Читать книгу Fluchtpunkt Mogadischu - Klaus Hönn - Страница 2
1. Kaperung
ОглавлениеTran, der immer gut gelaunte Philipino, machte die beiden Boote als erster aus. Er wies mit ausgestreckter Hand in den leichten Dunst, der allseitig das Schiff umgab, streifte den Mundschutz ab und legte Farbeimer und Spritzpistole auf das Podest der Leiter. Er rief erst seinen Landsleuten ein paar Worte zu, danach auch Gerd und Luc. Luc Haanen arbeitete als Berufsanfänger in der Zentrale eines Versicherungskonzerns in Brüssel, Gerd Stellring war Student im höheren Semester an einer Universität in Deutschland. Stellring hatte sonst nie über sein Sehvermögen klagen müssen, aber er erkannte nichts. Das dampfende Meer verschwamm nicht weit vom Schiff entfernt mit einem Himmel, der nur in einem kleinen Ausschnitt direkt über dem Kopf blau erschien. Jenseits davon verlor die Farbe sich in unbestimmtes Grau. Wenn er den Blick nur wenig senkte, blickte er in trübe Schleier. Eine klare Linie als Horizont hatte sich seit der Abfahrt in Deira nicht gezeigt.
Sie waren schon zwei Tage auf einem Meer ohne jede Abwechslung unterwegs. Kein Fahrtwind machte sich bemerkbar, die Luft auf dem Schiff bot keinen Widerstand, so als bestehe sie aus weicher Watte. Die langsame Fahrt der “Stolzenfels” in Richtung Nord hob die Wirkung einer leichten Brise in gleicher Richtung auf. Kein Flugzeuge am Himmel, auch keine anderen Schiffe, weder auf parallelem noch auf Gegenkurs! Stellring nahm an, der Kapitän hatte aus Sorge vor unerwünschten Begegnungen einen von der direkten Route abweichenden Weg gewählt.
Hatte Tran doch endlich noch ein anderes Schiff gesehen? Auf der Brücke war anscheinend auch Jakob aufmerksam geworden, ein Kotzbrocken in der Funktion als Steuermann. Er war mit seinem Fernglas seitlich ans Geländer getreten und richtete es in die Richtung, die Tran gewiesen hatte. Auf die Entfernung für Stellring gerade noch erkennbar, schüttelte Jacob den kahlen Kopf. Vermutlich stieß er anlaßlos gewohnt unfreundliche Kommentare aus. Kurze Zeit darauf trat er durch die Tür wieder zurück zu seinen Gerätschaften hinter der Verglasung. Gerd Stellring ging ein paar Schritte in Richtung Vorderschiff. Er reckte den Hals und konnte sehen, der Mann sprach in ein Mikrophon. Über Bordlautsprecher plärrte als Durchsage an den Kapitän die Bitte um dringendes Erscheinen auf der Brücke.
Auch Stellrings Freund Luc hatte draußen jetzt etwas ausgemacht. Ein dunkler Punkt in einiger Entfernung, mehr könne er nicht erkennen. Falls das ein Schiff sei, wäre es noch weit entfernt, wenn nicht das, dann mit Sicherheit ein ziemlich kleines Boot für die Fahrt auf offener See. Tran hatte noch ein paar Worte mit seinen Landsleuten Noel und Joe gesprochen, jetzt wandte er sich wieder an die Europäer. Wenn Piraten mit einem Boot im Anmarsch seien, gehe die gemeinsame Reise vorzeitig zu Ende. Er könne nicht genau erkennen, ob zwei Boote sich näherten oder nur eines. Am Ende noch ein Abenteuer? Stellring sah Luc, den Freund aus Belgiens Hauptstadt fragend an. Natürlich hatten sie beide von Überfällen somalischer Piraten schon gehört. Sie waren auf dem Weg von einer längeren Tour quer durch Ostafrika zurück nach Hause. Nach dem Abschluß der Reise mit einem womöglich gefährlichen Abenteuer zur See stand ihnen nicht der Sinn. Angst hatte der Phlipino anscheinend nicht. Was er über Piraten in dieser Gegend wisse? Er fahre diese Strecke doch nicht zum ersten Mal. Tran gab nicht ohne Anzeichen von bescheidenem Stolz Kenntnisse dieser Gefahren preis. Er wisse Einiges aus Gesprächen mit Leuten, die selbst unangenehme Erfahrungen gesammelt hatten. Wenn man sich vernünftig verhalte, sei die Gefahr allerdings gering. Man liege maximal ein paar Wochen irgendwo in Küstennähe auf Reede bis Lösegeld geflossen sei. Die Reedereien hätten für solche Fälle ihre Versicherung. Dann werde die Fahrt fortgesetzt. Wenn ein Reeder Anstand zeige, werde die Besatzung für die Zeit der Gefangenschaft sogar bezahlt.
Wenn Tran und seine Landsleute nur mäßig beunruhigt waren, bestätigte sich, was Luc und sein Freund Stellring aus Berichten in den Medien wußten. Man erfuhr regelmäßig von Schiffsentführungen am Horn von Afrika, aber über Verluste an Menschenleben hörte man in aller Regel nichts. Die UNO hatte eine Flotte von Schutzschiffen unter dem Bezeichnung Atalanta eingesetzt. Das überwachte Seegebiet war groß, die Zahl der Schiffe wahrscheinlich nicht. Daß eines in der Nähe operierte, war nicht ausgeschlossen aber unwahrscheinlich. Stellring erkannte jetzt selbst den dunklen Fleck im Dunst. Noch war kein Geräusch zu hören. Der Lärm aus dem Motorenraum der MS “Stolzenfels” hätte auch ein noch weit entferntes Motorboot, wenn es denn eines war, leicht übertönt. Luc sah anscheinend schon mehr als nur den unbestimmten dunklen Gegenstand. Er sagte mit belegter Stimme:
“Mein lieber Gerd, du hast Dich beklagt, wir hätten bisher zu wenig Ungewöhnliches erlebt auf unserer Fahrt. Dein Wunsch wurde erhört, jetzt kurz vor Schluß kannst Du Dein Abenteuer haben.” Was vorher nur schemenhaft erschienen war, kam auf Sichtweite heran. Nicht ein einziges sondern zwei Boote näherten sich, ihrem Tempo nach geurteilt, stark motorisiert. Beide nicht größer als geschätzt zehn Meter lang, zweieinhalb Meter breit und ohne Sonnendach. Im Heck jeweils ein kleiner Steuerstand. Die Boote bestanden dem Anschein nach aus Holz. Stellring war Laie auf nautischem Gebiet. Er nahm an, solche Seefahrzeuge waren kaum geeignet für weite Fahrten aufs offene Meer. Der Steuermann Jacob hatte sie bei Abfahrt aus Beira in Mozambique informiert, das Schiff liefe seinen Nordkurs ziemlich weit abseits der Küste. Diese Boote würden trotz ihrer Schnelligkeit ziemlich lange brauchen bis zurück an Land.
Auf dem Boot, das am nächsten herangekommen war, hielten sich ein Mann am Steuer und und drei weitere Personen auf, Afrikaner ließ sich jetzt erkennen, Wie Schiffbrüchigen sahen sie nicht aus. Für ein Rettungsboot war das Fahrzeug auch zu stark motorisiert. Auf Stellring machte die Besatzung nicht den Eindruck von Piraten. Das zweite etwas kürzere Boot hatte in kleinem Abstand parallelen Kurs gehalten und drehte jetzt seitlich ab. “Sieben Mann insgesamt”, sagte Luc, seine Stimme klang belegt, “Wir sind hier acht.”
Sollten die Brüder uns unfreundliche gesinnt seien, würden sie längst irgendwelche Waffen schwenken, dachte Stellring. Nicht dergleichen geschah. Die vier winkten nicht unfreundlich zur Brücke hoch. Der Größte, das Steuerrad am Heck in einer Hand , machte mit der flach ausgestreckten anderen eine Bewegungen als tätschele er ein Pferd. Mit lauter Stimme schrie er ein paar Sätze zum Schiff herüber. Als keine Antwort kam, besann er sich und griff zu einem Megaphon. Keiner hatte vorher ein Wort verstanden, der Lärm von Boot und Schiff hatte die Stimme übertönt.
Luc sah seinen Freund mit hochgezogenen Augenbrauen an und Stellring verzog das Gesicht zu einer unsicheren Grimasse. Sie deuteten den Vorgang beide gleich: Der Brücke wurde die Aufforderung zum Stoppen angezeigt. Man befand sich auf hoher See und solle besser von Beidrehen sprechen, dachte Stellring. In einer ungewöhnlichen Situation ging ihm auch dieses mal wieder Überflüssiges durch den Sinn. Kein zweifel, die Bootsbesatzungen wollten an Bord. Ließ Hansen, der Kapitän, sich auf die Bitte ein? Das dumpfe Stampfen der Schiffsmaschine, das seit dem Auslaufen aus dem Hafen in Mozambique gleich geblieben war, hatte sich geändert. Die Tonlage war jetzt heller als vorher, auch die Vibration an Deck hatte sich verstärkt. Hansen ließ sich auf den Besuch auf hoher See nicht ein, er hatte anscheinend die Maschine auf Höchstleistung gestellt und fuhr mit voller Kraft voraus. Der Abstand zu den Booten verringerte sich dadurch nicht, ganz im Gegenteil. Das seitlich ausgescherte kleinere Boot zeigte ein schneidiges Manöver. Auch hier ein Motorenton ähnlich einer Sirene: der Außenborder am Ende einer überlanger Schraubenwelle hob es zu drei Vierteln seiner Länge aus dem Wasser. Mit weiß schäumender Heckwelle jagte es längs an der„Stolzenfels“ vorbei. Es verließ kurz das Blickfeld der Anstrichtruppe an Bord der „Stolzenfels”und tauchte auf der rechten Schiffsseite wieder auf. Stellring registrierte die Erinnerung, an Steuerbord hieß das korrekt ausgedrückt auf See. Waghalsig knapp hatte das Boot vor dem Schiffsbug die Fahrlinie der “Stolzenfels ” gekreuzt. Der Abstand mußte halsbrecherisch klein gewesen, das Manöver einem Seemann waghalsig wenn nicht verrückt erschienen sein. Hansen und Jacob auf der Brücke mochten befürchtet haben, sie hätten das Boot gerammt, sagte er laut. Nicht befürchtet, eher gehofft, kommentierte Luc.
Vielleicht stand die Mutprobe als Zeichen für die Entschlossenheit, kampflos abweisen lasse man sich nicht. Stellring entdeckte bei der Vorbeifahrt im offenen Boot Gegenstände, die ihm die Annahme nahe legten. Trans Einschätzung war offensichtlich nicht aus der Luft gegriffen. Schießzeug hatte sich an Bord erkennen lassen, das die Jagdgewehre der Safari in Tansania aussehen ließ wie Spielzeug. Sie hatten, damals noch zu viert, gemeinsam Ranger auf dem Streifzug durch sein Reservat begleitet ehe die Mädchen vorab zum Rückflug aufgebrochen waren. Wenn Luc sich nicht getäuscht habe, sei auch aufgerollt eine Strickleiter im Boot gewesen. Stellring hatte keine Strickleiter gesehen, aber war sich mit Luc einig: anders als vorhin hatten die drei im zweiten Boot nicht den Eindruck neugieriger Fischer auf ihn gemacht.
Tran und die beiden anderen Philipinos zeigten kaum Gemütsbewegung. Nachdem Tran den frühen Alarm geschlagen hatte, waren sie dem Schauspiel anscheinend gleichmütig gefolgt. Waren sie sich im Voraus sicher was bevorstand? Stellring hielt es nicht mehr am Platz. Er sei gleich zurück, rief er Luc zu, er besuche jetzt sofort die Brücke. Mehr als ein Hinauswurf wurde dabei nicht riskiert. Die Beziehung zur Schiffsführung war schwer gestört, aber die Sache, die sich hier anbahnte, war kein Spaß. Er schuldete sich den Versuch, rechtzeitig zu erfahren, woran man war. Luc klappte seine Leiter zusammen, legte sie flach auf Deck neben den Farbeimer, die Stahlbürste und das Werkzeug zum Streichen und schloß sich Stellring an.
Die Zugangstür zur Brücke stand weit offen. Sie betraten den Kommandoraum, ohne auf Protest zu stoßen. Hansen wirkte blaß. Sein Steuermann Jacob war als Vertreter des erkrankten Maschinisten, zuständig auch für den Schiffsantrieb. Es schien, er hatte die unverschämte Grobheit der letzten Tage wenigstens ansatzweise abgelegt.
“Hatte immer gehofft, diese Erfahrung bliebe mir auf meiner letzten Fahrt erspart”, wandte der Kapitän sich den Beiden zu, in gesittetem Ton, als hätte es den großen Krach vor zwei Tagen zwischen ihnen nicht gegeben. Ohne die Bitte darum abzuwarten, reichte er Luc sein Glas.
“Schätze, mit dem Tempo der Boote nimmt es Ihr Schiff nicht auf”, sagte Luc zum Steuermann. Jacob verzog säuerlich das Gesicht. Eine neue Lage stellte sich gerade ein. Sinnlos, die kleinliche Hakelei fortzuführen! War Jacob schon klargeworden, man müsse ab jetzt zusammenstehen? Noch war das Wahrscheinliche nicht eingetreten.
Das Schnellboot an Steuerbord hatte die Fahrt gedrosselt und fuhr auf gleicher Höhe wie das Schiff. Die drei Mann Besatzung hatten Gewehre zur Hand genommen und schwenkten sie in der Luft. Einer hantierte zusätzlich mit einem dicken Tau. Luc hatte sich vorhin nicht getäuscht. Im Glas sah Stellring, daß es an einem Ende mit einer Strickleiter verbunden war. Am anderen Ende des Taues war ein leichter Bügel angebracht.
“Der Enterhaken liegt bereit”, sagte Stellring und gab das Glas zurück. Hansen setzte es selbst wieder an. Das Gesicht verzog sich als stieße ihm ein Brocken der letzten Mahlzeit sauer auf.
“Verflucht nochmal, Jacob, der Mensch hat recht.”
Unten wieder die Bewegung mit der flachen Hand wie vorhin beim Rudergänger des größeren der Boote, das sich weiter an der Backbordseite hielt. Die Geste ließ keinen Zweifel zu: eine Aufforderung an die MS “Stolzenfels” zum Stopp. Zweifel war ausgeschlossen, auf das Schiff wartete nicht angemeldeter Besuch. Der Kapitän stellte eine ratlose Betrachtung an:
“Jetzt zum Schluß noch so eine Schweinerei! Wir sind weiß Gott vorsichtig gewesen. Haben den Kurs geheim gehalten und seit dem Ablegen nicht einen Funkspruch abgesetzt. Trotzdem haben die Gangster uns aufgespürt.” Luc fand, die Gelegenheit eignete sich für eine Spitze. Er hatte mit beiden noch eine Rechnung offen:
“Nur keine Panik, Kapitän, wir sind ja für Sie da. Bis zum Beweis des Gegenteils sind die Leute nicht Gangster sondern auf Fischfang aus.“ Hansens Ärger mit den Beiden gleich nach dem Ablegen in Deira meldete sich zurück.
