführt werden. In der Psychomotorischen Übungsbehandlung ist die Gruppentherapie mit ihrer sozialen Wechselwirkung von Anfang an wesentlich für den Erfolg. Sie zielt nicht nur auf die Verbesserung bestimmter Teilfunktionen. Das Kind soll durch die gezielte Sinnes- und Bewegungsschulung in seiner gesamten Persönlichkeit gefördert werden. Neuere Konzeptentwicklungen nehmen Bezug zur Systemtheorie (etwa Brüggebors, 1992), eröffnen eine ganzheitlich-dialogische (Kiesling 1999) oder eine symbolische Perspektive in Bezug auf die französische Psychomotorik (Esser 2011;Lapierre/Aucouturier 2002).
Die erkenntnisstrukturierende Perspektive
Die erkenntnisstrukturierende/kompetenztheoretische Perspektive:Dieser stärker an (kognitiven) Kompetenzen orientierte Ansatz, den u.a. Schilling (1977a) und Zimmer (1981a) vertreten, lässt sich entwicklungstheoretisch auf Piaget (1975) zurückführen und enthält lernpsychologische Regeln. Bewegung wird als Strukturierungsleistung und als wichtiger Teil der Handlungsfähigkeit betrachtet. Um Bewegungsmuster zu generalisieren und sich dadurch der sich stetig verändernden Umwelt anzupassen, muss die Wahrnehmung des Kindes in einem Lernprozess umstrukturiert werden. Nach diesem Ansatz ist die Differenzierung von Wahrnehmungs- und Bewegungsmustern die wichtigste Grundlage der Handlungsfähigkeit. Dementsprechend findet der Ansatz eine starke Anwendung in der frühen Förderung, vor allem in vorschul-, grundschul- und heilpädagogischen Kontexten. Die Frage nach den Kompetenzen wird in den letzten Jahren stärker auf Aspekte des subjektiven Bewegungserlebens und die dahinterstehenden sozial-emotionalen Lebensthemen ausgeweitet. Die Konzepte der kindzentrierten psychomotorischen Entwicklungsförderung nach Zimmer (2012) und der psychomotorischen Entwicklungstherapie nach Krus (2004a) integrieren Erkenntnisse der nichtdirektiven Spieltherapie sowie der Selbstkonzepttheorien. Inhaltlich geht es in dieser Perspektive um die Stärkung eines positiven Selbstkonzeptes durch Selbstwirksamkeitserfahrungen in Problemlösesituationen durch Handeln. Insofern habe ich diesen Zugang in früheren Klassifikationen als identitätsbildende Perspektive bezeichnet (Fischer 2001a, b).
Der Verstehende Ansatz
Eine Besonderheit ist der Verstehende Ansatz von Seewald (2007). Er favorisiert eine phänomenologische Grundlegung und integriert tiefenpsychologische Aspekte. Gegenstand der Methode sind Bewegungs- und Spielsituationen, in denen Lebensthemen bespielt werden können. Es geht um das Ausleben von Erlebnissen, Gefühlen und Bedürfnissen der Kinder. Es werden Geschichten und Spielsituationen inszeniert, um ein dialogisches Verstehen der dahinterstehenden Lebensthemen zu ermöglichen.
Die ökologischsystemische Perspektive
Die ökologisch-systemische Perspektive: Dieser Ansatz zielt auf eine Perspektivenerweiterung, da das Kind nicht länger individuumszentriert, sondern im Zusammenhang mit seiner Umwelt betrachtet wird. Zur Entwicklung braucht das Kind Sozialpartner, vor allem die Eltern, Geschwister und Gleichaltrigen sowie die Zeit und den Raum für gemeinsame Aktivität. Somit wird Bewegung zum sozialen und sozialräumlichen Phänomen, weil ein Verstehen der kindlichen Verhaltensweisen nur im Kontext sinnvoll ist (Fischer 1996b, d). Das neue Interesse des Pädagogen oder Therapeuten richtet sich auf den partnerschaftlichen Dialog in der Fördersituation, um die dominierenden Lebensthemen des Kindes zu verstehen (Seewald 1993) und entwicklungsfördernde Angebote zu machen. Das Interesse richtet sich aber auch auf die Frage, unter welchen Bedingungen (z.B. bei Überforderungen) Probleme sichtbar werden und wie Lebensräume (z. B. Spielräume) und Beziehungen gestaltet sein müssen, um eine Vermittlung zwischen individuellen, sozialen und kulturellen Anforderungen zu ermöglichen (Balgo 1998a, 2004, 2009).
Die dargestellten Perspektiven sind fachhistorisch nacheinander entstanden, setzen in der Betonung der zu erklärenden Aspekte im Theorie-Praxis-Bezug der Psychomotorik unterschiedliche Schwerpunkte. Im Praxisfeld existieren sie praktisch nebeneinander. So geht es in der „Ansatzdiskussion“ (Seewald 2009) eher um eine komplementäre Erklärungsweise und die psychomotorischen Forscher verfolgen heute eine integrative oder mehrperspektivische Vorgehensweise (Richter-Mackenstein 2014), was in eine veränderte Fachsystematik einmündet (Abb. 4).
Allgemeine Grundlagen• Historische Perspektive des Faches• Gesellschaftliche Funktion• Wissenschaftstheorie• Methodologie | ||
Themenfelder• Wahrnehmung/Bewegung• Körper/Leib/Embodiment• Entwicklung• Gesundheit• Diagnostik• Gesellschaftlicher Bezug | Paradigmen und Perspektiven/Ansätze Entwicklungsförderung• Funktionale Perspektive• Kompetenztheoretische Perspektive• Verstehender Ansatz• Ökologisch-systemische PerspektiveGesundheitsförderung Therapie Bildung/ Erziehung | Angrenzende Fachdiskurse• Sportpädagogik• Heil- und Förderpädagogik; Reha-Wissenschaften• Kindheitswissenschaften• Teilgebiete der Psychologie• Teilgebiete der Medizin• Entwicklungs-/Neurowissenschaften• PM in Europa• Adapted Physical Activity• Körperpsychotherapie |
Praxis Qualitätsentwicklung und Evaluation, z. B.:• Effekte- und Wirkungsforschung• spezifische und unspezifische Wirkfaktoren• Fallstudien |
Abb. 4: Weiterentwicklung des Faches Psychomotorik/Motologie (Seewald 2007; Fischer 2017)
Die Etablierung der Psychomotorik als Wissenschaftsdisziplin führte schließlich zu zahlreichen Schwerpunkten in Hochschulausbildungen der Lehrerbildung und in Studiengängen für psychosoziale Berufe, Kindheitswissenschaften und der Behindertenarbeit (z. B. in Bochum, Braunschweig-Wolfenbüttel, Darmstadt, Dortmund, Emden, Koblenz, Köln). Gegenwärtig gibt es zahlreiche Bestrebungen, die Konzepte in konsekutive Bachelor-Master-Modelle zu integrieren und auch die Motopädenausbildung zu akademisieren. Auf vier der Studiengangsentwicklungen wird nachfolgend wegen der konzeptionellen Besonderheiten überblicksartig hingewiesen. Zur Vertiefung sei auf die Homepages (Adressen im Anhang) verwiesen.
■ Der Masterstudiengang Motologie (Universität Marburg) integriert seit 2006 einen Studienschwerpunkt in Körperpsychotherapie in der Arbeit mit Erwachsenen und akzentuiert die Themenbereiche der Gesundheitsförderung und der Organisationsentwicklung (Wolf 2010a, b, 2016). Für Seewald (2010) hat diese Erweiterung neben inhaltlichen auch studienstrategische und berufspolitische Gründe.
