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Überlieferung und Primatsvorstellungen
ОглавлениеDenn seit dem seligen Gregorius (dem Großen) bis auf den gegenwärtigen Tag scheint kein Bischof von allen, die in der Stadt Rom zur Hohenpriesterwürde erhoben wurden, jenem gleichgestellt werden zu dürfen. Den Königen und Tyrannen gebot er und beherrschte sie durch seine Autorität, als ob er der Herr der Welt gewesen wäre […], so daß man mit Recht glauben mag, daß, von Gott erweckt, in ihm für unsere Zeit ein zweiter Elias erstanden ist, wenn auch nicht dem Leibe, so doch dem Geiste und der Tugend nach.
So charakterisiert Regino von Prüm am Ende des 9. Jahrhunderts rückblickend Papst Nikolaus I.74 In der späten Karolingerzeit sind neben Nikolaus mehrere markante Päpste hervorzuheben; so gab sich zum Beispiel Papst Leo IV. (847–855) gegenüber Byzanz selbstbewusst, wenn er die Beschwerden von sizilischen Bischöfen aufgriff und erklärte, dass nur der römische Stuhl das Ehrenzeichen des Palliums in „ganz Europa“ vergebe.75 Dieses Ehrenzeichen mit liturgischem Charakter (ringförmige Wollstola, von der mit Kreuzen geschmückte Streifen nach vorne und hinten herabhängen) ging auf die römische Beamtenschärpe zurück. Es wurde vom Papst getragen, aber seit dem 9. Jahrhundert für die Erzbischöfe zunehmend verpflichtend, die um das Pallium in Rom selbst nachsuchen mussten. Vor der Übergabe wurde das Pallium auf das Petrusgrab gelegt und versinnbildlichte damit die Verbindung der Erzbischöfe mit Rom. In begleitenden Papsturkunden wurden die mit dem Tragen der Insignie verbundenen Rechte geregelt.
Der Pontifikat Johannes’ VIII. ist durch die Abschrift einiger Registerbände bestens dokumentiert; bei dem insgesamt überragenden Nikolaus I. zeichnet die breite Überlieferung von Briefen in verschiedenen Sammlungen für ein differenziertes Bild verantwortlich, die seine Vorstellungen eines päpstlichen Primates gut erkennen lassen. Dazu bedurfte es jedoch zunächst der Möglichkeiten zur schriftlichen Intervention. So berichtet die Nikolausvita im Liber pontificalis: „Zu Zeiten des seligsten Bischofs wurden so viele und große Anfragen aus verschiedenen Provinzen […] an den apostolischen Stuhl gerichtet, wie aus früheren Zeit überhaupt noch nie erinnerlich war“.76 Die Überlieferung dieser Anfragen sowie der entsprechenden Antworten in verschiedenen Briefsammlungen bestimmten das Bild Nikolaus’ I.; besonders bekannt sind einige größere Konfliktfälle, die Italien, das Westfranken- und Mittelreich, aber auch Byzanz betrafen.
Nikolaus zwang den zunächst von Kaiser Ludwig II. unterstützten Erzbischof Johannes VII. von Ravenna, der in römische Rechte eingegriffen hatte, zur Unterwerfung (861). Gegenüber Erzbischof Hinkmar von Reims versuchte der Papst, den Vorrang des päpstlichen Entscheides vor der Synodal- und Metropolitangewalt durchzusetzen, indem er Streitfälle des Bischofs Rothad von Soissons und einiger Reimser Kleriker aufgriff. Die päpstliche Haltung im Ehestreit König Lothars II. gipfelte in der Absetzung der den König unterstützenden Erzbischöfe von Trier und Köln (863). Von 861 bis 867 währte die Auseinandersetzung mit Byzanz, die sich ab 866 durch die Konkurrenz um die Missionierung Bulgariens verschärfte.
In allen diesen Streitfällen entschied der Papst aber nicht nur, sondern er begründete seine Urteile mit Zitaten aus früheren päpstlichen Äußerungen, zum Beispiel von Leo I. oder Gelasius I. Dies zeigt wie verläßlich das Archivierungssystem in Rom gewesen sein muss. Aus solchen Schreiben jedoch zu schließen, dass Nikolaus ein Vorläufer der hochmittelalterlichen päpstlichen Weltherrschaft gewesen sei,77 bleibt problematisch. Zumindest begründeten diese Ansprüche keine längerfristige praktische Umsetzung. Deshalb lässt sich im Falle Nikolaus’ I. unmittelbar die Frage nach Anspruch und Wirklichkeit stellen. Allerdings macht die Überlieferung zu seinem Pontifikat deutlich, dass die Bedeutung eines Papstes sich auch aus der Nachwirkung erschließt, denn viele Passagen seiner Briefe gingen in spätere Rechtssammlungen ein und trugen damit zu einem – freilich erst später deutlichen – Führungsanspruch Roms bei. Für das 9. Jahrhundert bleibt jedoch die Frage berechtigt, welche Machtposition ein Papst in dieser Zeit aufgrund der strukturellen Voraussetzungen in der Praxis überhaupt erreichen konnte.