“Halt doch die Schnauze Menschenskind. Wir stehen knapp sechshundert Seemeilen querab zur Küste. Kleine Fischerboote treiben sich hier nicht herum. Die Hinterleute dieser Gangster haben per Satellit unsere Position bestimmt oder jemand hat einen Peilsender an Bord gebracht. So oder so, jetzt kommen auf uns Probleme und auf den Reeder Kosten zu. Bin nicht mal sicher, daß der Alte in Hamburg sich gegen Piraten abgesichert hat.” Er wandte sich an den Steuermann:
“Nicht schön für Ihre Karriere, Jacob. Mir tut der Ärger kaum noch weh, ich gehe in Pension.” Der Steuermann fühlte sich über Tröstungen erhaben und überging den Zuspruch seines Chefs.
“Wir rufen sobald möglich in Hamburg an. Anderes geht zunächst vor.” Hansen sagte, er sei gleich zurück, drehte sich um und ging. Drei Mann auf der Brücke waren unter sich. Hansens Glas lag auf dem Kompaßtisch. Luc nahm es zur Hand, sagte während er auf die Wasserfläche spähte:
“Gebe der Ordnung halber zu Protokoll, Herr Jacob, wir haben keinen Peilsender an Bord gebracht. Was gibt unsere Waffenkammer her?” Jacob ließ die Bemerkung unbeachtet. Vom größeren Boot her wurden Schüsse abgefeuert.
“Die Brüder meinen es tatsächlich ernst.“ Er Blickte die Freunde ratlos an.
„Bedaure Leute, Fehlanzeige! Abwehrgeschütze führt dieses Schiff nicht mit. Mir fehlt leider auch jede Erfahrung im Umgang mit Piraten.” Hatte der Steuermann seinen arroganten Ton so rasch abgelegt? Luc überzog:
“Vielleicht macht der Kapitän inzwischen die Torpedos klar.”
“Schon gut, Schluß jetzt mit dieser Spielerei. Wir sind erwachsene Leute. Ihr zwei habt für die Passage nicht bezahlt und seid nur infolge Protektion an Bord. Benehmt euch wie sich das gehört, spätestens jetzt wäre das angebracht. Allenfalls unsere Kombüse dient als Waffenkammer. Mehr als Küchenmesser stehen zur Gegenwehr nicht zur Verfügung. Gegen das Schießzeug da unten sind wir chancenlos.”
“Dann geben sie den Kerlen grünes Licht. Wenn Entern nicht zu verhindern ist, hat Widerstand keinen Sinn. Ich schlage vor, Sie laden die Leute zum Besuch an Bord.” Der Kapitän trat wieder ein:
“Der Reeder sagt, kein Risiko für Leib und Leben eingehen. Er gibt mir im Grundsatz freie Hand. Ich solle aber wissen, eine Versicherung zahlt bei Kaperung nur dann wenn versucht wurde, den Schaden soweit möglich zu begrenzen.” Jacob hatte mehr anscheinend nicht erwartet:
“Das ist alles? Hat gut reden der Mann, sitzt in seinem Büro in Hamburg und wir baden für ihn diese Sache aus.”
“Was sonst soll er aus der Distanz entscheiden? Sie sind der Kapitän”, sagte Stellring.
Draußen erklang wieder das Geräusch von Schüssen! Luc beobachtete weiter angespannt das Boot an Steuerbord:
“Sie schießen nicht mehr nur Kerzen sondern von unten aus nur ganz knapp über die Reling.”
Hansen ging zu ihm hinüber. Sagte, er habe vor dem Anruf in Hamburg einen Notruf abgesetzt und erwarte jeden Augenblick den Rückruf, ob und wann mit Hilfe zu rechnen sei. Auf jeden Fall müsse man müsse sich schützen, wie immer auch behelfsmäßig nur möglich. Jacob möge die Maschine abschalten, das Schiff liege dann erst einmal fest. So wie sie aussähen, setzten die Angreifer es ohne fremde Hilfe nicht wieder in Bewegung.
Es schien, der Kapitän hatte den ersten Schrecken überwunden. Er gab, noch immer in Gegenwart der Besucher auf der Brücke, Anweisung zum Bau einer Verschanzung. Der große Mannschaftsraum im Unterdeck werde schnellstens als Notbehelf zur Festung ausgebaut einschließlich einem Vorrat an Lebensmitteln und Getränken. Die Tore dort unten gäben nur unter Einsatz von schwerem Werkzeug nach. Zum Aufbrechen geeignetes Gerät werde versteckt oder gehe über Bord! Spätestens sobald geentert werde, ziehe die Besatzung sich in diesen Raum zurück. Ein paar Stunden bis Hilfe eintreffe, notfalls einige Tage halte man die Belagerung da drinnen aus. Jacob stelle bitte eigenhändig die Maschine ab, er selbst, Hansen, verlasse die Brücke erst zuletzt und bringe die Schlüssel und die schriftlichen Unterlagen in Sicherheit. Er habe sich zum Durchhalten entschlossen. Die Besatzung solle versichert sein, die Ganoven entgingen nach kurzer Freude über die freche Kaperung ihrer gerechten Strafe nicht. Markig gesprochen, dachte Stellring.
Man werde ohne Lüftung in einem abgeschlossenen Raum nicht lange Freude haben, wandte Jacob ein. Luc sprach Klartext und fragte nach Toiletten. Hansen musterte beide mit gleich unfreundlichem Blick und verwies auf später. Zur Zeit habe er einen besseren Vorschlag nicht parat. Sein Steuermann ging in Gedanken Alternativen durch, eine bessere Zuflucht fiel auch ihm nicht ein. Dem Alten ging es um den Nachweis, man habe Gegenwehr mindestens versucht. Die Aussicht auf Erfolg hing vom Eingreifen der Atalanta ab. Jedenfalls aber mußte schnell gehandelt werden.
Stellring und Luc Haanen verhehlten sich gegenseitig das flaue Gefühl im Magen nicht. Luc schloß die Sticheleien von vorher mit einem konstruktives Anerbieten ab: er und Stellring ständen Jacob für die Befestigung der Zuflucht zur Verfügung.
Der Ton zwischen Schiffsführung und den nicht zahlenden Passagieren hatte sich geändert. Stellring schien, als Folge der Bedrohung war ihre Wertschätzung beim Kapitän ein Stück gestiegen.
Hansen nahm sein Glas zur Hand und trat an Steuerbord ans Geländer hinter der Brückentür. Er winkte zum großen Boot hinüber und gab durch Zeichen zu verstehen, er komme der Aufforderung nach und nehme Fahrt zurück. Das Boot hatte sich auf Rufweite genähert. Die Waffen der Männer waren nicht mehr drohend aufs Schiff gerichtet sondern wieder lässig umgehängt.
“Wer sind Sie?” rief er in Richtung Boot. Der Eindruck der Schwäche, den er mit der Frage eingestehen mußte, war ihm klar. Man möge sich ihm bitte bekannt machen und sagen worum es ging, forderte Hansen die Bootsbesatzung auf. Stellte sich selbst als Kapitän seines Schiffes vor. Wenn man draußen in Seenot sei, sei er bereit zu helfen. Er bezweifelte kaum, man hielt ihn unten für naiv, aber er gewann Zeit. Er wandte sich Jacob zu: “Nimm langsam Fahrt zurück. Ich halte die Brüder hin.”
Der Wortführer am Steuerrad hatte ihn verstanden. Er sei Ibrahim. Die beiden Boote seien einem Sturm mit knapper Not entkommen, hätten einen Umweg nehmen müssen und brauchten dringend Wasser und Proviant. Er komme zu einem kurzen Besuch an Bord, wenn eine Strickleiter zur Hand sei, wäre ihm das recht.
Nicht nötig, daß er sich herauf bemühe, kam zurück. Auf der “Stolzenfels” sei man sich der Pflicht zur Hilfeleistung auf hoher See bewußt. Die Besatzung bereite umgehend einen Korb mit Verpflegung und einen großen Vorrat Wasser vor. Er und seine Leute auf ihren Booten würden sich nicht beklagen.
“Machen sie keine Umstände Kapitän, wir kommen jetzt an Bord”, kam vom Lärm der Außenborder fast verschluckt zurück. Noch lief auch die Schiffsmaschine, wenn auch nur mit halber Kraft.
Spielerisch, als geschehe es absichtslos, nahm Ibrahim das Gewehr von der Schulter und streichelte den Lauf. An Land wurde Ibrahim tags darauf zum Anführer der Wachmannschaft bestimmt. Das Schiff hatte Fahrt verloren, die Schrauben trieben es mit verminderter Geschwindigkeit voran. Jacob hatte den Bremsvorgang nicht übereilt. Die Maschine klang jetzt jetzt so wie am Hafenkai in Beira. Kein Antrieb mehr auf der Schraube, aber jedes größere Schiff braucht eine lange Auslaufstrecke bis es aus voller Fahrt zur Ruhe kommt.
Wenn man auf einer Visite so nachdrücklich bestehe, dann bitte sehr, aber nur ein Mann allein und unbewaffnet. Hansen erntete Gelächter und verspürte Zorn. Die Strauchdiebe fühlten sich anscheinend sicher und durchaus nicht in besonderen Eile. Er wußte vor einem Rückruf der Atalanta nicht, wann die angeforderte Hilfe zur Stelle war. Nur wenn die Besatzung der “Stolzenfels” viel Glück hatte, kreuzte rechtzeitig ein Schiff auf und setzte dem Spuk ein Ende.
“Nun mach schon Alter, soviel Gastfreundschaft muß sein.” Wieder lachte Ibrahim. In seinem Lachen lag Hohn. Er legte sein Gewehr an die Schulter und schoß in Richtung Heck. Das Geräusch diesmal anders als bei den Warnschüssen zuvor. Kurze harte Töne mischten sich zu einem Doppelklang mit Nachhall. Später stellte Jacob fest, die Projektile waren vorne ins Schornsteinblech geschlagen und rückseitig nicht wieder ausgetreten. Ein großflächiges Ziel, das nicht leicht zu verfehlen war, dachte Stellring. Das Scheppern blieb im Ohr. Luc erklärte später das häßliche Geräusch: nach dem Eintritt durch die Vorderseite des Schornstein hätte die Wucht der Projektile für das Durchschlagen der rückseitigen Wand nicht ausgereicht. Die verbliebene Wucht hatte das dünne Blech beim Anprall in Vibration versetzt.
“Ich warne Sie, mit Gewalt kommen Sie und ihre Leute hier nicht weit.” Ibrahim antwortete nicht gleich. Auch seine drei Begleiter nahmen Waffen zur Hand und legten an.
“Hängt die elenden Leitern raus oder wir geben gezieltes Feuer.” Hansen war über das Vorgehen von Piraten durch einen Vortrag vom Vorjahr im Verband Deutscher Reeder leidlich informiert. Betroffene hatten bei einer Schulung für verantwortliche Schiffsführer berichtet. Vor Mord und nicht provozierter Gewalttätigkeit an Mitgliedern der Besatzungen seien die Piraten immer zurückgeschreckt. Man hatte den Teilnehmern vor jeder Heldenpose abgeraten. Die Androhung von Gewalt zur Verteidigung sei aber nicht falsch, im Gegenteil. Jede Versicherung verlange einen halbwegs glaubhaften Nachweis von Widerstand gegen den Versuch einer Kaperung. Waren ein paar Einschußlöcher im Schornstein glaubwürdiger Widerstand genug wenn es in Zukunft um die Schadenregulierung ging? Wenn die Piraten das eigene Seilzeug benutzte, um an Bord zu kommen, würde das Mittel zur Androhung von Gegenwehr aus Messern bestehen, mit denen sich eine Strickleiter kappen ließ. Er würde keinem Mann seiner Besatzung raten, das zu tun. Sonstige Waffen führte sein Schiff aus gutem Grund nicht mit. Die Angreifer im Boot dagegen erwehrten sich jeder Behinderung leicht mit einem gezielten Schuß.
“Du hast es so gewollt, Idiot”, rief Ibrahim Hansen von unten zu. Alle vier Bootsfahrer hielten das Gewehr im Anschlag. Hansen zog sich ein Stück weit von der Reling zurück, gerade soweit, daß er das Boot noch sah. Er konnte erkennen, man zielte nicht auf ihn. Nacheinander schossen die vier Afrikaner je einen Feuerstoß gegen die Bordwand ein Stück weit oberhalb der Wasserlinie. Den Anfang hatte Ibrahim gemacht, forderte die beiden anderen dann auf, es ihm gleich zu tun. Die angespitzten Projektile trafen auf härteren Widerstand als das dünne Schornsteinblech vorhin. Fast gleichzeitig mit dem dem Abschußknall lösten sie beim Aufschlag dumpfes Dröhnen aus, verformten sich zu kleinen Platten aus Metall, die aufzischend ins Wasser fielen. Flache Beulen bildeten sich im Stahl der Außenhaut, die dick aufgetragene Farbschicht wurde abgesprengt. Auf einer Fläche nicht größer als ein Fingernagel zeigte sich blankes Metall, mehr Schaden richteten keines der Geschosse an.
In den Lärm der Salven hinein klingelte Hansens Telephon. Die Leitstelle der Atalanta-Schutzmission fragte die Lage ab. Hansen teilte mit, der Verdacht eines Piratenangriffs habe sich bestätigt. Er gab die Anzahl der Männer auf den beiden Booten durch und beschrieb die ihm bisher erkennbare Bewaffnung. Das Schiff sei mit schnell feuernden Waffen beschossen worden, er rechne in Kürze mit der Enterung. Er mußte zur Kenntnis nehmen, keines der Atalanta-Patrouillenboote stehe zur Zeit in Nachbarschaft zur “Stolzenfels”. Die Atalanta verfüge nur über eine begrenzte Zahl von Schiffen. Die Gefahrenzone der Gewässer vor dem Horn von Afrika, in der Piraten operierten, dehne sich dagegen ständig aus. Vor Ablauf von zweiundzwanzig Stunden sei mit Eintreffen von Hilfe nicht zurechnen. Die Stimme im Hörer bat noch einmal wie schon vorhin um die aktuelle Positionsangabe. Hansen kam der Bitte schnell nach, er hatte die Zahlen vorbereitet. So lange irgend möglich solle er versuchen, mit der Leitstelle Kontakt zu halten. Im Namen von “Atalanta” wünsche man ihm Glück. Der Kapitän war enttäuscht. Er atmete tief durch und zwang sich eine entschlossene Mine auf. Über Bordmikrophon bat er Jacob zu sich herauf, neben der Tür zur Brücke stehend stellte er fest, beide Boote liefen jetzt an Backbord längsseits.
Tran und die beiden anderen Philipinos hatten zum Schein die Malerarbeit noch eine Weile fortgesetzt. Sie ganz einzustellen hatten sie nicht gewagt. Der Steuermann Jacob hatte mehr als einmal gezeigt, er war ebenso cholerisch wie unberechenbar, vor allem dann wenn er getrunken hatte. Der Mann war eine kurze Zeit lang abgetaucht, jetzt näherte sich in Begleitung von Luc und Stellring und wies die Besatzung an. Tran, Noel und Joe sollten alles Gerät, das als Brecheisen in Frage kommen könnte, zusammensuchen und im großen Mannschaftsraum verstauen. Luc und Stellring seien mit dem Schiff wenig vertraut, sie würden aber behilflich sein. Anschließend werde gemeinsam das Zugangstor zum Mannschaftsraum zur Sperrung vorbereitet und die Durchreiche zur Kombüse blockiert. Ein Vorrat an Verpflegung, Wasser, Getränken sei anzulegen. Daß höchste Eile geboten sei, brauche er nicht eigens zu betonen. Bummelei wie hier beim Streichen reiche nicht aus, es gehe ums Überleben. Er selbst informiere gleich die drei anderen Leute im Vorderschiff. Der Kapitän bringe die Schiffspapiere in Sicherheit. Er schob mit einem Anflug von Pathos in der Stimme große Worte nach: er sei sicher, in der Stunde der Not sei auf seine Männer jederzeit Verlaß. Jacob wandte sich zum Gehen.