Studiengangsentwicklungen
■ Eine Verknüpfung motologischer Inhalte mit Grundlagen anderer Gesundheitsberufe im Schnittfeld von Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention bietet der Interdisziplinäre Bachelorstudiengang Physiotherapie – Motologie – Ergotherapie an der Hochschule Emden/Leer (FH). Dieser zielt darauf ab, die Kooperation der im Gesundheitswesen tätigen Professionen Physiotherapie, Motologie und Ergotherapie transdisziplinär zu vernetzen, ohne das fachspezifische Profil zu vernachlässigen. Inhaltlich stellt der Studiengang ein bio-psycho-soziales Menschenbild in den Mittelpunkt seines Konzepts.
■ Die Neuorientierung der Bildungslandschaft in der Bundesrepublik Deutschland hat ein Zusammenwachsen der vorschulischen und der Grundschulausbildung in den Fokus des Interesses gebracht. Exemplarisch genannt seien die Bildungspläne des Landes Nordrhein-Westfalen (MGFFI & MSW 2010) und Hessen (HSM & HKM 2011), die einen Bildungsplan bzw. Bildungsgrundsätze für Kinder von null bis zehn Jahren aus einem Guss formulieren. Dieses wirft Schlaglichter auf eine veränderte Ausbildung von Erziehern und Erzieherinnen einerseits und Grundschullehrern und Grundschullehrerinnen andererseits. Dabei hat die Akademisierung der Erzieher und Erzieherinnen in Deutschland inzwischen zu der stattlichen Anzahl von über 115 BA- und 25 MA-Studiengängen geführt (WIFF 2017; Bahr 2017, 49). Ein synoptischer Blick auf die Bildungs- und Erziehungspläne aller Bundesländer für den Elementarbereich (vgl. Beudels 2010) verdeutlicht ein Dilemma: Zwar findet der Bereich Bewegung in allen Plänen eine Berücksichtigung, aber kaum eine adäquate Verortung in den Ausbildungsgängen (BiK 2011; Fischer et al. 2016).
Der BA-Studiengang Kindheitspädagogik (Hochschule Niederrhein FH in Mönchengladbach) und das Masterfach Bildung und Förderung in der Frühen Kindheit sowie der neue Master-Studiengang Psychomotorik als Frühe Hilfe in Institutionen der Kindheit (Universität Köln) setzen hier Akzente.
1.6 Nationale und europäische Entwicklungen der Psychomotorik
Die Akademisierung der Psychomotorik im neuen Jahrtausend führt parallel zu neuen berufsverbandsspezifischen Orientierungen, die bald eine fachliche und wissenschaftliche Verständigung und Identitätsbildung erfordern.
WVPM e.V. und DGfPM e.V.
Erste Meilensteine der Neustrukturierung der Psychomotorik in Deutschland sind die Gründung der Wissenschaftlichen Vereinigung Psychomotorik und Motologie (WVPM e.V.) am 27./28. Januar 2006 in Marburg und die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Psychomotorik und Motologie (DGfPM e.V.) am 6.Mai 2007 in Hamm.Letztere resultiert aus der enormen Ausweitung und der damit verbundenen zunehmenden Unübersichtlichkeit der psychomotorischen Landschaft und der Intention der Bündelung der Ressourcen. Mit der Gründung der Gesellschaft gibt es in Deutschland zum ersten Mal eine fachspezifische Dachorganisation mit Sitz in Hamm. Damit erreicht in der Lippestadt ein historischer Entwicklungsprozess eine neue Qualität, der mit dem Westfälischen Institut als Wirkungsstätte Kiphards in den 1950er-Jahren seinen historischen Ausgangspunkt genommen hat.
Aufgaben und Ziele der DGfPM
Die DGfPM und ihre Mitgliedsvereinigungen verfolgen das Ziel der stärkeren Vernetzung und der Bündelung gemeinsamer Ziele: Die Aufklärung und Information von Öffentlichkeit, Politik und Verwaltung sowie die gemeinsame Verfolgung wissenschaftlicher, erzieherischer und therapeutischer Interessen von Psychomotorik, Motologie und Motopädie im Bildungs- und Gesundheitswesen. Unter dem Dach sammeln sich der Aktionskreis Psychomotorik e.V. (Sektion 1), der Deutsche Berufsverband der MotopädInnen/MototherapeutInnen e.V. (DBM) (Sektion 2), der Berufsverband der Motologen – Diplom/Master e.V.– (Sektion 3), die Wissenschaftliche Vereinigung für Psychomotorik und Motologie e.V. (WVPM) (Sektion 4), der Bundesverband der Ausbildungsstätten für staatlich anerkannte Motopädinnen und Motopäden e.V. (BAM) und die AG Klinisch Orientierte Psychomotorik (KOPM) im Zentralverband Krankengymnastik (Physiotherapie) (Sektion 5) sowie der MOVERE – Verein für Psychomotorische Entwicklungsförderung (Sektion 6) (Abb. 5).
Europäische Entwicklungen
Ein herausragendes Beispiel der Ausgestaltung der psychomotorischen Idee ist der Prozess der Internationalisierung. Im Jahre 1994 treffen sich Fachleute aus Deutschland, Belgien und den Niederlanden unter dem Motto „Psychomotorik in Europa – ein länderübergreifender Erfahrungsaustausch“ auf Initiative der Europäischen Akademie des Sports e.V., Rhede, und des Aktionskreises Psychomotorik. Zur Diskussionstehen die Entwicklungstendenzen der psychomotorischen Konzepte der beteiligten Länder sowie ein Erfahrungsaustausch zu den nationalen Ausbildungsbedingungen. Hieraus entwickelt sich ein regelmäßiger Austausch in einem immer größer werdenden Teilnehmerkreis. Im Mai 1995 findet ein Symposium in Marburg statt. 55 Delegierte aus 15 europäischen Ländern (Norwegen, Schweden, Dänemark, Belgien, Niederlande,Luxemburg, Frankreich, Spanien, Portugal, Italien, Schweiz, Österreich,Slowenien, Tschechien, Deutschland) kommen zusammen, um über das Verständnis von Psychomotorik, wissenschaftliche und Ausbildungskonzepte, Verbandstätigkeiten und über Erwartungen im Europa des Jahres 1995 zu diskutieren. Bereits im Vorfeld konnten die Stellungnahmen der Partnerländer eingeholt werden und in einer zweisprachigen Dokumentation (deutsch und französisch) den teilnehmenden Delegationen zur Verfügung gestellt werden. Dieses Treffen wird zur Geburtsstunde einer europäischen Bewegung, vereinbaren die Teilnehmer doch,
Abb. 5: Struktur der Deutschen Gesellschaft für Psychomotorik und Motologie (www.dgfpm.org)
■ die wissenschaftliche Literatur zur Psychomotorik sowie zu Bewegung, Spiel und Sport für Behinderte auf europäischer Ebene zu einem stärkeren Austausch zu bringen und möglicherweise in einer gemeinsamen Datenbank zusammenzubringen;
■ ein Europäisches Forum für Psychomotorik zu gründen, dessen Ziele und Statuten von einer Kommission erarbeitet werden sollen;
■ vom 19.–21. September 1996 den 1. Europäischen Kongress für Psychomotorik unter dem Motto „Psychomotorik in der Entwicklung“an der Universität Marburg unter Beteiligung aller Partnerländer durchzuführen (Abb. 6).
Europäisches Forum für Psychomotorik
Tatsächlich wird der Marburger Kongress ein großer Erfolg, kommen doch fast 800 teilnehmende Fachleute aus 16 europäischen Ländern zusammen, die über 200 Vorträge, Workshops, Praxisdemonstrationen, Film- und Posterausstellungen einbringen. Während des Kongresses entsteht ein großer Bilderreigen, der die Vielfalt der Psychomotorik Europas in Theorie und Praxis widerspiegelt. Es wird aber auch die Notwendigkeit deutlich, diese Vielfalt zu vergleichen, zu analysieren, um die zugrunde liegenden Konzepte zu verstehen. Dazu wird das Europäische Forum für Psychomotorik gegründet. Tilo Irmischer, der 1. Präsident des Forums, verdeutlicht den inhaltlichen Konsens über den gemeinsamen Gegenstand, der nach langen Diskussionen in einer Präambel definiert wird.
