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Ein Geschenk, das ich nicht haben wollte

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Am Nikolaustag hatte mich Leonore so beiläufig nach einem Päckchen gefragt, das man mir anvertraut hatte. Ich hatte damals ein Gespräch darüber vermieden, weil es mir lästig erschien, doch so langsam musste ich mich darum kümmern.

Mitte Oktober hatte ich das Päckchen erhalten, das mir ein längst vergessener Studienkollege zugeschickt hatte. Nicht, dass ich darauf besonders neugierig gewesen wäre. Mehr aus Pflichtgefühl hatte ich mich einverstanden erklärt, es in Empfang zu nehmen.

Er hatte mich angerufen und wollte wissen, ob ich mich noch an ihn erinnere: Sommersemester Göttingen 59. Als er sagte, dass wir zwei- oder dreimal in denselben Seminaren gesessen und viel miteinander diskutiert hätten, und als er beschrieb, wie er damals ausgesehen hatte und mir seinen Namen nannte, Falk Schäfer, da dämmerte es mir langsam. Ja, wir hatten öfters miteinander diskutiert, das stimmt, aber irgendwie muss es unfruchtbar gewesen sein. Jedenfalls tauchte in meiner vagen Erinnerung ein unbefriedigendes Gefühl auf.

Und dann fiel es mir wieder ein. Es ging einmal um die Gottesfrage. Was man von den Beweisen seiner Existenz halten sollte. Seit ich den Philosophen Kant zu diesem Problem gelesen hatte, war mir klar: gar nichts! Mein Kommilitone hatte das ganz anders gesehen. „Gott ist ein wissenschaftliches Problem“, hatte er gemeint, „und wenn mit großer wissenschaftlicher Wahrscheinlichkeit festgestellt werden könnte, dass Gott nicht existieren würde, dann wären die Religionen überflüssig und ihre Organisationen auf Erden erst recht.“

Ein ähnlicher Dissens brach in einem Seminar über die Geburtslegenden von Lukas und Matthäus auf. Mit Beharrlichkeit, ja Sturheit, hatte er darauf bestanden, dass die Wahrheit der Aussage des Textes daran hängt, dass das, was er erzählt, als Bericht angesehen werden müsse. „Und ein Bericht muss stimmen!“ Täte er es nicht, hätte ein Text keinen Anspruch, ernst genommen zu werden. Mir fällt noch ein, wie er geradezu pingelig darauf bestanden hatte, dass bei der Weihnachtsgeschichte das Haus, von dem Matthäus erzählt, und der Stall, der aus Lukas erschlossen werden kann, identisch sein müssten. Wenn nicht, wäre die ganze Sache von der Geburt Jesu unglaubwürdig.

Wir haben uns nach Göttingen aus den Augen verloren. Und jetzt, nach vielen Jahren, verspürte ich auch überhaupt kein Interesse, die alte Bekanntschaft zu erneuern.

Er erzählte mir am Telefon, dass er das Studium der Theologie und Philosophie nach vier Semestern abgebrochen und sich anschließend im journalistischen Bereich getummelt habe. Damit hatte er die Kette der Pfarrer in seiner Familie in vierter Generation zerstört. Jetzt wollte, besser gesagt, müsse er in eine Seniorenresidenz ziehen, er sei ja nun auch schon 77. Da hieße es auszumisten, möglichst gründlich. Beim Aufräumen sei ihm wieder ein kleines Päckchen in die Hände gefallen. Das habe ihm seine Mutter gegeben, nachdem „deren Mann“, wie er formulierte, ums Leben gekommen sei. Noch im Krieg.

„Sie reden von Ihrem Vater?“

„Ja.“, bestätigte er. „Meine Mutter! Wissen Sie, die war immer nur ein Anhängsel von meinem Vater gewesen. Als meine Mutter mir das Päckchen überreichte, damals, als ich nach Göttingen ging, war sie fast feierlich. Da ist was von Onkel Gernot drin, meinte sie. Er war ein tapferer Soldat gewesen, denn das hier hat er dem Feind abgenommen. Wir haben dir ja oft erzählt, dass er im Krieg geblieben ist. Damals in Flandern. Und von deinem Vater ist da auch etwas drin, hatte sie hinzugefügt. Ja, und von ihr selber ebenfalls.“

„Sie wissen es nicht genau? Und auch nicht was?“, fragte ich.

„Ich habe das Päckchen nie aufgemacht.“

Ich war überrascht. Wie tief ging der Bruch zwischen ihm und seiner Familie? Oder wovor hatte er Angst? Durchs Telefon war seine Empörung zu spüren. Als ich ihn darauf ansprach, wurde er deutlich: „Mir kommt heute noch die Galle hoch. Dass ich bald danach mein Studium abgebrochen habe, hatte der alten Dame fast das Herz gebrochen.“

Ob er mir das Päckchen zuschicken dürfe. Darauf also wollte er hinaus. Da ich immer noch nicht gelernt habe, auf Fragen wie diese mit Nein zu antworten, bat er um meine postalische Anschrift, bevor ich es mir anders überlegen konnte.

„Ihr Onkel war der Bruder Ihres Vaters?“

„Ja. Mir fällt noch ein“, ergänzte er, „dass da ein Kriegskamerad war. Mein Onkel und der, die beiden waren wohl Freunde. Der wollte mich immer sprechen. Aber ich wollte nicht. Ich habe mich nie dafür interessiert. Dieser Krieg war eine einzige Lüge! Und mein Onkel hat für diese Lüge sein Leben opfern müssen. Und das Leben meines Vaters war auch eine einzige Lüge. Sein Bruder sei für ein besseres Deutschland gestorben, hat mein Vater mehrmals zu mir gesagt. Und der hatte das auch wirklich geglaubt. Sie haben sich alle immer nur etwas vorgemacht.“

Ich schwieg.

„Ich habe mit dem allen gebrochen“, fuhr der Bekannte aus vergangenen Tagen fort. „Meine Mutter ist auch längst tot. Mich geht das alles nichts mehr an. Sie kriegen das Päckchen so, wie meine Mutter es mir damals gegeben hatte.“

„Haben Sie noch den Namen von dem Kriegskameraden ihres Onkels? Und die Anschrift?“

„Vielleicht irgendwo, ja, mag sein. Aber der muss doch auch schon lange tot sein. Wenn Sie wollen, können Sie ja meine E-Mail-Anschrift haben.“

Ich wollte eigentlich nicht, notierte sie mir aber fast mechanisch, als er sie nannte. Dann wollte er noch genau meine Postanschrift wissen. Und danach hat er ziemlich rasch mit Dank aufgelegt.

Weihnachten? Um Gottes Willen!

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