Wie der Zugang zur Toilette geregelt sei? rief Luc ihm nach. Da sei nicht viel zu regeln. Mit zwei Kübeln aus der Kombüse komme man ein paar Tage aus. Jeder wisse, man sei hier nicht auf einem Kreuzfahrtschiff. Ob für Lüftung gesorgt sei in dem Loch? Fiele die Klimaanlage aus, werde es da unten nicht auszuhalten sein. Jacob möge bedenken, acht Mann in einem abgeschlossenem Raum ohne Zugang zur Außenwelt! Schon zu fünft hätten sie die Hitze nur bei offener Tür ertragen.
“Halts Maul, Kerl, geh an die Arbeit”, brüllte Jacob Luc zornig an. Stellring fragte, was tun wenn die erwarteten Besucher erst herausgefunden hatten wie die Lüftung funktioniert? Er hatte in Erinnerung, die kleine Rohrleitung mündete in Deckenmitte und blies über das flache Ausgangsstück nur schwach gekühlte Außenluft in den Raum. Diese Leitung ließ sich unterbrechen. Außerdem nehme er an, die Lüftung werde nur solange arbeiten wie die Schiffsmaschine lief! Jacobs kahler Kopf hatte sich schnell rot verfärbt. Er antwortete nicht mehr und entfernte sich in Richtung Brücke.
Tran wiegte nicht ohne ein Stück Schadenfreude den mageren Oberkörper, ehe er ans Werk ging. Die Chefs auf diesem Schiff waren Widerworte der Besatzung nicht gewohnt. Jacob nahm den Auftritt der Studenten übel, ein Anschlag auf seine sonst nicht hinterfragte Befehlsgewalt. Andererseits waren die Anordnungen nicht falsch. Wie sonst sollte man einem ehrenvoll Angriff begegnen wenn nicht mit einer Andeutung von Widerstand ? Auch Tran hätte keinen besseren Rat gewußt.
Noel und Joe rannten so schnell sie konnten den langen Weg zur Kombüse los, er selbst machte sich im Laufschritt mit den Studenten auf die Suche nach Material für die Verschanzung. Auch den beiden Studenten war klar, der Besatzung blieb für Vorbereitungen nur wenig Zeit.
Hansen hatte zu Recht befürchtet, sein Versuch, die Leute auf ihren offenen Kähnen hinzuhalten bringe wenig ein. Sie hielten ihre Boote an Backbord gleichauf neben dem in Gleitfahrt langsamer gewordenen Schiff. Statt Ibrahim, dem Wortführer von vorhin führte das Steuer jetzt ein anderer großen Kerl, auffällig durch seine Sonnenbrille. Ibrahim rief ihm ein paar Worte in einer Sprache zu, die Hansen nicht verstand. Dieser Mann mit Sonnenbrille griff wieder zum Megaphon:.
“Unser Kommando kommt jetzt an Bord. Seien sie nicht beunruhigt, wenn Sie vernünftig sind, wird Ihnen nichts geschehen. Jeder Widerstand ist sinnlos und geht nur zu Ihren Lasten. Sie haben gesehen, daß wir nicht unbewaffnet sind. Ich warne in Ihrem eigenen Interesse vor unüberlegtem Handeln. Wieviel Mann Besatzung haben Sie auf Ihrem Schiff?” Hansen spürte einen Anflug von Erleichterung. Die Ansprache des Ganoven bewies Bewußtsein für den guten Ton. Ganz wüste Halsabschneider würden die ungebetenen Besucher nicht sein. Er verwies sich den Gedanken als Beschönigung und machte sich bewußt, der angekündigte Besuch war ein Piratenakt. Der Kapitän ließe sich auf diesen Ton halber Vertraulichkeit nicht ein:
“Ich protestiere. Wer sind Sie, was wollen Sie? Wir haben Ihren Leuten schon unsere Hilfe angeboten. Wieviele wir sind, geht Sie nicht das Geringste an.”
“Kapitän Hansen, begreifen Sie Ihre Lage und kooperieren Sie. Welche Hilfe gebraucht wird, bestimmen alleine wir. Namen und Dienstränge auf unserer Seite lassen wir einstweilen außen vor. Holen Sie sämtliche Leute sofort an Deck, uns gegenüber an die Reling. Das ist ein Befehl. Wer sich versteckt hält, wird das später schwer bereuen. Sie selbst bleiben dort stehen, wo Sie gerade sind. Kein Spaß mehr jetzt, wenn Sie sich fortbewegen, sind Sie ein toter Mann.” Zwei Mann auf dem Boot hielten wieder das Gewehr im Anschlag. Hansen schätzte den Rückweg hinter die nächstgelegene Deckung ab. Mit etwas Glück kam er aus dem Schußfeld ehe jemand von unten schoß. Sah dann ein, das Risiko war zu groß. Er blieb an seinem Platz, machte aber keine Anstalten, der Aufforderung zur Versammlung der Besatzung nachzukommen.
Unten zeichnete sich Bewegung ab. Ibrahim und der andere Begleiter des Anführers mit Megaphon wechselten aus dem größeren Boot zurück ins kleinere. Ibrahim übernahm dort das Steuer und navigierte es auf einen minimal kleinen Abstand zur Schiffsaußenwand. Noch warf die “Stolzenfels” mit dem verbliebenen Rest an Fahrt Schaum vorm Bug und seitlich je eine langgezogene Welle auf. Das Boot hielt seinen Standort im Wellental neben der Außenwand ohne Bewegung relativ zum Schiff. Ibrahim richtete sich auf und schleuderte den Enterhaken längs der Bordwand zur Reling hoch. An einem Querholm des Geländers fand der Haken Halt. Der Afrikaner überprüfte am Seil den festen Sitz. Sein Helfer befestigte das dünne Tau am Boot und zog eine Strickleiter zur Reling hoch. Hansen erschrak. Das Kunststück war scheinbar mühelos gelungen. Am Haken mußte eine Öse mit Zugschnur angebracht gewesen sein.
Er war der Kapitän, er trug die Verantwortung für die Besatzung und das Schiff. Dieses schnellen Vorstoß hatte er nicht erwartet. Wie die Attacke endete, hing jetzt vor allem Anderen von seinem Verhalten ab. Er mußte kühlen Kopf bewahren und stellte fest, statt sich als Herr der Situation zu zeigen, spukten ungeordnete Gedanken durch seinen Kopf. Womit hatte er kurz vor Ende seiner Laufbahn als Seemann diese Schmach verdient?
Alle Hoffnung ruhte auf dem Erfolg der Notmaßnahmen. Hatte die Zeit gereicht, war der Rückzugsraum vorbereitet? Unberechtigt war die Hoffnung nicht. Zumindest auf Jacob war Verlaß. Der Steuermann hatte wie abgesprochen inzwischen die Maschine auf Null gestellt. Der Kapitän durfte darauf vertrauen, auch Schiffskasse und die schriftlichen Unterlagen waren in Sicherheit gebracht. Er würde der letzte der Besatzung sein, der das Versteck aufsuchte, hatte sich vorbehalten, er nehme vorher die Hauptschlüssel für Antrieb und Steuerung an sich und bringe sie persönlich mit. Besser wäre vielleicht gewesen, er hätte Jacob auch den letzten Schritt bei der Stilllegung des Schiffs übertragen. Man hatte die Aufgaben in der Eile einmal so verteilt und noch war Hansen war zuversichtlich, daß ihm dieser letzte Schritt gelang. Eine Katastrophe wenn die Schlüssel den Piraten in die Hände fiele! Schon allein um die Schlüssel in Besitz zu nehmen, konnte er an diesem Platz nicht bleiben. Keine sinnlose Heldenpose den Gangstern gegenüber, der Reeder hatte es vorhin selbst gesagt! Längeres Warten bis zum Rückzug war nicht mehr erlaubt.
Noch hatte unten niemand die Strickleiter außenbords betreten. Sein nicht zahlender und zudem großmäuliger Passagier Stellring trat neben ihn. Hansen hatte die Bitte des Reeders zur Aufnahme der arroganten Burschen schon am ersten Tag der Fahrt verwünscht. Ohne irgendwelche private Beziehungen zur Familie der Eigentümer hätten sie das nicht geschafft. Stellring beobachtete den Ablauf unten auf den Booten nicht mit Empörung wie der Kapitän sondern dem Anschein nach kühl distanziert. Deutlicher konnte man seine Ignoranz nicht zeigen! Der Kapitän fuhr den Passagier wütend an:
“Die Rübe runter, in Deckung Mann, wie weit seid Ihr mit dem Versteck?” Stellring blieb an der Reling stehen.
“Die Leute schießen doch wie gesehen nur auf das Schiff. Warum sollten sie sinnlos Blut vergießen? Wissen anscheinend, daß wir unbewaffnet sind. Unser Versteck? Sein Sie beruhigt, alles was Tran uns an Material genannt hat, ist jetzt dort macht den Raum aber nicht wohnlicher.”
“Hat Jacob die Unterlagen weggeschafft?”
“Ist noch dabei. Ich gebe nochmal zu bedenken, mit dem was Noel aus der Kombüse geholt hat, halten wir eine Belagerung nicht lange durch. Ohne Kühlung ist das meiste nach einer Nacht verdorben. Ich mache mir Sorgen um eine anständige Verpflegung, die Hygiene betreffend gehen wir mit offenen Augen auf einen Notstand zu.”
“Halts Maul Stellring und verschwinde. Wenn Du dich beeilst, bist du in Deckung, ehe einer der Gangster dich erwischt.” Stellring wandte sich ohne Eile in Richtung Zugang zum Mannschaftsraum. Gleich darauf feuerte jemand unten zwei Schüsse ab. Einer verfehlte sein Ziel nur knapp und durchschlug das schwache Verkleidungsblech, das hier oben innen von außen trennte, der andere strich ein Stück weit neben Stellrings Rücken über das Schiff. Stellring wurde blass. Er kam Hansens Empfehlung schnell nach und duckte sich erschreckt. Von der Rückseite der Brücke aus, unsichtbar für die Leute auf den Booten hinter der Tür versteckt, fragte er nach, wie er sich nützlich machen könne. Ein unfreundliches “Verschwinde endlich” kam zurück. Hansen schob nach: “Sofort jetzt in unseren Rückzugsraum! Gib den anderen Bescheid, ich komme gleich anschließend nach.”
Ibrahim hatte noch vor den Schüssen ein paar Worte mit dem zweiten Anführer gewechselt, der allein im größeren Boot zurückgeblieben war. Noch während Hansen mit Stellring stritt, griff er in die Strickleiter und stieg mit schneller Bewegung die Sprossen hoch. Mit einem Schwung, unbehelligt von Hansen, war die Reling überwunden. Erlegte auf Hansen an und forderte die anderen im Boot zum Folgen auf. Das Zwischenspiel mit seinem ungeliebten Passagier hatte Hansen abgelenkt. Wenn er jetzt weglief, bot er dem Piraten ein leichtes Ziel. Der richtige Augenblick für den Rückzug war verpaßt. Zwei von Ibrahims Begleitern enterten mit umgehängter Waffe. Ibrahim ging auf Hansen zu und sprach ihn an:
“Ihre Leute haben sich versteckt. Wir hatten Sie gewarnt. Sie machen uns unnötig Schwierigkeiten, Gehen Sie voran.” Wer mache hier wem Schwierigkeiten?, gab Hansen zurück. Er habe sich zur Überlassung von Proviant bereit erklärt. Noch während er sprach, war ihm der Fehler bewußt geworden. Sein Leichtsinn war fast unbegreiflich gewesen, das Versäumnis ließ sich kaum noch korrigieren. Die Chance zum Sicherstellen der Schlüssel war verpaßt. Längst vorher müßten die Hauptschlüssel von der Brücke unten im Versteck gewesen sein. Eine kleine Hoffnung blieb: mit mehr Umsicht als er selbst bewiesen hatte, hatte Jacob die Gefahr erkannt und an seiner statt gehandelt. Wenn nicht, dann hatten die Piraten grünes Licht für die Weiterfahrt nach Belieben mit seinem Schiff.
Hansen und Ibrahim erreichten den Steuerstand. Drei der vier Schlüssel waren auf Null gestellt aber alle vier steckten an ihrem Platz. Das Regal mit der Betriebsanweisung, den Seekarten und Unterlagen zur Navigation war leergeräumt. Die kleine Hilfsmaschine für Lüftung und Beleuchtung lief. Die Afrikaner sahen sich interessiert und ohne Eile in der Kommandostelle des Schiffes um. Hansen erkannte und nutzte die Gelegenheit. Hinter dem Zugang mittschiffs führte eine kleine Treppe mit drei Stufen zu einem schmalen Gang. Nach ein paar Metern im rechten Winkel die Verzweigung nach Steuerbord und Backbord. Jeweils am Ende führte steile Treppen zu den Unterdecks. Er genoß hier Heimvorteil. Freies Schußfeld bot sich einem Verfolger nicht.
Die enge Wendeltreppen auf Stahlgestell waren als Notbehelf gedacht. Gewöhnlich zogen Jacob und er den Aufzug zum Erreichen der Brücke vor. Vielleicht die letzte Gelegenheit, den Banditen zu entkommen. Hansen sprang die zwei Schritte zur Tür und warf sie hinter sich ins Schloß. Eine Verriegelung solcher Zugänge besaß heute jedes moderne Schiff, seines nicht. Niemand hatte beim Bau der Stolzenfels vor dreißig Jahren die Sicherung gegen unbefugtes Eindringen als nötig angesehen.
Ibrahim wendete einen Augenblick zu spät den Blick von der Steueranlage ab, dann befahl er den Begleiter durch eine Kopfbewegung, man setzte dem alten Mann unverzüglich nach. Die Enge der Treppen und Gänge machten es den Verfolgern schwer. Hansen glich fehlendes Tempo durch Kenntnis der Wegeführung aus, seine Flucht gelang. Außer Atem langte er in der Mannschaftsmesse an. Die komplette Besatzung der “Stolzenfels” hatte sich versammelt. Keiner seiner Leute konnte wissen, wie knapp er den Verfolgern entkommen war.
Die Mannschaft einschließlich Stellring und Luc begrüßte ihren Kapitän. Hinter Hansen schloß sich ein solides Tor aus Stahl. Er hatte einen wichtigen Umstand richtig in Erinnerung gehabt: Wenn es nicht wie jetzt nach seinem Eintritt blockiert wurde, schwangen die Flügel nach innen auf. Noel hatte sich als Zimmermann bewährt: beide Flügel waren mit verkeilten Planken abgestützt. Solide Arbeit, hatte Jacob nach dem Eintreten gesagt.