Abb. 6: Einladung zum Europäischen Kongress für Psychomotorik 1996
Auf Grund eines holistischen Menschenbildes, das von einer Einheit von Körper, Seele und Geist ausgeht, beschreibt der Begriff Psychomotorik die Wechselwirkung von Kognition, Emotion und Bewegung und deren Bedeutung für die Entwicklung der Handlungskompetenz des Individuums im psychosozialen Kontext. Das übergeordnete Ziel des „Europäischen Forums für Psychomotorik“ ist die Förderung der Psychomotorik in Europa, in der pädagogischen und therapeutischen Anwendung in der Aus- und Weiterbildung, in der Professionalisierung und wissenschaftlichen Forschung. Daraus abgeleitet stellt sich das „Europäische Forum für Psychomotorik“ folgende konkrete Aufgaben:
■ Förderung der Zusammenarbeit zwischen Psychomotorikern und Psychomotorikerinnen in den Europäischen Ländern und Regionen (Austausch, Kongresse, Projekte, Forschungsvorhaben);
■ Unterstützung für Länder und Regionen, in denen die Psychomotorik noch nicht ausreichend etabliert ist: organisatorische und finanzielle Hilfen, Unterstützung in der Fort- und Weiterbildung;
■ Koordination der Aus- und Weiterbildung: Abstimmung von Inhalten, Richtlinien, Prüfungen, Förderung der Harmonisierung der beruflichen Ausbildung auf dem Niveau staatlicher Anerkennung;
■ gegenseitige Anerkennung;
■ Vertretung gemeinsamer berufspolitischer Interessen, Anerkennung durch die Krankenkassen, Lohnniveau, Schutz der Ausbildung (Irmischer 1998, 136).
EFP
Die Arbeit des EFP ist tatsächlich eine Erfolgsgeschichte gemeinsamer Aktivitäten und der fachlich definierten europäischen Verständigung. Im Jahr 2007 erzielt das EFP das wichtigste politische Ziel: die offizielle Anerkennung als Vertretungsorganisation der Psychomotorik durch die Europäische Kommission. Das EFP erscheint jetzt als anerkannte Organisation auf der Homepage der Europäischen Kommission. Die Homepage des EFP (psychomot.org) informiert über die Aktivitäten und Erfolge seit den Gründungsjahren.
Kommission
Kommission Ausbildung:
■ Internationale Datenbank von Psychomotorik-Experten
■ Entwicklung einer verbindlichen Minimalqualifikation in der Psychomotorik
■ Fachglossar der Psychomotorik
■ Liste von Fachschulen mit einer Grundausbildung sowie von Hochschulen mit einer Masterqualifikation in Psychomotorik
Kommission Berufe:
■ Internetauftritt aller EFP-Mitgliedsländer mit Auflistung der jeweiligen Aus-, Fort- und Weiterbildungssituation sowie der gesetzlichen Anerkennung der Berufssituation:
■ Kompetenzprofil für Fachleute in Wissenschaft und Praxis (2017)
Kommission Wissenschaft und Forschung:
■ Leitlinien für Themenfindung und Projektorganisation der EFP-Forschungsstrategien
■ Taxonomien des Forschungs- und Anwendungsfeldes
■ Listen mit Zeitschriften und ausgewählten Publikationen in der Psychomotorik
■ Methodologische Zugänge der Erforschung von Wirkfaktoren in der Psychomotorik
Kongresse
Seit 1996 findet in der Regel alle vier Jahre ein großer internationaler Kongress statt (s. nachstehende Auflistung). Darüber hinaus findet seit 1998 jedes Jahr turnusmäßig in den Mitgliedsländern eine dreitägige Studentenakademie statt, auf der neben kulturellen Angeboten der fachliche Austausch der Studierenden der Psychomotorik in Workshops, Fachseminaren und Hospitationen erfolgt.
Internationale Psychomotorikkongresse:
■ 19.–21.9.1996 in Marburg (D):
Thema: Psychomotorik in der Entwicklung
■ 19.–21.5.2000 in Strassburg (F): Thema: Psychomotorik im Wandel der Gesellschaft auf der Schwelle in das 3. Jahrtausend
■ 31.3.–2.4.2004 in Lissabon (P): Thema: Psychomotorische Identität – Besonderheit und Verschiedenartigkeit:
■ 21.–23.5.2008 in Amsterdam (NL): Thema: Crossing Borders
■ 9.–11.5.2013 in Barcelona (SP): Thema: Different Faces in Psychomotricity
■ 5.–7.5.2016 in Luzern (CH): Thema: Movement and Lifelong Development
Inhaltlich hat sich die Psychomotorik in den Ländern Europas relativ eigenständig entwickelt. In Erweiterung früherer Auflagen der Einführung in die Psychomotorik werden die landesspezifischen Quellen der psychomotorischen Fachdiskussion hier differenzierter rezipiert, nicht zuletzt um historische und vergleichende Bearbeitungen und Forschungen in zukünftigen Bachelor- und Masterarbeiten anzuregen.
Dänemark
Dänemark hat im europäischen Vergleich die längste Tradition. Schon in den 1940er-Jahren gründen Gerda Alexander und Morrussia Bergh die ersten Ausbildungsinstitute zum „Entspannungspädagogen“, dessen berufliche Qualifikation im Spannungsfeld zwischen Kunst, Ballet,Rhythmik, Theater und der Gesundheitspädagogik angesiedelt ist. Die seit 1978 existierende Berufsvereinigung entwickelt eine dreijährige Ausbildung an sieben Ausbildungsstätten und erreicht eine staatliche Anerkennung des Berufsbildes durch konzeptionelle Abgrenzung und Absprache mit dem Berufsbild der Physiotherapeuten. Im Jahre 2002 kann der Berufsverband mit dem Erziehungsministerium das Curriculum für eine akademische BA-Ausbildung von dreieinhalb Jahren (210 ECTS) vereinbaren, die seither an den Universitäts-Colleges von Kopenhagen und Randers angeboten wird. Die dänische Psychomotorik untersucht die Beziehung von muskulärem Tonus und der Psyche (Persönlichkeit) des Menschen. Als Teil der Gesundheitslehre beschäftigt sie sich mit der Bewegungsqualität insbesondere über die Entspannungsfähigkeit des Klienten. Schwerpunkte liegen sowohl in der Praxis als auch der Beratungstätigkeit. Es werden Fragen gestellt, gemeinsam Entscheidungen, Antworten und Lösungen gesucht und die passenden Realisierungsmöglichkeiten erörtert. Im Vordergrund steht das Prinzip Hilfe zur Selbsthilfe im Kontext der Gruppe und der Familienarbeit. Hat die klassische Arbeit sich stärker auf Erwachsene konzentriert,erreicht heute die Arbeit mit Kindern zwischen sechs und zehn Jahren annähernd den gleichen Anteil. Bei den Erwachsenen konzentriert sich die Arbeit auf Stress- und Beziehungsthematiken mit den damit verbundenen Haltungsproblemen und Körperspannungen; entsprechend verfügt die Psychomotorikerin über ein reichhaltiges Repertoire an Entspannungsmethoden (Frimodt 2003; Akasha 2004).
Finnland und Schweden
Die beiden anderen skandinavischen Länder haben erst in den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts eigene Psychomotorikorganisationen gegründet (Finnland 1994 und Schweden 1996). Seit den 1970er-Jahren bestehen intensive Fortbildungskontakte zu Personen und Einrichtungen vor allem in Deutschland; in der Folge werden psychomotorische Inhalte in zahlreiche Ausbildungsgänge der vor-, grund- und sonderschulischen Lehrerbildung und der Physiotherapie integriert(z.B. an den Universitäten Helsinki und Jyväskylä). Seit der Gründung des Europäischen Forums gehen Schweden und Finnland verstärkt eigene Wege. In Schweden weisen die Universität Växjö, das Falun College und das Karolinska Institut (Stockholm) psychomotorische Teilcurricula für ihre Lehrer- bzw. Physiotherapeutenausbildungen aus.