Man mußte nicht lange warten, bis außerhalb von Ibrahims Leuten zu hören war. Schritte näherten sich, hielten aber nicht an. Ihr Tor war nicht das einzige, hinter der ein Versteck in Frage kam. Die “Stolzenfels” war ein mittelgroßes Schiff, für Stückguttransport entworfen ehe die Ära der Container angebrochen war. Zu ihren besten Zeiten wurde nicht nur Laderaum für Massengüter sondern auch einzelne Zellen für Fracht von höherem Wert gechartert. Solche Zellen wurden kaum noch nachgefragt. Sie waren zuletzt meistens leer geblieben, so auch auf dieser Fahrt.
Die Stimmung bei Hansens Eintritt war bedrückt. Durfte er anderes erwarten? Solange draußen Stimmen und Schritte zu hören waren, sprach keiner ein lautes Wort. Der Kapitän blickte sich um und sah außer seinen verzagten Leuten in einer Ecke auf einem Tisch Proviant gestapelt, daneben entlang der Wand aufgereiht sechs Eimer randvoll gefüllt mit Wasser. Auf dem Regal, als Ablage für Gläser und Eßgeschir, Öljacken, Handschuhe und Helme seiner Mannschaft vorgesehen, erkannte er die Ordner mit den Unterlagen. Unter normalen Bedingungen wurden sie im Safe in in der Kapitänskajüte aufbewahrt. Vom Normalfall war man jetzt weit entfernt. Der große Tisch hatte immer die Mitte des Raumes eingenommen. Seine Leute hatten ihn quer vor die Rückwand des Raumes gelegt und mit Balken zur Abstützung des Tors verkeilt. Tran und sein kleines Kommando hatten sich nicht geschont. Seitlich anschließend war kleineres Gerät und Werkzeug auf dem Boden aufgestapelt, immer mitgeführt für kleinere Reparaturen auf seinem Schiff. Soweit er sich entsinnen konnte, wurde das Zeug fast nie gebraucht, jedenfalls nicht in seiner Gegenwart. Er hatte sich um solche Kleinigkeiten nie geschert. Drei Feldbetten standen bereit, dazu ein Drehsessel für jede Person im Raum. Ein wüster Verhau trotz aller Mühe, die sich die Leute gegeben hatten. Angenehm oder auch nur für einen längeren Aufenthalt zumutbar würde der Raum für keinen der Bewohner sein. Als draußen Stille eingetreten war, meldete sich Jacob:
“Das war knapp Kapitän. Was in der kurzen Zeit möglich war, haben wir vorbereitet. Hoffe, das Telephon funktioniert auch von hier unten aus.” Wenn Leute der Mannschaft um sie waren, sagte er “Kapitän”, sonst waren er und Jacob unter sich immer per “Du”. Hansen schnaufte mit einem bitterem Gefühl. Die anderen hatten ihre Schuldigkeit getan, aber ihr Kapitän hatte versagt. Er hatte den Piraten praktisch freie Fahrt verschafft. Die Hilfe eines Schutzschiffes der “Atalanta” war nicht in Sicht. Der Zugang zu Antrieb und Steuerung war kampflos preisgegeben. Er nahm sich vor, er würde Jacob darüber später ins Vertrauen ziehen.
Hansen hing seinen trüben Gedanken nach und antwortete nicht gleich. Stellring wechselte das Thema.
“Sie haben den Überfall doch schon gemeldet. Sagen Sie bitte, Kapitän, wann kommt die Uno uns mit einem Schiff zu Hilfe?“ Die Frage war legitim. Hansen hätte auch sie lieber übergangen aber auch Jacob sah ihn fragend an. Er sah keinen Grund zur Beschönigung der Lage. Eine Frist von zwanzig Stunden habe man ihm genannt.
“So lange reichen die Vorräte leicht aus.” Luc machte sich weiter hartnäckig Gedanken um die Entsorgung und ließ eine Bemerkung fallen, die allenfalls Hansen zugestanden hätte:
“Eines gleich vorab meine Herren: ich bitte jeden bei der Benutzung dieses Kübels um äußerste Zurückhaltung, wir haben hier unten über vierzig Grad.” Jacob spürte die Versuchung zu einer Tätlichkeit. Seine Selbstbeherrschung behielt die Oberhand. Mehr als eine grobe Zurechtweisung fiel ihm nicht ein: “Halt endlich die Schnauze Mann”. Der Verweis allein erschien ihm dann gleich danach zu schwach. Zu Stellring gewandt schob er mit erhobener Stimme nach: “Noch so ein Spruch, von Deinem Freund, und er fängt sich eine Tracht Prügel ein.” Er forderte mit erhobener Faust zur Ruhe auf. Luc gab sich den Anschein, die Bemerkung überhört zu haben. Die Freunde grinsten dem Steuermann herausfordernd ins Gesicht. Luc habe nichts Unrechtes gesagt, gab Stellring Hansen halblaut zurück und wandte sich dann mit gedämpfter Stimme an seinen Freund: Das reiche als Revanche aufs Erste aus. Bei Hitze von über vierzig Grad zusätzliche Spannung anzuheizen habe keinen Sinn.
Das Schiff werde auch ohne Schlüssel und Betriebsanleitung flott gemacht, flüstere Tran den beiden zu. Er habe das aus dem Gespräch von Seeleuten herausgehört. Die Piraten seien nicht nur Wüstenbewohner aus dem Hinterland. Man treffe studierte Leute in ihren Reihen an. Wer das Kurzschließen von Pkw beherrsche, der bekäme mit etwas Geduld auch den Motor und die Steuerung von Schiffen in den Griff. Stellring schenkte ihm keinen Glauben. “Bei ganz alten Schiffen vielleicht, aber doch nicht bei der “Stolzenfels”.
Während die Besatzung sich in die unbequeme Lage fand, betrat auch der Anführer des großen Kaperboots die Brücke. Er hatte Megaphon und Gewehr zurückgelassen. Ibrahim sprach ihn respektvoll mit dem Namen Achmad an. Seinem Auftreten nach geurteilt war er, nicht Ibrahim der erste Mann der laufenden Aktion. Ibrahim berichtete ihm was vorangegangen war. Das Schiff sei seinem Eindruck nach fahrbereit in ihrer Hand. Die Besatzung halte sich noch versteckt. Bisher habe die Suche nach ihr keinen Erfolg gehabt
Die Anzahl der Seeleute an Bord der “Stolzenfels” war Achmad und Ibrahim bekannt, auch daß die Besatzung sehr wahrscheinlich unbewaffnet war. Die Organisation der Somalier verfügte über zuverlässige Informanten in Deira und Daressalam.
Achmad übte am Ablauf wohlwollende Kritik. Später vertraute er Stellring an, die Kaperung war als Ibrahims Gesellenstück gedacht gewesen. Noch habe man die Besatzung nicht in seiner Gewalt, die Mission sei also nicht optimal verlaufen. Wenn Ibrahim sich aber nicht täusche und das Schiff war fahrbereit, dann wog dieser Vorteil den Schönheitsfehler bei Weitem auf.
Achmad ging seit einigen Jahren diesem Gewerbe nach. Daß es ein Kapitän nach Übernahme seines Schiffes dem unwillkommen Gast so leicht machte, kam selten vor. Es hatte sich längst herumgesprochen, ein Reeder erwartete von der Besatzung zumindest, daß sein Schiff Angreifern nicht fahrtüchtig in die Hände fiel. Wenn die Steuerung für Antrieb und Ruder noch intakt waren, ersparte das die Manipulation an einem Gewirr von Kabeln, von denen einzelne kurzzuschließen waren. Er wußte, die richtigen herauszufinden, fiel nie leicht. Die Schlüssel und Papiere samt den üblichen Codes wurden vor einer Kaperung immer in ein Versteck gebracht. Die Arbeit, ein besetztes Schiff gegen den Willen der Besatzung flott zu machen, zog sich in schwierigen Fällen über Stunden hin. Achmad galt seiner Organisation als Experte für heikle Operationen am Steuerpult. Dennoch verlor auch er viel Zeit ehe ein vorsätzlich blockiertes Schiff wieder Fahrt aufnahm. Achmad Rasul Dalmar ein studierter Mann. Er vermied Gewalt wo immer möglich. Nur wenn er zu langsam oder überhaupt nicht vorangekommen war, hatte er physischen Zwang auf eine Besatzung angewendet. Wenn Ibrahim sich nicht täuschte, blieb ihm jede Art von Gewaltanwendung bei der laufenden Aktion erspart. Das Schiff würde unverzüglich weiterlaufen, in Richtung auf einen sicheren Liegeplatz.
Achmad erteilte Anordnungen über den Fortgang der Aktion. Er übernehme das Kommando auf der Brücke selbst. Ibrahim breche zusammen mit zwei Mann sofort zur Suche auf. Es könne nicht schwierig sein, das Versteck zu finden. Gewaltanwendung nur bei bewaffneter Gegenwehr! Die Leute schmorten wahrscheinlich ohnehin irgendwo unten im eigenen Saft. Sollten sie sich eingeschlossen haben, hungere man sie aus, man habe genügend Zeit. Je später sie sich ergeben würden, umso leichter wären sie dann im Zustand der Entkräftung festgesetzt. Die Boote würden mit je zwei Mann besetzt. Sie hätten sich in der Kiellinie des Schiffes zu halten bis zum Ziel. Wann abgelöst werde, entscheide er.
Die Aufgaben waren verteilt, er war nach kurzer Zeit allein. Stellte fest, das Schiff machte inzwischen kaum noch Fahrt. Der mitgebrachte Schwung war nach aufgezehrt. Achmad schenkte Tee aus Hansens dampfender Kanne in eine Tasse aus dem halb leergeräumten Seitenschrank. Er durchsuchte den zweiten großen Schrank vergeblich nach Unterlagen. Seine Gastgeber hatten anscheinend Schiffspapiere und Unterlagen über die Ladung in ein Versteck gebracht oder vernichtet.
Achmad zog eine vorläufige Bilanz: Die Aktion war unter Ibrahims Führung trotz dieses einen Mangels gut gelaufen. Den Schiffen der „Atalanta“ Schutztruppe blieb zum Eingreifen keine Chance. Sie standen genügend weit ab, hatte die Zentrale ihm erst vor zwei Stunden mitgeteilt. Er schätzte, die “Stolzenfels” brauchte nicht länger als zwanzig Stunden bis zum neuen Ziel. Für die anstehenden Gespräche mit der Reederei wurde eine genaue Übersicht über die Schiffsladung gebraucht. Die Organisation war darüber nur grob informiert. Für die Verhandlung über die Höhe der Forderung reichten Schätzungen nicht aus. Seinen Leute blieb für diese Aufgabe genügend Zeit.
Das Verhalten der Besatzung gab zur Sorge nur wenig Anlaß. Er und seine Leute kannten dieses Spiel: Spätestens am zweiten Tag trieben Hitze und Gestank freiwillig Eingeschlossene aus dem Versteck. Er lachte in sich hinein. An das weniger wichtige gedacht aber das Nächstliegende, die Blockade des Schiffes übersehen! Schiffe dieser Größe besaßen immer ein kleines Büro für die Verbindungen zur Außenwelt und schriftliche Unterlagen. Ohne umfangreichen Schriftkram kam keine Schiffsführung mehr aus. Man würde diesen Raum leicht ausfindig machen, ebenso die Kapitänskajüte. Wenn er weiterhin Glück hatte, fanden sich dort Unterlagen mit Angaben zur Fracht. Ihm fiel ein, er schuldete seiner Zentrale jetzt eine Nachricht über bisherigen Verlauf und aktuellen Stand seiner Mission.
Achmad Rasul Dalmar überprüfte die Instrumente und Bordanzeigen. Er fand Ibrahims Angabe bestätigt, der Weiterfahrt stand nichts im Weg. Motor und Steuerung gehorchten ihrem neuen Herrn. Während das Schiff Fahrt aufnahm, griff er zum Telephon und rief seine Zentrale in Mogadischu an.
Hansen hatte sich gefangen. Er musterte die Mannschaftsmesse beim zweiten mal genauer als vorhin aber ebenso mürrisch wie beim Eintritt kurz zuvor. Eine jämmerliche Zuflucht trotz aller Mühe, die seine Leute sich gegeben hatten! Lange würden sie hier nicht durchhalten, soviel war zumindest ihm und Jacob klar, den anderen schuldete er als erster Mann an Bord den Eindruck von Zuversicht. Wahrscheinlich setzten sie alle einige Hoffnung auf Entsatz durch die “Atalanta”. Tran stellte beflissen zwei Drehstühle vor ihm auf. Der Kapitän zog einen davon so weit wie möglich fort von der Ecke, in der ein Kübel stand.
Joe verwendete dieses große Gefäß immer kurzzeitig zur Lagerung von Küchenabfall. Er arbeitete auf der “Stolzenfels” hauptamtlich als Koch. Vor dem überstürzten Ortswechsel aus der Kombüse hierher hatte er den Bottich noch rasch geleert. Hatte noch weiter voraus gedacht, ein kleines Brett war oben quergelegt und das kleinere der beiden Regale hatte er als Sichtblende vor den behelfsmäßigen Abort gerückt.
Hansen nestelte sein Satellitentelephon heraus. Bis auf den ersten Anruf vorhin bei der Leitstelle der “Atalanta”hatte er es seit dem Auslaufen aus Deira nicht benutzt. Als er die ersten Ziffern eingab, meldete Stellring sich zu Wort:
“Sparen sie sich die Mühe, Kapitän, das Ding nützt Ihnen hier unten nichts.” Luc hieb in die gleiche Kerbe:
“Sie können den Anruf ebenso gut per Megaphon versuchen. Mindestens drei Decks liegen über diesem Raum. Ich nehme an, Ihr Schiff besteht nicht nur aus Holz sondern schon größtenteils aus Stahl. Die Sendeleistung Ihres Telephons reicht da nicht aus. Die Signale erreichen den Satelliten nicht.” Wenn die schwachen Beleuchtung nicht täuschte, lief Hansens Kopf rot an.
“Beachten Sie die Sprüche dieser Schnösel nicht, Herr Kapitän, sagte Jacob. Die Aussicht auf eine Verbindung ist nicht gut, aber den Versuch wert allemal.” Hansen hatte kurz gezögert dann tippte er verdrossen weiter auf dem Ziffernfeld. Er hielt den Hörer eine Weile ans Ohr und steckte das Gerät dann wortlos wieder ein. Stille, dann draußen erneut laute Rufe. Ibrahim hämmerte an jedes einzelne Tor im Gang. Nicht nur das Versteck, alle Räume waren gut verschlossen wie sich das auf seinem ordentlich geführten Schiff gehörte, sagte sich der Kapitän. Die Schlüssel hatte Jacob aus der Kajüte in Sicherheit gebracht. Es würde lange dauern bis die zusätzlich versperrte Tür als Zugang zum Versteck erkannt war. Dann schützte die Besatzung nur noch ihre Barrikade. Ibrahim forderte nur auf Verdacht, hier liege vielleicht das Versteck, aufs Geratewohl zur Übergabe auf. Er wiederholte seine Botschaft von vorhin:
“Wenn Sie herauskommen, passiert Ihnen nichts. Unser Kommando garantiert für Ihre Sicherheit.” Die Rufe durchdrangen nur gedämpft die schwere Tür. Vor jedem Raum der als Versteck infrage kam, rief die Stimme zur Übergabe auf. Die Rufe wurden leiser, bald trat wieder Stille ein. Kein Geräusch mehr als das gedämpft brummende Ton des Aggregats zur Stromerzeugung. Stellring wurde bewußt, seit sie den Raum vor einer Viertelstunde aufgesucht hatten, war die Temperatur gestiegen. Nicht trockene Hitze, die sich aus der Erfahrung der letzten Wochen ganz gut erträglich war, sondern schwül heiß hing stickige Luft um ihn und die Gefährten. Seit dem Auslaufen hatte dieses Tor offen gestanden, gleich ob jemand im Raum sich aufgehalten hatte oder nicht. Der Flur und die Treppen nach oben zur Außenwelt hatten mehr Ventilation bewirkt als die Kühlanlage, die ohnehin nur gedrosselt lief. Verderbliche Waren hatte die “Stolzenfels” bei dieser Fahrt anscheinend nicht an Bord. Keiner konnte wissen wann der Anstieg dieser Hitze zum Abschluß kam. Hansen und Jacobs machte die Temperatur nicht weniger zu schaffen, sie hatten die Ecke verlassen und suchten jetzt Kühlung unter dem Auslaß an der Decke.
Stellring, Luc und die Mädchen, die vorab den Heimflug angetreten hatten, waren der Erfahrung hoher Temperaturen nicht aus dem Weg gegangen. Ein paar Wochen lang waren sie zu viert in Zentralafrika unterwegs gewesen, hatten sich leidlich an die feuchte Hitze der Küstenregion gewöhnt. Im Vergleich damit war dies hier schlimm. Jeder wußte, die Hitze bei einem Saunagang schadete dem Körper nicht, aber auch ein stabiler Kreislauf hielt sie unbegrenzte Zeit nicht aus.
“Wie lange halten wir das durch Kapitän?” Hansen nippte an einem Becher Wasser und wischte sich die Stirn. Er wich der Frage aus:
“Kein Grund zum Jammern, in den Tropen ist nun mal Wärme angesagt.” Der Philipino Joe pflichtete seinem Chef bei: er und seine Landsleute hätten kein Problem, aber er hoffe, es werde nicht noch wärmer. Jacob gab eine Empfehlung an alle ab:
“Keine unnötige Bewegung, maßvoll in kleiner Menge trinken. Schwitzen stabilisiert den Kreislauf. Weiter ruhig verhalten, wer kann, versucht zu schlafen.” Er wies auf Tran und Joel, die sich auf ihren Sesseln eingerichtet hatten, die Augen halb geschlossen. Entweder sie verstanden sich auf vollständig regungslose Entspannung oder sie schliefen schon.
Stellring bedrängte den Steuermann nach zusätzlicher Information über die Lage. Man habe ein Recht darauf, schließlich sitze man gemeinsam in der Patsche. Er fordere zum zweiten mal Aufklärung für alle Mitglieder der Besatzung. Ob der “Atalanta” die Position der “Stolzenfels” bekannt sei? Die Aussage von vorhin habe sich für ihn nicht überzeugend angehört. Ob die vierundzwanzig Stunden bis zur Hilfe die ganze Wahrheit sei? Jacobs trat nicht mehr so arrogant auf wie gewohnt. Er deutete ungefragt auf den Kapitän. Selbstverständlich sei die genaue Position bekannt. Das Schiff liege hier einstweilen fest. Sämtliche für die Steuerung nötigen Codes und Unterlagen, habe er in Sicherheit gebracht. Die Mühe der Piraten werde vergeblich gewesen sein.
Stellring beharrte: Wann also genau sei Hilfe zu erwarten? Hansen gab sich die Blöße einer Korrektur: nach Ablauf von vierundzwanzig bis dreißig Stunden. Solange halte man hier unten spielend aus. Luc widersprach. Von spielen könne keine Rede sein. Erstens sei man bei dieser Hitze in ein paar Stunden krepiert, zweitens müsse er rechtzeitig zurück in sein Büro nach Brüssel. Beides war übertrieben. Die Wärme setzte ihm weniger zu als Hansen und dem Steuermann und unersetzlich war er für seine Firma sicherlich noch nicht.
Luc schlage vor, man lasse sich zum Schein auf das Spiel der Piraten ein. Ganz übel hätten die Burschen sich vorhin nicht aufgeführt mit Ausnahme der Schüsse in den Schiffskamin. Mindestens der Anführer spreche Englisch. Man werde verhandeln und Zeit gewinnen. Spätestens beim Eintreffen der Hilfe rückten die Burschen rechtzeitig ohne Beute wieder ab.
Der Vorschlag kam schlecht bei Hansen an. Der Kapitän, obwohl durch Hitzewirkung matt, zeigte sich aufgebracht. Was Luc meine, mit wem was zu verhandeln sei? Sein nicht zahlender Passagier halte sich mit Ratschlägen gefälligst zurück, sie ständen den unverschämten Ignoranten auf diesem Schiff nicht zu. Den Verbrechern an Bord sei grundsätzlich kein Wort zu glauben. Piraten in diesen Gewässern schreckten bekanntlich selbst vor grausamer Folterung nicht zurück. Man müsse gewärtig sein, nach der Übergabe werde ihm selbst oder Jacob den Kurswechsel zur Küste abgepreßt, vielleicht anschließend gleich auf dem Schiff erschossen oder man werde mit etwas mehr Glück auf hoher See in kleinen Booten ausgesetzt. Luc hielt dagegen, diese Befürchtung entspreche nicht seinem Kenntnisstand. Piraten setzten auf Lösegeld. Sie seien sich bewußt, keine Reederei der Welt würde nach Mord an einer Besatzung zahlen. Stellring riet zur Güte:
“Warten wir ein paar Stunden hier unten ab, damit keiner von Feigheit sprechen kann und geben wir dann klein bei. Die Anderen sitzen am langen Hebel. Riskieren sie nicht unnötig Ihre und unsere Gesundheit, Kapitän. Keiner zahlt Bares im Gegenzug für Heroismus am falschen Platz, jedenfalls nicht an Dienstgrade unterhalb vom Steuermann. Ihr Reeder hat mit Sicherheit eine Versicherung abgeschlossen.” Wieder nicht mehr als eine abfällig abwehrende Bewegung mit der rechten Hand! Stellring stellte seinen Becher zur Seite und setzte nach. Er nehme an, Schiffe auf dieser Route führten Instruktionen mit, wie beim Angriff von Piraten zu verfahren sei. Man erlebe also den Ernstfall für ein vorher schon durchdachtes Szenario. Wie sähen die Empfehlungen aus für den vorher theoretisch durchgespielten Fall? Die Frage richtete sich nicht an den Steuermann, die Frage galt dem Kapitän. Jacob war das nicht unwillkommen. Auch Hansen würde das Selbstverständliche bewußt sein: die Anweisung betonte die Priorität für Schutz von Menschenleben. Ihm selbst war ebenso gut bewußt, man kam aus Gründen der Selbstachtung um die Wahrung einer Schamfrist nicht umhin.
Hansen war klar, er selbst oder sein Steuermann würde nach nicht langer Zeit als erste kollabieren. Alle anderen waren gesundheitlich fit und jünger. Er hatte Grund zur Annahme, wahrscheinlich war derjenige, der bald zusammenbrach, er selbst. Bald danach würde die Zeit für die Übergabe gekommen sein. Dann würde sein Versagen bei der Flucht von der Brücke den anderen bekannt. Als Folge seiner mangelnden Umsicht war die Steuerung des Schiffes funktionsfähig in fremde Hand gefallen.
“Wenn Ihr es genau wissen wollt, die Vorschrift empfiehlt, die Brüder zu verscheuchen.” Luc lachte. Stellring spürte die Erschöpfung eines alten Mannes heraus und zugleich das Ressentiment gegen die Jüngeren. Jedenfalls nahm der Kapitän sie beide nicht für voll. Die sinnlose Streiterei von vorgestern war vor allem Jacobs Schuld. Sie hatten aus guten Gründen die Arbeit an der Seite mit der prallen Sonnenhitze abgelehnt. Er hatte die Weigerung starrsinnig und halb im Suff als Meuterei gesehen und den Kapitän gegen sie beide aufgehetzt. Der Student Stellring wog die Perspektiven ab: länger als eineinhalb Tage in diesem stickigen Raum an der Grenze zum Kreislaufkollaps gegen die Aussicht auf Gefangenschaft in der Gewalt von Kriminellen. Gefangen vermutlich auch später noch an Land in unwirtlicher Umgebung aber immerhin in frischer Luft. Lösegeld würde gefordert werden, würde fließen und man kam nach ein paar Wochen wieder frei.
“Wann kriegen unsere Freunde draußen die Steuerung auch gegen Ihren Willen in den Griff?” Jacob der Steuermann gab Antwort:
“Das geht Euch einen Dreck an. Wenn überhaupt, dann dauerte das jedenfalls länger als bis zur Ankunft der “Atalanta”. Mischt Ihr Burschen Euch da nicht weiter ein.”
“Zur Einmischung haben wir ebenso viel Grund wie Sie. Wie weit ist es bis zur Küste? Wenn das Schiff diesen Leuten vielleicht doch noch gehorcht, dann dauert es auch länger bis die “Atalanta” uns zu Hilfe kommen kann.” Kein Kommentar mehr! Kapitän und Steuermann kehrten in ihre Ecke zurück und griffen zu den Bechern mit Tee von ihrem kleinen Tisch. Alle wurden mit dem Getränk versorgt. Wenn man langsam in ganz kleinen Schlucken möglichst ohne Unterbrechung trank, wußte Stellring aus Erfahrung, dann hielt der Kreislauf auch unter dieser Belastung lange aus, vorausgesetzt, die Temperatur stieg nicht mehr weiter an. Ein großzügiger Vorrat an Keksen stand bereit. Stellring dachte an Erzählungen seiner Großeltern vom Krieg. Die Großmutter hatte im Schutzkeller, seine Mutter in einen Weidenkorb gepackt, in ständiger in Angst vor Bomben, nächtelang ausgeharrt. Alles war gut gegangen, sie hatten beide überlebt. Gab es zur Lage hier etwa Ähnlichkeit? Als ebenso bedrohlich schätzte er sie nicht ein. Eine Bombe zum Aufsprengen der Tür gehörte mit Sicherheit nicht zur Ausrüstung der Piraten, er fürchtete auch scharfe Schüsse nicht. Man hatte ihnen vorhin für alle hörbar Schonung zugesagt. Jederzeit konnten sie der freiwilligen Einschließung in diesem Loch durch Kapitulation ein Ende machen.
Der Steuermann versuchte sich abzulenken und schrieb von Hand in eine Kladde. Vielleicht faßte er Protokolle ab. Hansen beugte sich zu ihm hinüber und sprach leise auf ihn ein. Luc Haanen bot sich das Bild einer Idylle. Er legte seine Unversöhnlichkeit vorübergehend ab. Herrschten nicht Enge und Hitze in dem zu kleinen Raum und begegnete die Schiffsführung der Mannschaft mit mehr Respekt, seine Erwartung an diese Schiffstour hätte sich erfüllt. Noch am ersten Tag nach dem Anheuern hatte er sich das Leben an Bord so ähnlich vorgestellt.
Die Lichtmaschine der MS „Stolzenfels” wurde bei Stillstand der Hauptmaschine von einem kleinen Motor angetrieben. Ihr Strom speiste die Deckenlampe. Vorhin, rechtzeitig vor der oberflächlichen Suche im Gang, hatte Tran sie hastig ausgeknipst. Sie waren auch dann nicht zum Ausharren in Finsternis verdammt, falls die Piraten ihnen die Stromversorgung kappten. Noel hatte für diesen Fall mit Taschenlampen vorgesorgt. Wenn jeweils nur eine in Betrieb war, reichte der Vorrat für ein paar Tage aus.
Eben noch hatte Stellring den Philipinos Komplimente für die solide Abstützung des Zugangstors gemacht, da setzte das dumpfe Hämmern der großen Maschine wieder ein. Noch klang es leiser als wenn das Schiff in Bewegung war. Nur Leerlauf, dachte er aber das hieß, die Entführer hatten den Motor mit eigenen Mitteln wieder in Betrieb genommen. Er sah Hansen mißtrauisch an:
“Sehr lange haben unsere Freunde oben nicht gebraucht. Wenn die Maschine jetzt schon läuft, setzen sie wahrscheinlich auch die Steuerung in Gang.” Es schien, der Kapitän wich aus oder er hatte die Frage wegen des Lärms nicht verstanden. Auch Jacob schien alarmiert:
“Wie ist das möglich, Herr Kapitän?” Hansen kämpfte mit seinen Worten gegen den Lärm der Maschine an:
“Unglaublich. Vielleicht haben sie Handbücher gängiger Steuerungen dabei. Oder sie halten über Telephon Kontakt mit Komplizen, die mit diesen Systemen sehr vertraut sind.” Er wischte sich die Stirn. Der Schiffsdiesel änderte den Klang. Die Vibration war nicht länger als eine halbe Stunde ausgesetzt gewesen. Jetzt erfaßten sie wieder das ganze Schiff. Das lästige Geräusch der letzten Tage und Nächte war zurückgekehrt, hier unten noch stärker als in den Oberdecks und in Brückennähe. Die Mannschaften hatten sich in ihrem Raum auch wegen des Lärms nie länger als nötig aufgehalten.
Leerlauf, noch brachte die Maschine keine Leistung für den Fahrbetrieb. Der Maschinist hatte Luc und Gerd am ersten Tag, noch ehe der Ärger begonnen hatte, durch das Schiff geführt. Danach war der Mann krank geworden und hatte die Fahrt abgesagt. Der Antriebsdiesel stand gekapselt in einem eigenen Raum auf dem zweiten der fünf Decks. Sie hatten vor dem Eintritt in den Maschinenraum Ohrschützer angelegt. Die Schutzkappen wären jetzt auch im Versteck von Nutzen, aber um sie heranzuschaffen hatte die Zeit für Tran und seine Leute nicht gereicht.
Der gedämpfte Klang hellte sich auf. Die Entführer fuhren die Maschine hoch. Daneben ein anderes, leiseres Geräusch, das nicht bis zur Brücke reichte: eine schwache Unwucht der Schraubenachse und das Rauschen der Heckwelle hinter den Propellern. Das gleiche Gefühl wie vorher schon wenn er sich hier kurz aufgehalten hatte, stellte sich wieder ein: Stellring glaubte auf der Haut zu spüren wie die Maschine wilde Kräfte auf die Schrauben übertrug. Den Eingeschlossenen nicht sichtbar, warf die “Stolzenfels” jetzt wie vor der Kaperung eine schäumende Bugwelle auf. Kein Kunststück, den neuen Kurs zu erraten. Luc Haanen rief mit gespielter Munterkeit:
“Schiff ahoj, jetzt heißt es zurück nach Afrika! Kapitän, Sie haben unsere Entführer unterschätzt. Die neue Brückenwache fährt das Schiff auch ohne Schlüssel und Zugangscode. Die reguläre Besatzung überläßt man hinter ihrer Verschanzung bis zum Sankt Nimmerleinstag sich selbst.”