Frankreich
Die weitestgehende Anerkennung im gesellschaftlich-staatlichen Sinne hat die Psychomotorik in Frankreich mit einer Tradition von mehr als einem halben Jahrhundert. Durch die Arbeiten des Psychiaters de Ajuriaguerra und der Beschäftigungstherapeutin Soubiran etabliert sich die psychomotorische Arbeit zuerst im klinischen Bereich mit eher funktionellen Methoden, die im Laufe der Zeit zu einer ganzheitlichen Methode der Körperarbeit mit Unterstützung von Entspannungstechniken weiterentwickelt werden. Heute existieren in Frankreich elf staatlich anerkannte Ausbildungsinstitute zum „Psychmotricien“ verteilt über ganz Frankreich. Das Berufsbild des Psychomotorikers (BA und MA) ist gesetzlich geschützt. Parallel dazu hat sich eine erzieherische Strömung der Psychomotorik im Kindergarten und im Grundschulbereich etabliert.
Das Feld der Psychomotorik in Frankreich speist sich aus mehreren Disziplinen: Kinderpsychiatrie, Neurologie, Sportpädagogik, Psychologie. Beeinflusst wurde sie von unterschiedlichen Entwicklungstheorien (Wallon, Piaget), Entspannungstechniken (Schultz, Jacobson), die Leibeserziehung (Demeny, Hebert etc.) und von der rhythmischen und gestuellen Erziehung (Duncan, Popard, Dalcroze) (Guillarmé 1990).Trotz verschiedener Einflussquellen verfolgen die verschiedenen Konzepte ein gemeinsames Ziel: die Erziehung des Menschen durch seinen Körper (Eggert 1994/2008). Heute existieren im Wesentlichen vier Ansätze: der kinderpsychiatrische, der psychopädagogische, der sportpädagogische und der tiefenpsychologische Ansatz (Übersicht nach Bathke 2007).
Der kinderpsychiatrische Ansatz nach Ajuriaguerra
Die Kinderpsychiatrie beschäftigte sich schon in den 1950er- und 1960er-Jahren mit den Zusammenhängen von Verhaltensstörungen,Schulschwierigkeiten und Störungen der psychomotorischen Entwicklung. Der Neuropsychiater Ajuriaguerra interessierte sich für die Zusammenhänge von Störungen der Psychomotorik und der Sprache und erforschte das Fundament des Körpers für die Entwicklung des Kindes.Das Kind entwickelt zunächst über die motorische Funktion eine Vorstellung seines Körpers und der Körperteile; in der Folge entsteht ein innerer Plan seines Körperaufbaus und letztlich werden die erworbenen Körperbewegungen automatisiert. Eine besondere Rolle für Ajuriaguerra spielen die „tonischen und motorischen Funktionen in der Aktivität und der Organisation von Beziehungen“ (Heintz 1983, 105). Diese ermöglichen eine aktive Kontaktaufnahme zur Umwelt, so wird der Körper zum Kommunikationsmittel. Ihre ersten Erfahrungen machen Kinder durch ihren Körper und ihre Handlungen. Eine psychomotorische Störung tritt nach Ajuriaguerra nicht isoliert auf, sondern hängt mit weiteren Problemen des Kindes zusammen. Deswegen richtet sich seine Therapie auf die Gesamtpersönlichkeit des Patienten und vermeidet eine reine symptomorientierte Vorgehensweise. Das Ziel der Therapie richtet sich auf die indirekte Behebung der Störungssymptome und die Kontrolle des Tonus. Grundlegend für Ajuriaguerra ist die Sichtweise der „tonisch-affektiven Dialektik“, das Verständnis, dass „jede Gemütsbewegung auch eine tonische Veränderung zur Folge“ hat (Heintz 1983, 248). Mittel der Intervention sind für Ajuriaguerra vor allem Entspannungsmethoden. Interessant sind hier Parallelen zur deutschen Psychomotorik. Diese liegen im ganzheitlichen Zugang zum Kind mit einer Betonung der Bedeutung des Körpers. Unterschiede liegen in der Rolle der Bewegung, die im Ansatz von Ajuriaguerra eine geringere Rolle spielt.
Der psychopädagogische Ansatz nach Picq und Vayer
Für die Sportlehrer Louis Picq und Pierre Vayer (1965) ist Psychomotorik Folgendes: „Psychomotorische Erziehung ist eine pädagogische und psychologische Handlung, die die Mittel der Leibeserziehung braucht, um das Verhalten des Kindes zu normalisieren und zu verbessern“ (zit.n. Heintz 1983, 112). Ihre Bezugsgruppe sind verhaltensauffällige Kinder, die Zielrichtung eine bessere Integration in der Schule über „eine systematische Erziehung motorischer und psychomotorischer Verhaltensweisen“ (Heintz 1983, 112). Der Ansatz geht von der Untrennbarkeit von Motorik und Psyche aus und versteht sich eher als erzieherische denn als therapeutische Maßnahme. In der Praxis haben motorische Übungen bei „unangepassten Handlungen“ in den Entwicklungsbereichen Koordination, Raumorientierung, räumlich-zeitliche Strukturierung, Lateralität, Rhythmusgefühl etc. vor allem die vorschulische Erziehungspraxis (école maternelle) erobert.
Der sportpädagogische Ansatz von Le Boulch
Als Sportlehrer und Psychologe entwickelt Le Boulch einen persönlichkeitsorientierten Ansatz und nennt diesen „Psychokinetik“ (1977, 1983). Es handelt sich dabei „um eine allgemeine Konzeption der Bewegung als Mittel der Gesamterziehung der Persönlichkeit“ (1983, 4). Le Boulch betont die Wichtigkeit der Förderung der Entwicklung perzeptiver, motorischer und kommunikativer Funktionen in Verbindung mit mentalen Prozessen. Dieser Ansatz weist viele Parallelen zum kindzentrierten Ansatz von Volkamer/Zimmer (1986) auf. Es ist beachtlich,dass Le Boulch schon in den 1960er-Jahren erkannte, dass der Sportunterricht in den Schulen verändert werden muss. Eine reine Stoffvermittlung und Leistungsorientierung lehnte er ab; der Ansatz an der Persönlichkeit des Kindes ist ihm wichtig. Das Körperschema als Grundvoraussetzung für das Selbstbewusstsein steht im Vordergrund.Dabei findet das Prinzip der Autonomie zur Förderung der Selbsttätigkeit des Kindes eine Berücksichtigung.
Der tiefenpsychologische Ansatz nach Aucouturier und Lapierre
Ein neuerer Ansatz ist der von Bernard Aucouturier und André Lapierre.Das psychoanalytische Konzept findet mittlerweile Anhänger in ganz Europa und in Südamerika. Aucouturier, wie sein Kollege Lapierre Sportlehrer, arbeitete in den 1960er-Jahren als Leiter am Centre d’Éducation Physique specialisée in Tours mit Kindern unterschiedlicher motorischer Auffälligkeiten. Durch seine Arbeit erkannte er sehr bald den Zusammenhang von physischen und psychischen Störungen.Er wandte sich psychomotorischen Ansätzen zu und stieß dabei auf die Arbeiten von Le Boulch, Wallon, Piaget und Vayer. Die klassische symptomorientierte praktische Arbeit erzeugte jedoch Widerstände bei den Kindern; diese hielten – bewusst oder unbewusst – an ihren Störungen fest, was sie durch Verweigerung und Passivität ausdrückten. Die Analyse des Problems mündete in dem Eingeständnis, dass die fachliche Aufmerksamkeit sich mehr auf die Störung richtete als auf das Kind selbst. Aucouturier veränderte das Konzept seiner Arbeit und betont jetzt die Ganzheit des Körpers (unité corporelle). Das Kind soll in seiner Gesamtpersönlichkeit unterstützt werden, es ist als ein ganzheitliches Wesen (être global) zu betrachten, das seine motorischen, affektiven und kognitiven Strukturen miteinander verbindet.Der Körper vereint all diese Strukturen und kann sie zum Ausdruck bringen. Er wird hier nicht als ein rein funktionales Instrument betrachtet, er ist vielmehr „Bezugs- und Orientierungspunkt in der Welt“ (Esser 2011, 19).
Entfaltung der kindlichen Kreativität
Der Ansatz orientiert sich an der individuellen Entwicklung eines Kindes durch Förderung der kindlichen Kreativität. Dem Kind wird genügend Freiraum gegeben, sich selbst Übungen und Geschichten in Praxissituationen auszudenken. Der Therapeut versucht dabei die spontanen Handlungen und deren „innewohnende Symbolik“ zu verstehen. Aucouturier spricht in seiner Förderstunde drei Bereiche an und stellt im Raum die entsprechenden Materialien zur Verfügung, deren Auswahl den Kindern selbst überlassen wird:
■ Den sensomotorischen Bereich: Das Kind verwendet Material, um elementare sensomotorische Aktivitäten zu erleben. Gleichgewichtssinn, Tiefensensibilität und Tastsinn werden angesprochen. Das Kind soll mit seinem Körper experimentieren, um seine Bedürfnisse und Stärken, aber auch Grenzen zu erfahren.
■ Den symbolischen Bereich: Die verwendeten Materialien lassen Freiraum für die kindliche Phantasie. Mit Hilfe von Tüchern,Schaumstoffblöcken oder Kleidungsstücken soll das Kind zum symbolischen Spiel/Rollenspiel angeregt werden. Es kann in andere Rollen schlüpfen, Erfahrungen aufarbeiten oder Wunschvorstellungen ausleben. Die Rolle des Therapeuten ist eher begleitend und passiv.
■ Den Konstruktionsbereich: Über Bautätigkeiten oder Spiel mit Knete etc. soll das Kind zu Ruhe und Konzentration kommen.
Schlüsselbegriffe
Als Grundvoraussetzungen der Therapie gilt, das Kind in seiner Einzigartigkeit zu akzeptieren, von seinen Fähigkeiten auszugehen und es in seinen Möglichkeiten zu unterstützen. Es sollen „die Handlungsfähigkeit, Eigenständigkeit und die Autonomie gestärkt und die Beziehungen zur Umwelt stabilisiert werden“ (Esser 2011, 84). Auch die französische Psychomotorik identifiziert sich über Schlüsselbegriffe: Körperschema (schéma corporel), Tonus als Kommunikationsmittel (de dialogue tonique) im Rückgriff auf Entspannungsmethoden (relaxation), Bewegung (le mouvement) und die Beziehungserfahrung im tonisch-emotionalen Dialog.
Als deutschsprachige Überblicksdarstellungen sei auf Amft (1990), Guillarmé (1990) und Prévost (1990) verwiesen.
Die französische Psychomotorik verfügt über kein einheitliches Konzept. Neben der Früherkennung und Vorbeugung in der école maternelle hat sich der Arbeitsschwerpunkt französischer Psychomotoriker auf den klinisch-psychiatrischen Bereich verlagert. Hier ergeben sich jedoch Identifikationsprobleme, da die Psychomotorik als ganzheitliches Konzept auf ein symptomorientiertes medizinisches System trifft (Contant/Calza 1994). Trotz der Widersprüche hat sich die Psychomotorik in Frankreich als anerkannte Therapieform etabliert. Auch wenn es der französischen Psychomotorik im Vergleich zur deutschen an Strukturiertheit im wissenschaftlichen Diskurs mangelt (vgl. Bathke 2007, 91), ist es ersterer letztlich konzeptionell gelungen, die Dichotomie von Geist und Körper aufzuheben.
Italien, Spanien, Portugal
Von Frankreich ausgehend werden psychomotorisch orientierte Ausbildungen in den romanischen Ländern (Italien, Spanien, Portugal) initiiert, unterliegen aber sehr schnell eigenen Entwicklungen. Die italienische Berufsausbildung folgt noch relativ eng dem französischen Modell einer klinisch-therapeutischen Schwerpunktsetzung. Allerdings existiert eine konkurrierende Strömung, die psychomotorische Inhalte eher als Bestandteile pädagogischer und psychologischer Hochschulausbildungen vermittelt sehen möchte (Caliari 2004). In Italien sind Berufsausbildungen in Psychomotorik lediglich auf der Ebene privater Fachschulen organisiert und haben eine Dauer von drei Jahren (180 ECTS).
Wurden in Italien, Spanien und Portugal in der ersten Entwicklungsphase viele Literaturübersetzungen aus dem Französischen verwendet, so ändert sich dieses seit den 1980er Jahren. Mit dem südamerikanischen Sprachraum hat dabei die spanische Fachliteratur die größte Verbreitung. Die spanische Fachzeitschrift Psicomotricidad: Revista de Estudios y Experiencia erscheint seit 1981 als erste, die italienische Revista Psycomotrictà ReS (ab 1993) und A Psicomotricidade (Portuguese Review of Psychomotricity) (seit 2003) folgen und zeugen von einer lebhaften Fachdiskussion.
In Spanien ist die Psychomotorik im therapeutischen Feld nicht offiziell anerkannt; psychomotorische Inhalte haben in vielen klassischen Berufsausbildungen (Psychologie, Logopädie, Sondererzieher) eine stärker pädagogische Ausrichtung erfahren. In den 1990er-Jahren wurde der spanische Dachverband der Psychomotoriker gegründet, dem fünf Teilorganisationen angehören. Auch wenn die staatliche Anerkennung der Psychomotorik als Fachberuf noch nicht erreicht ist, sind psychomotorische Inhalte in den Curricula von 10 spanischen Universitäten und zahlreichen weiteren Instituten und Ausbildungsstätten ausgewiesen.
Einen sehr guten Überblick (in spanischer Sprache) zur Psychomotorik im Erziehungfeld gibt der Revisionsband von Pescador et al. (2000).
Den größten Sprung in der fachlichen, wissenschaftlichen und fachpolitischen Anerkennung der letzten zwanzig Jahre hat die Psychomotorik in Portugal vorgenommen. An fünf Universitäten bestehen seit einigen Jahren BA-Ausbildungen in Psychomotorik mit einem Schwerpunkt in der Erziehung; an der Universität Lissabon sogar ein MA-Studiengang.
Für eine fachliche Vertiefung sei auf Fonseca (2004), Neto (2004) und Martins (2006) verwiesen.
Niederlande
In den Niederlanden ist der Terminus Psychomotorische Therapie (PMT) vorherrschend. Nach Bosscher (2006) sowie Bosscher/Probst (2001) etabliert sich die PMT historisch zuerst im psychiatrischen Kontext und wird dabei vor allem durch die „aktivere Krankheitsbehandlung“ psychiatrischer Patienten des deutschen Psychiaters Simon (1929) beeinflusst. Entsprechend übernimmt sie den Terminus „Aktivere Therapie“. Dahinter verbirgt sich die aus heutiger Sicht durchaus ressourcenorientierte Vorgehensweise, den „gesunden Teil“ des Patienten durch Arbeit, Körperübungen und Erholung zu aktivieren, wodurch das bisherige Fehlen von sinngebenden Aktivitäten in den psychiatrischen Krankenhäusern ausgeglichen werden sollte. Nach einer bewertenden Übersicht von van Praagh (2003) handelt es sich bei der Aktiveren Therapie bereits um einen systematisch durchgeführten therapeutischen Ansatz, denn es werden nach den Kriterien nötige Konzentration, Maß an selbstständigem Denken und Grad der Verantwortlichkeit fünf Niveaus unterschieden, auf denen mit den Patienten gearbeitet werden kann. Ausgehend von diesem Basiskonzept wird in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg systematisch ein Therapiekonzept entwickelt, das von den Wirksamkeiten der Bewegungsaktivitäten ausgeht und unter Hinzunahme anthropologischer und phänomenologischer Erkenntnisse ein umfassendes Erkenntnisinteresse entwickelt (Gordijn et al. 1975) und sowohl pädagogische als auch therapeutische Anwendungsfelder begründet (vgl. Bosscher 2006, 240; Emck 2004).