Das Schiff setzte mit neuem Kurs die Reise fort. Die Besatzung saß in der Falle. Gerd Stellring rief sich die letzten Tage in Erinnerung. Ehe er und Luc an Bord gegangen waren, hatten sie die beiden Mädchen, Sarina und Annette zum Flughafen Beira begleitet. Die Beiden mußten inzwischen schon zurück in Europa sein. Atmeten frischere Luft und verspürten wieder die Kühle der temperierten Zone nach der wochenlangen Hitzefahrt durch Afrika. Seit der Trennung am Flugsteig in Beira wurde Stellring Sarinas Fehlen jeden Tag schmerzlicher bewußt. Hätte der Kapitän ihm das Satellitentelephon nicht abgeschlagen, wenigstens ihre Stimme hätte er dann und wann im Ohr. Der Steuermann der “Stolzenfels” hatte sich auf seine Anweisungen berufen und die Überlassung für Privatgespräche abgelehnt.
Der Kapitän war an der früh eingetretenen Verstimmung schuld. Hansen war entweder aus unbekanntem Grund ein Menschenfeind, zerfallen mit sich und der Welt, oder er kam mit der Hitze nicht zurecht. Wahrscheinlich hatte er sich vom Einsatz seiner nicht zahlender Passagiere mehr versprochen. Jacob hatte ihm und Luc und den drei Philipinos Bürsten, Pinsel und Farbtöpfe hingestellt und einen Deckanstrich der Aufbauten verlangt. Ein Ansinnen, das ihnen nicht unbillig erschienen war. Stellring und sein Freund hatten beim Anheuern nicht erwartet, sie erhielten die Passage ohne Gegenleistung. Sie teilten sich zu zweit eine winzige Kabine, waren froh gewesen, der Kapitän hatte ihrer Mitfahrt zugestimmt. Formalitäten waren vermieden worden, er hatte sich Fragen nach ihrem Versicherungsschutz geschenkt, nur vorsorglich verlangt, daß eine Verzichtserklärung auf Ansprüche bei Unfällen oder einer Erkrankung unterschrieben wurde.
Gleich nach dem Streit hatte der Kapitän sie von der Tafel der Schiffsführung verbannt. Sie nahmen die Mahlzeiten seitdem zusammen mit den Philipinos und den drei Anderen vom Vorderschiff. Man hatte keinen Grund zur Klage über die Verpflegung. Joe, der Koch stand dafür ein, daß die Versorgung der Mannschaft nicht schlechter als die ihrer Führung war. Beide, Stellring und Luc waren ohnehin nicht verwöhnt nach der langen Rucksacktour.
Der Grund des Streits gleich am ersten Tag auf See? Luc hatte Jacob vorgeschlagen, man nähme sich den Anstrich jeweils im Schatten vor. Das Schiff fuhr Richtung Nord. Am Vormittag habe man an der linken Seite Sonnenschutz, bei der Arbeit am Nachmittags dann an Steuerbord. Luc hatte die Zustimmung als selbstverständlich angesehen aber der Steuermann hatte sich gegen die Einteilung gesperrt. Vielleicht war Luc mit zu viel Selbstbewußtsein im Tonfall aufgetreten. Der Steuermann hatte verfügt, man beginne mittschiffs an Steuerbord und bis Marseille habe man alle fleckigen Zonen rundum geschafft. Nicht im Wechsel sondern im Uhrzeigersinn sei kontinuierlich auszubessern, bis in die Höhe hinauf, die von der Leiter aus erreichbar sei, mindestens aber bis unter die Auskragung des nächsten Decks.
Vier Stunden gingen sie vormittags der Arbeit gemeinsam mit den Philipinos nach, dann war Pause. Schon gegen drei Uhr nahmen die Philipinos die Arbeit an der Sonnenseite wieder auf. Die Hitze nahm zu dieser Zeit noch zu. Luc Stellring hatten die Schikane nicht akzeptiert und die Arbeit auf der glühend heißen Sonnenseite des Schiffes abgelehnt. Der Kapitän hatte gedroht, er setze sie bei nächster Gelegenheit an Land. Sie hatten sich aufsässig verhalten und dazu gelacht.
Glaubwürdig war seine Drohung nicht. Die Gelegenheit bot sich frühestens in Suez. Auch wenn man in seinem Metier nicht zu Hause war, ließ sich leicht sehen, anlegen würde man ihretwegen nicht. Mochte der Kapitän über die Verstärkung der Mannschaft in Beira wüten, die Kosten und den Zeitverlust würden von einem Reeder niemals akzeptiert. Daß man sie zwangsweise dem nächstbesten Boot mit Fischern übergab, war ebenso unwahrscheinlich, man befand sich immerhin auf einem deutschen Schiff. Luc äußerte im Ernst die Sorge, man packe sie im Halbschlaf und beide gingen sie nachts spurlos über Bord. Mit blinden Passagieren solle das vorgekommen sein. Stellring hatte ihn beruhigt. Sie und die Philipinos kamen bestens miteinander aus. Stellring mochte die drei immer gut gelaunten Burschen. Die Verständigung mit ihnen, Khan ausgenommen, war nicht leicht. Man konnte sicher sein, um jemand unfreiwillig über Bord zu schaffen, verspürten die Philipinos weder Lust noch besäßen sie dazu genügend Kraft. Die drei Anderen vom Vorderschiff blieben die meiste Zeit unter sich. Wie Kriminelle sahen auch sie nicht aus.
Das Schiff hielt Nordkurs. In spätestens sieben Tagen war der letzte Abschnitt ihrer Tour Vergangenheit. Vor Stellrings Abschluß an der Uni standen nur noch Formalien an. Seine Abschlußarbeit war akzeptiert, die Prüfungen vor der Abreise waren gut gelaufen. Luc Haanen war seit einem Jahr im Beruf und kehrte zurück in ein ungeliebtes Büro in Brüssel. Er analysiere die Statistik von Schadensfällen in einem Versicherungskonzern, hatte er erzählt. Die Auskünfte auf Nachfrage nach Näherem hatten sich lustlos angehört. Anscheinend sah er sich nicht in seinem Traumberuf.
Stellring führte einige Bücher zur Vorbereitung auf die Abschlußprüfung mit. Hatte sein Gewissen damit beruhigen wollen aber vorher schon geahnt, viel Zeit erübrige er für sie auf der Reise nicht. Seit die Mädchen nicht mehr dabei waren, hatte er sie zum ersten mal zur Hand genommen im Bewußtsein, der Zeitabstand zum abschließenden Auftritt vor seinem Professor war noch groß. Er würde Teile des Inhalts wieder vergessen haben wenn der Nachweis ihrer Kenntnis gefordert war. Dennoch war die Zeit, die er mit der Lektüre hinbrachte nicht vertan. Die Gedanken bewegten sich wieder in dem Metier, in das er zurückkehren würde sobald die Reise hinter ihnen lag.
Luc hatte seinen Reiseführer zur Hand genommen. Er hing in Gedanken den Eindrücken ihrer langen Tour nach. Sie hatten die weiten Wege bis Beira nicht in voller Länge gemeinsam zurückgelegt. Die Bekanntschaft mit Luc und Jenny ging auf das Zusammentreffen in einem Hostel in Wadi Halfa zurück, einer Stadt nahe der Grenze zwischen Ägypten und Sudan. Stellring und Sarina hatten mit ihnen am gleichen Tisch das Frühstück eingenommen. Man hatte festgestellt, sie hatten bis dahin fast die gleiche Reise hinter sich gebracht, die gleichen Städte und Tempel in Ägypten im Abstand von ein oder zwei Tagen besucht. Jenny und Sarina waren schnell vertraut geworden. Sie waren den ganzen Tag zusammen durch die Stadt gestreift und hatten abends beschlossen, der nächste Abschnitt, die lange Wüstenstrecke bis nach Ad Damir mit dem Linienbus würde gemeinsam zurückgelegt. Seitdem hatte sie sich bis zum Abschied von Sarina und Jenny in Deira in Mozambique nicht mehr getrennt.
Luc spürte eine Spur Neid wenn er auf Stellring sah. Der neue Freund war nicht zum Leben im Bürosessel verdammt wie er seit einem Jahr, sondern war, wenn auch nicht mehr auf lange Zeit, Student. Ein exotisches Fach, hatte er Luc erläutert, Politische Wissenschaften, Teilgebiet Politikgeschichte mit Schwerpunkten auf den Feldern Konflikttheorie und Internationale Beziehungen. Die Beschäftigung mit solchen Gegenständen stand bei den meisten Menschen in Brüssel wie fast überall nicht hoch im Kurs. Stellrings besonderes Interesse gelte dem Übergang der früheren Kolonien Afrikas in die Unabhängigkeit. Thema seiner Abschlußarbeit: die Geschichte der der “Mau Mau”- Bewegung der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts in Kenia. Luc hatte gesagt, das Fach erscheine ihm nicht vielversprechend für den Broterwerb. Ein unfreundlich klingender aber ehrlicher Kommentar! Er lag nicht falsch. Stellring brauchte Glück, sollte sich nach Ende des Studiums ein Posten finden, dessen Bezahlung den Mühen der Ausbildung entsprach. In Deutschland und vermutlich in anderen Ländern auch, standen statistisch für Absolventen in seinem Fach die Aussichten nicht gut für eine erfolgreiche Berufskarriere.
Nicht ausgeschlossen, er erreichte eine bezahlte Stelle an seiner Universität. Sarina befand sich als Übersetzerin beruflich in einer besseren Lage. Luc war von ihrer Aussicht auf eine Arbeitsstelle in Brüssel fasziniert gewesen. Ein besserer Posten als bei den Übersetzerdiensten der EU sei in ihrem Fach nicht zu finden. In jeder Hinsicht ein Traumjob, hatte er gesagt. Woher er das so genau wisse? Das sei allgemein bekannt, Luc und seine Freundin Jenny würden sich jedenfalls unbändig freuen, käme sie beruflich in ihre Stadt. Die Entscheidung, über Zu- oder Absage stand noch aus. Der Weg von Köln nach Brüssel war nicht weit aber Stellring erwartete Probleme, würden er durch eine Zusage örtlich von ihr getrennt. Sarina hatte im Sudan für ihre Gruppe manchmal die Dolmetscherin gespielt. Mehr als einmal hatten die Einheimischen gestaunt wenn sie Einwohner in Arabisch angeredet hatte. Sarinas Mutter stammte aus Afghanistan hatte sie erzählt. Der Nachname Arnstein nach der Adoption stammte von ihrem Stiefvater aus Deutschland. Stellring wußte, sie sprach ungern über Familiäres. Schmerzliche Zusammenhänge standen im Hintergrund. Jenny hatte sie einmal vorsichtig auf ihren Vater angesprochen. Der Zeitpunkt war schlecht abgepaßt gewesen. Sie hatte Auskünfte nicht abgelehnt aber auf später verwiesen und war von sich aus nicht mehr auf den Punkt zurückgekommen. Weder Jenny noch Luc hatten dann nochmal nachgefragt.
Sarina interessierte sich für Fragen der Politik. Mit Stellring war sie als Besucherin eines Vortrags an der Universität bekannt geworden. Während der langen Tour hatten die Vier sich mehr als einmal über den Stand der Entwicklung und die Machtverhältnisse in den bereisten Ländern ausgetauscht. Die Nähe zu Stellrings Studienfach lag auf der Hand. Meistens hatte er solche Gespräche angestoßen und sie wiederholten sich mehrfach, nur wenig variiert. Die Aussicht auf Entwicklung in den Länder im Osten Afrikas stände schlecht. Armut und das Fehlen von Bildungschancen werde als gottgegeben hingenommen. Kaum Widerspruch gegen Privilegien und Widerstand gegen die überkommene Machtausübung im Kleinen wie im Großen! Vor allem auf dem Land zeige sich keine Auflehnung gegen greifbar ungerechte Hierarchien. Dieser Befund sei seit langem allen ausreichend bekannt. Neu sei für ihn, Stellring, aber die Einsicht, die Menschen erlebten dennoch ihr Dasein nicht als entbehrungsreich. Seine These: man gebe sich hier den Freuden des Lebens hin so gut von den Umstände erlaubt. Die für Europäer sichtbaren Defizite der Mehrheit an Wohlstand und Teilhabe aufgewogen durch körperlich vitale Präsenz der Menschen! Er bewundere ihre Lust an einer Gegenwart von hier und jetzt ohne Vorbehalt. Großzügig diese Entschädigung für den Verzicht auf begrenzten Einfluß und den kümmerlichen Rest an Machtkontrolle, den Europa seinem Einwohner gewährt! Stellring verglich die trübe Stimmung in Kneipen daheim mit immerwährendem Gelächter und guter Laune an jedem Getränkestand und an Tankstellen längs der Reiserouten in Afrika. Luc hatte bei solchen Betrachtungen nicht zugestimmt. Seine Eindrücke wichen von Stellrings meistens ab ohne daß ihn der Befund sonderlich berühre. Auch von Jenny kam Widerspruch: Stellrings Sicht sei auf seine Männerwelt beschränkt und frauenfeindlich. Wie sehe die Lage denn für Mädchen und Frauen aus? Mädchen fehlten im Straßenbild, zumindest in den Gegenden mit starkem Einfluß des Islam. Sie nehme Stellring nicht ab, daß für weibliche Teenager, hinter Mauern sorgfältig versteckt, dieser Zustand freudig hingenommen werde. Stellring hatte dann beharrt, unglücklich sähen jedenfalls etwas ältere Frauen nicht aus, die man zu Gesicht bekam, gleich ob verheiratet oder nicht. Ganz unerträglich werde eine zeitweilige Beschränkung für Mädchen schon nicht sein. Immerhin hielten dicke Mauern die Hitze des Tages ab. Dahinter auszuruhen sei für ihn weniger Zumutung als Privileg. Das andere Geschlecht dagegen, Sonne und herrschender Hitze ausgesetzt, scheue vor der mannhaften Anstrengung der Tagesarbeit nicht zurück. Hatte er provoziert oder vertrat er diese Einstellung im vollem Ernst?
Jenny hatte gemeint, sie habe sexistische Töne herausgehört und pikiert gefragt, wie Stellring sicher sein könne, die eingesperrten Mädchen ruhten sich nur aus. Er wisse ebenso wie sie, Kinder, vor allem Mädchen würden, gut vor öffentlicher Wahrnehmung versteckt, als billige Arbeitskräfte ausgenutzt. Luc sah sie in der Erinnerung noch vor sich, Entrüstung stand deutlich ins Gesicht geschrieben. Er fragte sich seitdem, warum nahm sie jedesmal wieder diese halbseidenen Sprüche bei Stellring ernst? In ihrer Umgebung zu Hause wurden Frauen nicht diskriminiert. Hier verhielt sie sich aus nichtigem Anlaß als gelte es einen Einsatz für den Sieg des Feminismus. Sarina beteiligte sich an solchen Diskussionen nicht. Mit ihrer Mutter aus Afghanistan käme ihr in dieser Frage noch am ehesten ein kompetentes Urteil zu, aber sie schwieg. Sie kannte Stellring schon längere Zeit und schätzte seine Stichelei vermutlich richtig ein: Stellring war noch Student. Manche seiner Tiraden erschienen Sarina anscheinend nicht mehr als Scherze am falschen Platz und nicht der Kommentierung wert. Mit überflüssigem Schabernack solchen Kalibers hatte Stellring Jenny nicht nur einmal provoziert. Noch waren beide nicht soweit mit den anderen vertraut, daß Jenny bei Stellring, zwischen gezielt frivol und ernsthaft unterscheiden konnte.