Der aktuelle psychomotorische Ansatz wird als eine Sichtweise beschrieben, die sowohl bewegungsorientierte als auch körperorientierte Behandlungsweisen integriert. Obwohl in der Praxis entstanden, etabliert sich die PMT in den Niederlanden zunehmend als theoriegeleitetes Konzept, das zudem in einem Zwei-Wege-System studiert werden kann. Weg eins führt über ein praxisorientiertes BA-Studium (vier Jahre) an den Fachhochschulen Windesheim in Zwolle und Arnheim Nijmegen und anschließender mindestens zweijähriger Berufspraxis zu einem Master-Abschluss. Der zweite Weg führt als wissenschaftliches Studium über den Bachelor of Science in Bewegungswissenschaften an der Freien Universität Amsterdam und anschließender (mindestens) zweijähiger Berufspraxis zu einem Master of Arts an der FH Windesheim/Zwolle. Aufgrund des sich wandelnden Anspruches im Gesundheitswesen verbunden mit einem erhöhten Kostendruck steigern sich die Anforderungen an die wissenschaftlichen Kompetenzen der Absolventen. Die Forderungen nach Qualitätssicherung und Effektivitätsnachweisen lassen die holländischen Kollegen mit ihren Partnern im Europäischen Forum für Psychomotorik bzw. den Hochschulausbildungsstätten der Nachbarländer zusammenrücken (vgl. Bosscher 2006, 246; Fischer 2006, 238).
Belgien
Enge konzeptionelle Verbindungen bestehen zum flämischen Teil Belgiens. Hier ist – wie in den Niederlanden – die psychomotorische Ausbildung seit etwa den 1980er Jahren universitär ausgerichtet (Leuwen) und den Fakultäten für Bewegungswissenschaften zugeordnet. Nach Simons (2000a, b) können in der PMT zwei Richtungen unterschieden werden. Die eine platziert sich im Rahmen der allgemeinen Therapiediskussion zwischen neurobiologischen, phänomenologischen und verhaltenstherapeutischen Modellvorstellungen, die andere Richtung entspricht dem holländischen Modell einer spezifischen und eigenständigen Behandlungsform mit den entsprechenden Erklärungsansätzen. Das belgisch-wallonische Ausbildungssystem folgt eher dem französischen Muster mit recht unterschiedlichen berufsspezifischen Akzentsetzungen zwischen Therapie und Pädagogik. Interessant ist, dass insbesondere der Ansatz von Aucouturier eine starke Berücksichtigung in der psychomotorischen Therapie gefunden hat.
Luxemburg
Die psychomotorische Erziehung in Luxemburg untersteht dem Erziehungsministerium und wird von einer kleinen Gruppe von Spezialisten, die meistens eine Aus- oder Weiterbildung in Frankreich oder Deutschland genossen haben, in unterschiedlichen Ausbildungsbereichen (Vorschule, Schule, klinischer und rehabilitativer Bereich) vertreten. Dabei hat das mehrsprachige Luxemburg schon immer eine Mittlerfunktion zwischen den deutschen und französischen Konzeptentwicklungen in Europa innegehabt. Robert Decker analysiert seit den 1960er-Jahren die spezifischen Entwicklungen und macht die psychomotorischen Prinzipien als Grundelemente für die Aus- und Fortbildung in Luxemburg nutzbar (Decker 1967; 1984; 2002). Schon im Jahre 1983 wird der „Letzeburger Aktiounskrees Psychomotorik“ (LAP) gegründet. Die therapeutischen Arbeitsfelder werden heute eher von in Frankreich ausgebildeten Psychomotoriktherapeuten, die pädagogischen eher von in Deutschland ausgebildeten Spezialisten besetzt. In jüngster Zeit wird die Frage der Sozialen Gerechtigkeit unter besonderer Berücksichtigung des Themas „Kinderarmut und Bildung“ diskutiert (Caritas Luxembourg 2008). Achten et al. (2008) nehmen dabei eine kindorientierte Perspektive ein und weisen der Bewegung/Psychomotorik eine herausragende Rolle für die nationale Bildungsdiskussion zu. Insbesondere in der (Vor-)schulischen Erziehung der drei- bis sechsjährigen Kinder (classe précoce und classe d’éducation préscolaire) hat die Vermittlung psychomotorischer Handlungskompetenzen – etwa durch das Konzept der Neuen Bewegungsbaustelle (Miedzinski/Fischer 2006) – Fuß gefasst (Koppes 2007).
Schweiz
Das schweizerische Psychomotorikkonzept ist ursprünglich durch eine enge Zusammenarbeit der Tanzpädagogin Suzanne Naville und des Psychiaters de Ajuriaguerra entstanden, hat sich aber von dem ursprünglich klinischen Vorbild Frankreichs sehr schnell zu einer anerkannten Ausbildung zum Psychomotorik-Therapeuten mit einer Qualifikation für den heilpädagogischen Bereich entwickelt. In der Schweiz werden in Zürich, Basel und Genf die Ausbildungen in Psychomotorischer Therapie auf Hochschulebene vermittelt. Von der heutigen Warte zurückblickend muss festgestellt werden, dass sich die klassische Klientel (nicht nur) in der Schweiz grundlegend verändert hat. Hartmut und Susanne Amft (2003) weisen mit ihrer groß angelegten Studie zu über 1300 Psychomotoriktherapien in der deutschen und französischen Schweiz mit Kindern im Grundschulalter nach, dass die Klientel der mit Psychomotorik geförderten Kinder umdefiniert werden muss. Nicht mehr Kinder mit „Bewegungsschwierigkeiten“ sind Hauptklientel der Psychomotorischen Therapie (so der offizielle Begriff in der Schweiz), sondern „Kinder mit komplexen Auffälligkeiten und Störungen, welche auf psychosozial bedingte Ursachen- und Entstehungszusammenhänge hinweisen. Diese Kinder sind nicht behindert, sondern sie weisen problemanzeigende Verhaltensweisen auf. Der heilpädagogische Auftrag beinhaltet daher nicht in erster Linie die Förderung von Bewegungskompetenzen, sondern von psychosozialen Bewältigungsressourcen. Dies sollte Konsequenzen für das Selbstverständnis und die paradigmatische Zuordnung der PMT haben“ (Amft/Amft 2003, 30–31). Entsprechend hat die Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik in Zürich ab dem Studienjahr 2006 das Curriculum verändert und bietet einen interdisziplinär ausgerichteten Bachelor-Studiengang „Psychomotoriktherapie“ an, der den neuen fachwissenschaftlichen Qualifikationskriterien entspricht (Amft et al. 2013). Ein weiterer BA-Studiengang wurde an der Hochschule für Soziale Arbeit in Genf eingerichtet.