Jenny hatte sich bei passender Gelegenheit einmal revanchiert: der Bus hatte sich zwischen Al-Kandaq und Add-Dabah beim Abstecher zu einer kleinen Ortschaft seitlich der Piste festgefahren. Feiner Sand hatte sich zu einer kleinen Düne aufgeworfen und den Weg versperrt. Statt auszuweichen hatte der Fahrer den Durchbruch mit Anlauf auf direkten Weg versucht. Bis über die Naben hatte der Bus hatte sich mit der Antriebsachse in lockeren Sand gewühlt. Ein Vorfall, der auf solchen Strecken nicht ungewöhnlich war. Man hatte mitgeführte Schaufeln ausgepackt und an die Mitreisenden verteilt. Zusammen mit allen anderen hatten auch drei der vier Europäer angepackt und mit Erfolg gegraben. Jenny hatte die Mitwirkung abgelehnt und den Einsatz mannhafter Anstrengung gefordert. Stellring, Sarina und Luc hatten die die Retourkutsche heraus gehört und beim Schaufeln laut gelacht.
Die schlimmste Befürchtung hatte sich nicht erfüllt. Keiner machte draußen Anstalten zum Sturm auf den Behelfsbunker, ein Versuch, die Eingeschlossenen auszuräuchern fand nicht statt. Die Piraten ließen sich Zeit. Kein Zweifel, sie setzten auf die nur scheinbar schonende Wirkung von Zeit und Hitze. Die Eingeschlossenen waren der Enge und dem monotonen Stampfen der Maschine ausgesetzt. Die Temperatur stieg nicht mehr weiter an, auf längere Dauer würde sie trotz reichlich zugeführter Getränke nicht erträglich sein. Stellring schätzte die Temperatur auf über fünfundvierzig Grad. Niemand litt Durst. Hunger kam nur bei einem einzigen Bewohner auf, aber bitterer Gestank erfüllte den Raum. Stellring fühlte sich schwach. Allein Joe, der Koch hatte sich seinen Appetit bewahrt und aß. Hansen bereitete in einem Tagebuch die Chronik der Entführung vor. In Zeitabständen von immer zwei Stunden trug er befriedigt ein, zumindest habe keiner seiner Leute unter der Belastung bisher durchgedreht. Kein Grund, sich Illusionen hinzugeben! Wenn er sie längere Zeit diesen Bedingungen und der hoffnungslosen Lage aussetzte, würden unvermeidlich bald die ersten krank. Den versprochenen Bericht über die letzten Minuten auf der Brücke ehe er entkommen war, hatte er Jacob nicht abgeliefert. Der Steuermann hatte zu seiner Erleichterung auch nicht noch einmal nachgefragt.
Nach vierundzwanzig Stunden hatte sich am Geräusch des Motors nichts geändert. Keinerlei Anzeichen dafür, daß ein Hilfsschiff des Militärs in der Nähe war! Stellring und Luc Haanen hatten Hansen nach Ablauf von weiteren vier Stunden zur Übergabe aufgefordert. Die Hilfe bleibe aus, diese Lage sei hoffnungslos. Hansen hatte vorgegeben, nach der letzten Angabe der “Atalanta” treffe die Hilfe nun in Kürze ein. Bei Kampfhandlungen zwischen den Piraten und dem Militär dürfe man nicht als Geisel in der Hand der Entführer sein. Stellring und Luc wurden mit Mehrheit überstimmt. Die Besatzung hielten weitere zwei Stunden lang aus, dann kapitulierte der Kapitän.
Längst vorher hatten die Piraten das Versteck gefunden. Ein Mann aus Ibrahims Kommandos hatte bei genauerer Inspektion des Ganges zwischen den Laderäumen das schwache Licht aus einer Lüftungsöffnung nicht übersehen. Minuten später hatte Ibrahim selbst vor dem Tor gestanden. Er wünsche den Kapitän zu sprechen. Hansen hatte die Stimme aus dem Kaperboot sofort erkannt. Die Verständigung quer durch das solide feuerfeste Tor hätte keinen erhöhten Stimmaufwand vorausgesetzt, dennoch hatte Hansen mit erhobener Stimme seinen Protest wiederholt. Er rate den Piraten zum Rückzug, es werde sonst Blutvergießen geben. Die Position seines Schiffes sei der Flottenleitung der “Atalanta” jederzeit genau bekannt. Ein Hilfsschiffe sei unterwegs, Spätestens in ein paar Stunden werde man mit Gewalt befreit. Ibrahim hatte ihn grob unterbrochen.
“Schnauze halten, Kapitän, schließt das Tor auf oder wir räuchern euch da drinnen aus.” Die Blicke der Eingeschlossenen waren fast gleichzeitig auf ein verschlossenes Bullauge gefallen. Es war im Dunkel unter der Decke kaum erkennbar. In der Eile hatte die Zeit zur Sicherung dieser Öffnung nicht gereicht. Irgendwann während der langen Warterei hatte Luc den Anderen die Gefahr bewußt gemacht. Die Mühe zum Aufbrechen das Stahltores könnten die Piraten sich leicht ersparen. Ein paar große brennende Holzstücke von außen in den engen Raum geworfen und ihnen bliebe kein Ausweg als bedingungslose Übergabe. Sie hatten mitgehört wie Ibrahim einem Begleiter befohlen hatte, er solle Wache halten, er selbst käme umgehend zurück.
“Natürlich geben wir nach sobald es soweit ist”, war Hansen den Fragen seiner Mannschaften zuvorgekommen. “Denke nicht im Traum an einen Heldentod für meine Reederei.”
Ibrahim hatte auf der Brücke Bericht erstattet, Achmad sich als entschlossener Herr der Lage seinem Kommando präsentiert:
“Gut so. Die paar Mann haben sich ihr Gefängnis selbst gebaut. Jeder andere Ort im Schiff wäre für uns weniger bequem. Sie werden in der Hitze schwächer, länger als drei Tage halten sie da unten nicht aus. Wer danach rauskommt, ist für Gegenwehr zu schwach, man erspart uns ein Problem.”
Achmad Rasul Dalmar war der unbestrittene Anführer der Aktion. Sein Abschluß an einer Hochschule in Nordengland war fünf Jahre alt. Zwei Jahre lang im Anschluß an das Studium hatte er den Beruf als Elektronikspezialist in einer kleinen Firma ausgeübt. Dann war er seiner Eltern wegen nach Somalia zurückgekehrt. Er hatte vor dem Studium im Ausland schon Interesse für Fragen der Politik gezeigt. War einer von drei Leuten seines Dorfes gewesen, die regelmäßig eine Zeitung lasen. Während der Zeit in England hatte er sich der Gruppe seiner Landsleute in London angeschlossen. Interesse hatte er an der größten Fraktion dort gezeigt. Sie strebte eine Modernisierung der Zustände in der Heimat mit Hilfe von Technik und Methoden des Westens an, aber nur so behutsam, daß die Gefahr vermieden wurde, die Eigenart seines Landes nehme Schaden. In diesem Sinn hatte auch er sich bei der Diskussion mit seinen Landsleuten geäußert. Zweimal hatte er Vorträge mit wenig Resonanz vor seinen Landsleuten gehalten und einen kleinen Artikel in der Zeitschrift der Gruppe publiziert. Er besuchte selten die Moschee und hielt die Pflichten eines Moslems nur lässig ein. Seine Fraktion war die zahlenmäßig stärkste gewesen, stärkere Bewegung war aber von der kleineren Untergruppe der islamistischen Somalier ausgegangen. Achmad hatte für ihre radikalen Thesen wenig Sympathie verspürt.
Er hatte Geld für die Familie zu Hause auf den Weg gebracht. Es gab keinen sicheren Übertragungsweg, die Kuriere nicht zuverlässig, zweimal hatte man die ganze Summe unterschlagen. Die Bitte um Hilfe der kranken Eltern waren dringlich geworden. Er war zurückgekehrt und hatte festgestellt, seine Qualifikation war in der Heimat nicht gefragt. Wohin sich der Blick gewendet hatte, dringender Bedarf zur Linderung von Not und Armut war damals nicht anders als jetzt auch unübersehbar aber der Verfall der Wirtschaft und fehlende Sicherheit ließen Ausübung seines Berufs zu. Er hatte zu einer anderen Art Broterwerb gegriffen und den Anschluß an die Gruppe von Ibn Alrah gesucht. Ibn Alrah gehörte dem gleichen Volksstamm in Somalia an wie er selbst. Er war Enkel des Fürsten, der zu Zeiten der Großeltern in der Heimatregion Feudalherrscher gewesen war. Der Vater von Ibn Alrah führte jetzt den Klan. Sein Sohn hatte sich mit dem Vater überworfen und sich zum Anführer einer Aktionsgruppe gemacht. Über Absichten und Ziele wurde nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen. Achmad hatte ohne Mühe die Art seiner Unternehmungen herausgefunden. Ibn Alrahund die Leute seiner Gruppe verfügten über Macht in der Gegend um Achmads Dorf und sie verdienten Geld.
Was hatte zur Bildung von Ibn Alrahs Aktionsgruppe geführt? Elend und Anarchie im Land hatten überhand genommen. Die Klanchefs in der Provinz Galguduud hatten mit der Mehrheit der wenigen, die an der Ratsversammlung teilgenommen hatten, einen folgenschweren Beschluß gefaßt: Schiffe, die nahe der Küste die Provinz passierten, sollten gekapert werden. Lösegelder würden erlöst. Ihr Einsatz würde die schlimmste Not der Menschen in ihrem Land ohne Regierung und Gesetz verhindern. Das Konzept war von politischen Aktivisten aus Palästina vorgetragen worden. Sie hatten Unterstützung angeboten. Man verfügte über vertrauenswürdige Helfer und Verbindungen an den Golf und nach Europa. Die Abwicklung von Zahlungen der Schiffsbesitzer traue man sich mit deren Hilfe zu. Der Rat war mißtrauisch gewesen und hatte nur zögernd zugestimmt. Der Bürgerkrieg im Land würde noch lange nicht beendet sein. Hilfe von außen wurde von anderen abgefangen. Um das Überleben notdürftig zu sichern, führte an notfalls unkonventionellen Maßnahmen zur Geldbeschaffung kein Weg vorbei. Gegen die Bedenken einzelner, darunter Ibn Alrahs Vater, hatte diese Meinung der Mehrheit sich durchgesetzt.
Der Auftrag zur Erprobung der Methode war an eine Gruppe Freiwilliger gegangen, sorgfältig ausgewählt aus mehreren Regionen der Provinz. Ibn Alrah Junior hatte für den Klan seiner Familie teilgenommen; nicht lange und er hatte sich als Anführer durchgesetzt. Die erste Aktion unter Anleitung der ausländischen Berater war zufriedenstellend abgelaufen. Ziel war eine kleine Jacht auf Weltumsegelung gewesen. Man hatte vier der fünf Leute der Besatzung im Halbschlaf überrascht. Der Besitzer und Angehörige der Besatzung hatten ohne lange Verzögerung Lösegeld bezahlt und dieses Geld, vermindert um eine Provision für die Vermittler war kurz danach in Galguduud eingegangen. Die Überfallenen waren glücklich gewesen, daß man sie gleich anschließend laufen ließ. Auch bei den nächsten Aktionen verzichtete das kleine Kommando auf den Einsatz von Gewalt. Die Besatzungen selbst größerer Schiffe, leisteten kaum Gegenwehr. Beim Blick in Gewehrläufe folgte man der Anweisung zum neuen Kurs zur Küste ohne Widerstand.
Die Leute aus Palästina hatten Wort gehalten. Sie organisierten fast störungslos die Zahlungen gegen eine faire Provision. Die Beträge liefen in einer verdeckt eingerichteten kleinen Zentrale in Daressalam. Gegenwehr fand nicht auf den Schiffen sondern in den Medien statt. Jede neue Aktion lösten Proteste der Opfer aus. Presse und Politik nahmen sich des Themas an, aber das Verfahren leistete seinen Dienst. Nach einiger Zeit hatten die Schiffe ihre Route weiter von der Küste weg verlegt. Die Schutzvorkehrung brachte nicht viel Erfolg, das Kommando Ibn Alrah und andere Gruppen junger Somalier zogen nach. Besser ausgerüstete und schnellere Boote wurden von einem Teil der Einnahmen angeschafft. Sie schufen die Voraussetzung zu Operationen auch auf Hoher See, weiter ab von der Küste bis zu den nach Osten verlegten Ausweichrouten der begehrten Beute.
Achmad hatte sich über diese Zusammenhänge informiert. Er hatte die Entführungen nicht ohne Vorbehalte akzeptiert. Auf lange Sicht konnte dieser Weg seiner Stammesbrüder zu keinem guten Ende führen. Als Nothilfe sah er sie als vertretbar an, solange man den Entführten keine brutale Gewalt antat. Wenn er sich vermeidbares Elend und Tod vor der Zeit in seinem Heimatort vor Augen führte, fand er widerwillig, Ibn Alrahs Methode war als Nothilfe erlaubt. Im Land seiner Ausbildung hielt man die Sagen des Robin Hood in Ehren. Der Räuber hatte nach eigener Ermächtigung genommen und zugeteilt. Wer hatte das Recht, über Ibn Alrahs Leute den Stab zu brechen wenn sie ihren vom Hungertod bedrohten Landsleuten mit Mitteln halfen, in denen die reiche Welt Verbrechen sah? Achmads Lage war hoffnungslos. Ohne ein Anfangskapital, ohne Maschinen und Strom, sie anzutreiben nützte auch ihm die Ausbildung in England nicht. Nicht nur der Hunger in seinem Heimatdorf war ihm vor Augen getreten sondern die Krankheit der Eltern, deren Besserung wenn überhaupt möglich, allein in seinen Händen lag. Sie hatten von seinen Plänen nichts geahnt. Er hatte Grund zur Annahme gehabt, wüßten sie davon, sie hätten ihm jede Beteiligung streng untersagt.
Er war einer Einladung als Gast von Ibn Alrah und Beobachter gefolgt. Die Kommandoaktion hatte unblutig geendet. Achmad hatte den Rest an Vorbehalten überwunden und Ibn Alrah erklärt, er sei zur Teilnahme an der nächsten Aktion bereit.
Der Anführer hatte ihn von Beginn an freundlich aufgenommen. Hatte schnell erkannt, die Kenntnisse des neuen Mannes konnten von Vorteil sein. Wenn sich die Führung eines Schiffes einmal hartnäckig weigerte, Befehlen der Entführer nachzukommen, hätte man notfalls fachliche Kompetenz bei der Übernahme von Motor und Steuerung zur Hand. Er hatte Achmad zu einem Schulungskurs nach Tripolis entsandt. Nach offizieller Lesart diente der Kurs dort der Ausbildung in Navigation. Die Zentrale in Daressalam hatte für Spezialkurs eines englischen Experten unter Vertrag genommen. Er hatte Achmad und zwei Landsleute aus der Nachbarprovinz waren in der Kunst geschult, wie eine blockierte Schiffssteuerung gangbar zu machen war. Die Teilnehmer hatten Theorie und Praxis über Systeme der Sicherung gesammelt, der Spezialist hatte ihnen umfangreiches Material mit auf den Weg gegeben. Seitdem führte Achmad bei den Kommandounternehmen ein paar Handbücher ständig in einem kleinen wasserdichten Koffer mit. In einem einzigen Fall von hartnäckigem passivem Widerstand hatte er die Unterlagen angewendet. Auch bei der “Stolzenfels” war die Anwendung in Reichweite gewesen. Das Ungeschick des aufgeregten Kapitäns vorhin hatte ihm die zweite Probe auf seine Findigkeit erspart.