Österreich
Österreich folgt stark dem Entwicklungsweg Deutschlands und versucht Psychomotorik durch die bevorzugte Verwendung der Begriffe Motologie und Motopädagogik eher wissenschaftlich-universitär mit einer Akzentsetzung im (heil/sonder-)pädagogischen Feld zu etablieren. Ein interdisziplinär und international begleiteter Modell-Studiengang an der Donau-Universität Krems und der Niederösterreichischen Landesakademie St. Pölten entwickelt in den Jahren 1996–1998 ein Fachcurriculum nach europäischem Standard (zu den Ergebnissen s. Weiß/Ullmann 2003). Leider ist der Abschluss anfangs trotz hoher Qualität national nicht anerkannt. Ab dem Wintersemester 2001/2002 wechselt der Studiengang an die Universität Wien. Heute ist die Ausbildungssituation in Österreich verändert. Die Universität Wien bietet einen vollwertigen Masterstudiengang (Weiß 2018) als Universitätslehrgang Psychomotorik an und auch die Donauuniversität Krems einen sechssemestrigen Universitätslehrgang Mototherapie (Ullmann 2003). Auch die Fortbildungskonzeption zur „Zusatzqualifikation Motopädagogik“ des 1993 gegründeten Aktionskreises Motopädagogik Österreich (akmö) nach ursprünglichem Vorbild des Aktionskreises Psychomotorik e.V. in Deutschland (Stehno 1997) entwickelt sich in Kooperation mit zahlreichen Initiativen und Ausbildungsstätten im pädagogisch/therapeutischen Tätigkeitsbereich zu einem differenzierten und anerkannten Anwendungskonzept (Pinter-Theiss/Theiss 1997).
Tschechien und Slowenien
Die beiden (süd-)osteuropäischen Länder im Forum (Tschechien und ehemals auch Slowenien) halten schon seit den 1960er- bzw. 1970er- Jahren sehr intensive Fortbildungskontakte zu E.J. Kiphard und intensivieren seit ihrer Mitgliedschaft im Europäischen Forum und der Europäischen Union Bestrebungen zu eigenen Fort- und Ausbildungskonzeptionen. In Tschechien ist die Psychomotorik insbesondere in der Vorschul- und Grundschulpädagogik verbreitet. Im Sonderschulwesen (Special Education) besteht eine enge Verbindung zur Internationalen Vereinigung Adapted Physical Activity (APA). Gegenwärtig findet eine sehr differenzierte Auseinandersetzung – auch mit den wissenschaftlichen Konzepten des psychomotorischen Paradigmas – statt (Blahus 2004). Eine formale Organisation besteht in der tschechischen „Association Sport for All“. In Slowenien existiert eine „Gesellschaft für Motopädagogik und Psychomotorik“, die sich sehr um die therapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen bemüht.
Griechenland
Griechenland ist bisher nicht Mitglied des Europäischen Forums für Psychomotorik. Dennoch gibt es in Griechenland eine kleine, vorwiegend in Deutschland ausgebildete Gruppe von Fachspezialisten. Deren Aktivitäten sind inzwischen so weitreichend, dass nicht nur im Jahre 2002 eine wissenschaftliche Vereinigung „Hellas“ der Psychomotoriker (Kambas 2003) gegründet wurde, auch wurden inzwischen geeignete Inhalte in die Curricula der (Sport-)Lehrerausbildungen der Universitäten Athen, Thessaloniki und Kreta sowie der Vorschulerziehung integriert. Darüber hinaus existiert seit 2005 eine wissenschaftliche Online-Zeitschrift.
Mit Bezug auf eine Darstellung Irmischers (1998, 134) und Fischers (2006a) sollen die Gemeinsamkeiten sowie die Unterschiede der europäischen Besonderheiten zusammenfassend dargestellt werden.
Gemeinsamkeiten
Gemeinsamkeiten in der Entwicklung:
■ die Ursprünge der praktischen und theoretischen Überlegungen, die zu den unterschiedlichen Verfahren in den Ländern führen konnten, ergeben sich sehr oft aus der therapeutischen Arbeit mit gesellschaftlichen Randgruppen in klinisch-psychiatrischen Einrichtungen;
■ die jeweiligen Initiatoren und Initiatorinnen hatten erkannt, dass nur ein holistisches Menschenbild Grundlage ihrer Arbeit, die über die Körper-, Sinnes-, und Bewegungsfunktionen hinaus ganzheitlich auf den Menschen wirken sollte, sein konnte;
■ eine differenzierte Analyse der theoretischen Hintergründe lässt gemeinsame philosophische und anthropologische Quellen erkennen, die sicherlich erst auf der Grundlage der gemeinsamen Kulturgeschichte zu verstehen sind;
■ die jeweiligen Initiatoren und Initiatorinnen fokussieren ihre Arbeit auf ein enges Zusammenspiel von motorischen und psychischen Vorgängen, um das Verhalten des Menschen beeinflussen zu können;
■ das jeweilige Zentrum der Bemühungen ist die Behandlung von Beeinträchtigungen, die einen ursächlichen psychomotorischen Hintergrund haben können oder deren Auswirkungen sich in psychomotorischen Veränderungen darstellen lassen;
■ allen gemeinsam ist das Bestreben, die psychomotorische Ausbildung zu akademisieren und in das gestufte europäische Ausbildungssystem von Bachelor- und Masterstudiengängen einzugliedern;
■ für die Psychomotoriker Europas kommt es zunehmend zu den gewünschten fachlichen und persönlichen Austauschprozessen bei Wahrung der kulturellen Identitäten (diversity and specifity);
■ auch die wissenschaftlichen Aktivitäten (Kongresse und Tagungen, Projekte) haben an Momentum zugenommen.
Unterschiede
Unterschiede in der Entwicklung:
■ die Begründer hatten durch ihre jeweilige Ausbildung unterschiedliche Ausgangspositionen (Entspannungstherapeutin, Beschäftigungstherapeutin, Tanztherapeutin, Sportlehrer, Mediziner), die bei ähnlichen Grundannahmen im Detail zu unterschiedlichen theoretischen und praktischen Konzepten führen mussten;
■ in der französisch beeinflussten südeuropäischen, der dänischen und holländischen Psychomotorik wird intensiver mit dem Körper und am Körper gearbeitet. Hier findet das „Symbolische“ eine stärkere Beachtung;
■ in der deutschen, schweizerischen und flämisch-belgischen Psychomotorik werden die Konstrukte Wahrnehmung und Bewegung intensiver in die Arbeit einbezogen, gleichzeitig der symbolische Anteil der Bewegungsaktivität betont;
■ in Frankreich und Dänemark sind differenzierte Modelle der Entspannung entwickelt worden;
■ im deutschsprachigen Raum ist der Aspekt des Erlebnisses, der Sensation viel stärker berücksichtigt worden.
Zukünftiges
Und welche sind die gemeinsamen neuen Herausforderungen?
Handlungsbedarf gibt es noch an einer Intensivierung der fachidentitätsbildenden Konzeptdiskussionen. Wir brauchen mehr Praxisforschung und –evaluation unseres Fachgebietes selbst (Qualitätsentwicklung): Mehr Beobachtungen, Erfahrungsberichte, Studien über Fördergruppen und deren reale Lebenskontexte in ganz Europa, mehr Forschungen über die Wirkfaktoren des psychomotorischen Methodenkanons. Dieses erfordert zwingend die Fortführung und Intensivierung der interdisziplinären und internationalen Zusammenarbeit und die Akquisition von Mitteln für Forschung und wissenschaftliche Nachwuchsförderung. Das sind neue Herausforderungen unter einer Perspektive der Psychomotorik als Wissenschaftsdisziplin in Europa.
1.7 Evaluations- und Wirksamkeitsforschung in der Psychomotorik
Qualität im Gesundheitswesen
Vor dem Hintergrund der Verknappung öffentlicher Mittel hat sich in Deutschland seit Beginn der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts eine Debatte entwickelt, die die Qualität der Arbeit im Gesundheits- und Sozialwesen in den Fokus des Interesses rückt. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird der Begriff der Qualität nur selten gemäß seiner ursprünglichen Bedeutung (lateinisch qualitas für Beschaffenheit oder Eigenschaft) wertneutral verwendet, sondern eher, um die Güte einer Sache, einer Person oder deren Arbeit zum Ausdruck zu bringen. Dementsprechend versteht die Deutsche Gesellschaft für Qualität unter diesem Begriff „die Gesamtheit von Eigenschaften und Merkmalen einer Leistung oder Tätigkeit, die sich auf deren Eignung zur Erfüllung gegebener Erfordernisse bezieht“ (zit.n. Burmeister 1996, 26). Die eigentliche Qualitätsdiskussion entwickelt sich erst mit der gesetzlichen Umorientierung der Finanzierung von Hilfeleistungen. In der Novellierung des § 93 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) wird erstmals die Qualität von Leistungen erwähnt und stellt die Leistungserbringer vor neue Herausforderungen. „Zum einen sollen Qualitätsmerkmale im Rahmen der Leistungsvereinbarungen verbindlich festgelegt werden, zum anderen soll die Qualität der erbrachten Leistung überprüft werden können“ (Frühauf 1997, 10; Pothman/Trede 2014; Welsche 2018b).
Qualitätssicherung
Mit der Neufassung des BSHG und des KJHG (Kinder- und Jugendhilfegesetz) liegen heute Rechtsgrundlagen vor, die der Qualitätsdebatte einen verbindlichen Rahmen geben und sozialen wie pädagogischen Einrichtungen den Auftrag auferlegen, die jeweiligen Leistungen (Angebote, Konzepte etc.) auszuweisen und deren Effekte zu evaluieren.
Was ist in diesem Rahmen unter Evaluation zu verstehen? Unter Evaluation ist ein auf empirischen Methoden beruhendes Verfahren der Bewertung von Interventionen zu verstehen, das bereits in den 1970er-Jahren unter der Bezeichnung „wissenschaftliche Begleitung“ in die soziale und pädagogische Arbeit eingeführt wurde (Beywl 1996).Die empirische Grundlage einer Evaluation baut in der Regel auf einer guten Dokumentation auf. Beispielsweise kann durch Dokumentation des Entwicklungsstandes (oder anderer Aspekte) von Kindern und Jugendlichen zu verschiedenen Zeitpunkten eines Förder-/Therapieprozesses der Erfolg dieser Maßnahmen überprüft werden. Evaluation kann sowohl als Fremdevaluation, das heißt durch unabhängige Spezialisten (ohne Beteiligung der Personen, die mit der zu evaluierenden Intervention befasst sind) oder auch als Selbstevaluation (durch die beteiligten Partner) erfolgen. In der Praxis sind jedoch Mischformen aus beiden Ansätzen am häufigsten anzutreffen (Heiner 1996; Arnold 2006; 2017; Knab/Klein 2017).
SPES
Die Frage nach der Wirksamkeit einer Interventionsform trifft auch die Psychomotorik. Sie wird nicht nur durch das allgemeine Kosten-Nutzen-Interesse (Effizienz) gespeist, sondern ist so alt wie der generelle Anspruch eines Ansatzes auf Anerkennung im Spektrum wissenschaftlich fundierter Förder- und Therapiemethoden (vgl. Knab/Klein 2006, 167). Vor dem Hintergrund dieser Fragestellung hat sich im Jahre 2003 eine Arbeitsgruppe – bestehend aus Vertretern aus Wissenschaft und Praxis – gegründet, die sich dem Feld der Verfahrensentwicklung psychomotorikspezifischer Qualität widmet. Das Ergebnis ist das System psychomotorischer Effekte-Sicherung (SPES) zur Evaluation und Qualitätsentwicklung psychomotorischer Förder- und Therapiemaßnahmen für Kinder und Jugendliche. Die speziell zu diesem Zweck entwickelten Fragebögen können dabei in verschiedenen Arbeitsfeldern (motopädische Praxen, klinisch-therapeutische Institutionen, Fördervereine, Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen, Förderschulen etc.) zur Einzelfalldokumentation von Kindern und Jugendlichen mit Förderbedarf eingesetzt werden. Was leistet das Verfahren?SPES ermöglicht den teilnehmenden Institutionen den Aufbau eines einheitlich strukturierten Dokumentationssystems zur Erfassung von Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität (Donabedian 1982). Darüber hinaus ergeben sich durch den Vergleich der eigenen Evaluationsergebnisse mit denen anderer Teilnehmer grundlegende Erkenntnisse über die Qualität der eigenen Angebote und Leistungen. Die SPES-Daten dienen somit einer wissenschaftlich fundierten Evaluation und Qualitätsentwicklung des eigenen Förder- bzw. Therapiekonzepts.
Vor allem aber bietet SPES die Gelegenheit, auf der Basis einer gemeinsamen Sprache die psychomotorische Arbeit zu bewerten und zu reflektieren. Da in allen Einrichtungen nach dem gleichen Verfahren erhoben wird, kann die einzelne Einrichtung ihre persönlichen Daten in Beziehung zu den Daten aller anderen teilnehmenden Einrichtungen setzen, ohne dabei ihre Daten öffentlich zu machen. Durch Einzel-, Gruppen-, Einrichtungs-, Regional- und Bundesauswertungen werden konkrete Vergleiche ermöglicht, die zu Verbesserungen der psychomotorischen Praxis und zur Erkennung von Einsparungspotenzialen beim ökonomischen Mitteleinsatz führen können.
Ein weiteres zentrales Anliegen von SPES ist es, mit Hilfe spezifischer Kennwerte Effekte der Förderung bzw. Therapie sichtbar zu machen, wodurch fundierte Hinweise auf den Wirkungsgrad psychomotorischer Angebote gegeben werden. Typische Fragestellungen in diesem Kontext sind etwa:
■ Welche inhaltlichen Angebote wirken besonders positiv?
■ Bei welcher Ausgangslage sind große bzw. nur geringe Erfolge zu erwarten?
■ Gibt es „sensible Phasen“ im Verlauf einer Intervention, in denen
besonders effektiv gearbeitet werden kann?
■ Wie wichtig ist eine gute Beziehung zwischen Psychomotoriker und
Kind?
■ Welche Rolle spielen die Eltern?
■ Hat Psychomotorik nur Auswirkungen auf die motorische Entwicklung oder sind auch andere Effekte nachweisbar? (Arnold 2006).
Vertiefte Informationen zur Wirksamkeitsforschung in der Psychomotorik sollen am Ende dieses Bandes diskutiert werden.
Übungsaufgaben zu Kapitel 1
1. Vergegenwärtigen Sie sich zunächst Ihren persönlichen Zugang zum Thema Bewegung und zur Körperlichkeit. Welche Erfahrungen habe ich selbst im Laufe meines Lebens mit Bewegung und auch mit sportlichen Aktivitäten gemacht?
2. Was bedeutet Psychomotorik?
3. Auf welchen historischen Quellen beruht der ursprüngliche Ansatz der Psychomotorischen Übungsbehandlung? Hat „Üben“ heute noch eine Bedeutung?
4. Was ist der Unterschied zwischen Motopädie und Motologie?
5. Skizzieren Sie die Lernfelder Körpererfahrung, Materialerfahrung und Sozialerfahrung.
6. Wodurch unterscheiden sich Motopädagogik und Mototherapie? Halten Sie diese Begriffe noch für zeitgemäß?
7. Versuchen Sie die vier Perspektiven oder Ansätze der Psychomotorik in ihren wesentlichen Aspekten voneinander abzugrenzen.
8. Suchen Sie Beispiele für eine praktische Arbeit/Förderung, die dem Verständnis der einzelnen Ansätze angemessen ist. Kann man nur nach einem bestimmten Ansatz arbeiten oder fördern?
9. Welche Hintergründe führten zur Gründung der Deutschen Gesellschaft für Psychomotorik und Motologie?
10. Wann wurde das Europäische Forum für Psychomotorik gegründet und welche Aufgaben stellt sich dieses internationale Gremium?
11. Skizzieren Sie die inhaltlichen Schwerpunkte der psychomotorischen Arbeit in verschiedenen europäischen Ländern.
12. Beschreiben Sie die Eckpunkte der Evaluations- und Wirksamkeitsforschung in der Psychomotorik. Warum soll Wirksamkeit der eigenen Arbeit nachgewiesen werden?