Tran und Luc bauten gemeinsam den Verhau aus Brettern ab, dann öffnete Hansen das schwere feuerfeste Tor. Im breiten Mittelgang, das Gewehr im Anschlag, stand ihm ein Wächter gegenüber. Seine Leute hoben ohne eine Aufforderung abzuwarten, die Arme bis zum Kopf und traten hinter ihm heraus.
“Telephon”, herrschte der Mann Hansen an. Der Bursche hatte sich auf diesen Moment vorbereitet. Widerstand war sinnlos; Hansen ging zurück und holte das Telephon aus dem Versteck. Der Pirat nahm es wortlos in Empfang. Er wedelte mit dem Lauf der Waffe und mit einem zweite Befehl,“Go”, trieb er den Trupp vor sich her zum Aufzug. Weiter oben lieferte er ihn bei seinen Kameraden ab. Die Piraten hatten die Offiziersmesse in Beschlag genommen. Ibrahim sprach ein paar Worte mit seinem Landsmann, nahm das Telephon an sich und verließ den Raum. Bald danach kam er zurück und forderte Hansen zum Besuch der Brücke auf.
Die beiden machten sich zusammen auf den weg, alle anderen dirigierte Ibrahim in den einstigen Besprechungsraum und schloß sie ein. Sie waren dem Gestank entkommen, man hatte wieder frische Luft zum atmen. Kein Vergleich mit dem verwünschten Verlies der letzten dreißig Stunden! Ein Somali trat ein, der vorher im Nachbarraum nicht zu sehen gewesen gewesen war. Er stellte eine gefüllte Schüssel, Löffel, Brot und Teller auf den Tisch. Sein Kamerad hielt draußen Wache, unverändert das Gewehr im Anschlag. Joe hatte vor Beginn der Attacke Eintopf gekocht, der noch genießbar war. Die Piraten waren umsichtig gewesen und hatten vorausschauend den scharf gewürzten Sud für ihre Gastgeber auf Dauer der Einschließung gekühlt. Für den Verzehr der Kartoffeln und Fleischbrocken waren Löffel schlecht geeignet. Gabeln und Messer gestand man ihnen nicht zu, stellte Stellring mit Bedauern fest. Andererseits erschien ihm die Beschränkung auf Löffel als Schutzmaßnahme aus Sicht der Geiselnehmer keine Zumutung.
Ibrahim und Hansen erreichten die Zugangstür zur Brücke. Der Afrikaner, der Hansens Platz am Steuer eingenommen hatte, schien oberster Anführer zu sein. Achmad drehte sich um und kam Hansen ein paar Schritt entgegen. Der Kapitän wies den angebotenen Handschlag zurück. Erging stattdessen zur Fensterfront und warf einen Blick auf seine Instrumente. Keiner der beiden anderen auf der Brücke hinderte ihn nicht daran. Der Schirm zeigte, daß man nahe der Küste stand. Auf dem Bildschirm war die Küstenlinie von Ostafrika in roter Farbe eingeblendet. Zum Zeitpunkt der Entführung hatte die “Stolzenfels” ca. 600 Seemeilen weit querab zur Küste die Höhe nördlich Mogadischu erreicht. Von dort aus war das Schiff vom geplanten Kurs in südwestliche Richtung abgewichen. Innerhalb dreier Tage hatte sein Schiff zum zweiten Mal den Äquator gequert und näherte sich dem Kontinent in einer Gegend nicht weit südlich von von Kismayo. Der Abstand quer zur Küste hatte sich auf geschätzte dreißig Seemeilen reduziert. Das Schiff lag wie befürchtet fast genau auf Westkurs. Drei Stunden noch mit halber Fahrt, schätzte Hansen, und die Küste war erreicht. Achmad sagte:
“Mein Rat an Sie, Kapitän: nehmen Sie jetzt die Dinge wie sie sind. Sie haben sich ganz unnötig die Hitze da unten zugemutet. Wir hatten Ihnen ein Angebot gemacht. Hätten Sie es akzeptiert, Sie hätten sich und ihren Leuten den Saunagang erspart.” Er bot ein Glas Wasser an. Es war gekühlt, anders als die warme Brühe, die er seit der Einschließung genossen hatte. Hansen zögerte nur kurz, dann griff er zu.
“Ich habe ihre Leuten schon erklärt und wiederhole, ich protestiere in aller Form. Sie machen sich schwer strafbar, ein Prozeß vor dem Seegericht in Hamburg kommt auf Sie zu.” Achmad hörte Proteste wie diesen von einem Kapitän nicht zum ersten mal.
“Wir geben Ihnen Gelegenheit zur Rücksprache mit Ihrer Reederei sobald war an der Küste sind. Unsere Organisation besteht auf einer Prämie für die Nutzung unserer nationalen Gewässer ehe man Sie weiterfahren läßt.” Trotz der Hitze die auf der Brücke herrschte, war Hansen blaß vor Wut über die Frechheit, die ihm entgegenschlug. Die endgültige Bestätigung der Katastrophe für ihn persönlich und ein bitterer Schaden für die Reederei! Hansen rang nach Atem. Wahrhaftig, er führte hier den Dialog mit dem Entführer seines Schiffes, ein Albtraum, den ein Seemann, wenn er ihn je zu erleben glaubte, spätestens mit dem Aufwachen verscheuchte.
“Von Küstengewässer konnte bei meinem Kurs keine Rede sein. Warum begehen sie dieses Verbrechen? Ich rede von Piraterie. Sie sehen für mich nicht aus wie jemand, der dergleichen nötig hat.”
“ Auch von Verbrechen kann keine Rede sein, Kapitän.” Der Mensch besaß die Unverschämtheit und grinste ihm unverfroren ins Gesicht. Für unsere Maßnahme existieren gute Gründe. Jetzt ist nicht die Zeit darauf genauer einzugehen. Ihre Reederei hat das Schiff gegen die anstehende Zahlung abgesichert?” Hansen wollte weitere Fehler unbedingt vermeiden.
“Geht Sie nicht das Geringste an. Ich wiederhole nur, ich protestiere in aller Form. Verlassen Sie und Ihre Leute sofort mein Schiff. Ich verlange ihren Abzug. Jede andere Aussage lehne ich hiermit ab.” Achmad wußte, man würde Wochen, vielleicht Monate mit dem frustriert abgesetzten Führer des Schiffes und seiner Mannschaft an Land zusammen sein bis Geld geflossen war. Warum nicht Hansen, der nicht unsympathisch schien einen Gefallen tun?
“Sie wissen Kapitän Hansen, wenn Sie nach der Zahlung an unsere Organisation, ihren Heimathafen erreichen, geht es für Sie hart auf hart. Die Versicherung der Reederei trägt unsere Gebühr nur unter der Voraussetzung, von den Verantwortlichen wurde zur Vermeidung von Schäden das Mögliche getan. Das Verhalten der Schiffsführung, die Ladung und der Zustand jedes betroffenen Schiffes wird überprüft. War Höhere Gewalt im Spiel oder Leichtsinn der Schiffsführung der Grund? War der Schaden für die Reederei vermeidbar?” Hansen entfuhren als Antwort grobe Worte, dann besann er sich seiner Verantwortung als Kapitän und fand zu Nüchternheit zurück. Ein Zornausbruch würde nicht weiterhelfen, er stand dem Afrikaner als Unterlegener gegenüber. Er beschränkte sich resigniert auf die Forderung nach korrekter Behandlung seiner Leute. Der Andere ging nicht darauf ein:
“Sie können sich vorstellen, in manchen Fällen lassen wir notgedrungen Spuren unserer Eingriffe in die Steuerung zurück. Bei Ihrem Schiff ist das bisher nicht der Fall. Man könnte später lästige Fragen an Sie stellen. Ich biete ein Entgegenkommen an. Wir richten es so ein, daß nach ihrer Rückkehr bei der Inspektion festgestellt wird, unser Kommando hat die gesperrte Steuerung und die Maschine nicht sachgemäß in Betrieb genommen, der Eindruck dann: das Schiff wurde vor unserer Weiterfahrt hierher blockiert.” Hansen stutzte. Man machte ihm ein ebenso überraschendes wie unverschämtes Angebot. Der Afrikaner glaubte im Ernst, er als redlicher Kapitän ließe sich kompromittieren, er akzeptiere zusätzlich zur Kaperung des Schiffes einen schmutzigen Betrug.
“Auf diesen Schaden käme es nicht mehr an. Ziehen Sie sich auf Ihre Boote zurück und verlassen Sie mit Ihren Leuten das Schiff. Mit großmäuligem Gerede machen Sie sich lächerlich. Sie verkennen völlig Ihre Lage. Die “Atalanta” erreicht uns in spätestens ein paar Stunden. Von mir hören Sie bis dahin kein weiteres Wort.” Achmad lachte breit auf:
“Machen Sie sich nichts vor! Auch das schnellste Schiff der “Atalanta” kommt für die “Stolzenfels” zu spät. Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen von jedem einzelnen die exakte Position, und auf meine Informanten ist da absolut Verlaß.” Hansen wußte aus seinem letzten Gespräch mit Daressalam, der Mann übertrieb einerseits, was die Hilfe betraf, hatte wahrscheinlich recht. In unmittelbare Nähe der Küste trauten die Kriegsschiffe sich nicht heran. Entweder ein ihm unverständlicher Respekt für die Zwölfmeilenzone oder die Seekarten für die Gewässer vor Somalia waren nicht genau genug. Ein Hilfsschiff liefe Gefahr, es setzte sich irgendwo auf Grund. Nicht ausgeschlossen auch, die Gangster hatte zu ihrem Schutz gegen den Angriffe von See her leichte Geschütze aufgestellt. Hansen hörte den Afrikaner sagen:
“Schon verstanden Kapitän, wir kommen darauf zurück. Wenn Sie wollen, regeln wir die Frage unter vier Augen ehe einer von Ihren Leuten auf die Brücke kommt.” Hansen schwieg antwortete nicht mehr. Unter Bewachung ging er mit schwerem Schritt zurück zu seinen Leuten im Besprechungsraum. Bis zur Ankunft an der Küste zumindest bot er Sicherheit. Hansen war endgültig klar geworden, er hatte jeden Einfluß auf den Gang der Dinge eingebüßt. Er sprach erst leise mit dem Steuermann, danach erstattete er der Mannschaft einen unvollständigen Bericht.
Die “Stolzenfels”ankerte in Küstennähe. Vom Ufer aus näherte sich ein drittes Boot und legte mittschiffs im Schatten der Bordwand an. Die beiden, die in der Kiellinie den ganzen Strecke gefolgt waren, hatten das Ufer schon erreicht. Hansen und seine Leute verließen über das Fallreep das sacht dümpelnde Schiff. Die Stammbesatzung hatte die Sporttaschen mit dem Nötigsten gepackt, Luc und Stellring schifften sich mit Reiserucksack aus. Hansen verließ als letzter der regulären Besatzung das Schiff. Der Mann habe tatsächlich noch auf dieses unpassende Ritual Wert gelegt, stellte Luc Haanen feixend fest. Neben den Passagieren und dem Bootsführer, der ein Gewehr trug, und war ein hochgewachsener Afrikaner mit an Bord. Der unbewaffnete Begleiter hieß Achmad und war Anführer der Piraten. Hansen hatte gesagt, er halte ihn für einen gewissenlosen Gangster wenn auch im Auftreten nicht ohne eine gewisse Verbindlichkeit. Sechs seiner Landsleute fuhren auf den Booten, die die “Stolzenfels” hergeleitet hatten ein Stück weit voraus.
Hansen und Jacob schwiegen. Tran unterhielt sich leise mit Joe und Noel in dem nur ihnen verständlichen Idiom. Luc Haanen sah nicht glücklich aus. Es war ungewiß, wie lange sie hier festgehalten würden. Eine jämmerlich wüste und gottverlassene Gegend für den Aufenthalt von unbekannter Dauer, der nun auf sie zukam! Ganz schwierig konnte es werden, wurde hier jemand krank. Zu Hause und am Arbeitsplatz würde man zu Recht besorgt sein.
Stellring zeigte sich weniger beunruhigt. Jenny und Sarina wußten, auf welchem Schiff sie angeheuert hatten. Sobald die Entführung bekannt geworden war, würde man zu Hause auch wissen, die Gefahr, der sie hier ausgesetzt waren, blieb begrenzt. Nach Zahlung des Lösegeldes kam man wie alle Vorgänger bisher unweigerlich wieder frei. Er versuchte sich die Szene ins Gedächtnis einzuprägen, als Erinnerung für einen späteren Bericht. Die Gegend öde und menschenleer! Die Küste markierte den Übergang der Wasserwüste in eine ebenso abweisende Wüste aus Geröll und Schutt. Sie würden in ein paar Minuten ein leeres Land betreten, flach, trocken, von der Sonne dunkelbraun gedörrt und ohne jede Spur von Grün. Die Küste dieses Ozeans wies andernorts schönere Abschnitte auf. Die “Stolzenfels” hatte, wenn auch außerhalb Sichtweite, weiter im Süden freundliche Küstenabschnitte mit leicht gebauten Hütten und kleinen Ortschaften, mit Badestränden im Schatten von Palmwedeln hinter sich gelassen. Man würde sie hier in der Nähe festhalten bis das Schiff freigegeben war, soweit war er über das übliche Verfahren aus den Medien informiert.
Wo konnte der Ort für die bevorstehende Gefangenschaft in dieser Ödnis sein? Ein kleine Anhöhe erhob sich links von der Stelle, an der sie in ein paar Minuten landen würden. Er schätzte, der flache war Sandhügel so hoch wie ein aufrecht stehender Mensch. Vielleicht versteckte sich dahinter eine Unterkunft. Drei Afrikaner hatten sich zur Begrüßung am Ufer eingefunden. Der Bug lief knirschend ein kleines Stück weit auf Land. Achmad sprang als erster vom Boot ins flache Wasser. Er begrüßte die Wartenden ohne Überschwänglichkeit als käme er von einer Routinefahrt zurück. Der Empfang der Gefangenen fand vor aller Augen statt.
Stellring stellte eine der Situation nicht gemäße Betrachtung an. Er machte sich Sorgen um die Sicherheit der Boote. Wenn auch nur eine etwas größere Brandungswelle auflief, rissen sie sich wieder los. Andere teilten anscheinend die Bedenken. Beim Abmarsch beobachtete er, zwei Mann des Kommandos zogen die Boote für die Liegezeit mit einem Ackerschlepper ein Stück weiter hoch auf festes Land.
Zwei der drei Leute, die gewartet hatten, hatten Motorräder dabei. Die staubigen Maschinen standen aufgebockt ein Stück weit seitab. Achmad und Ibrahim stiegen hinter den Fahrern auf dem Rücksitz auf und fuhren den Strand entlang in Richtung auf die kleine Anhöhe davon. Allen anderen blieb der Fußmarsch nicht erspart. Da wo die Motorräder landeinwärts abgebogen waren, verließ der Trupp den festen Untergrund auf Sand gleich hinter der Wasserlinie. Das letzte Wegstück zeigte sich beschwerlich. Zwischen Kies und Geröll bahnte sich jeder in der Mittagshitze den Weg durch Schutt und mittelgroße Blöcke Fels. Hansen keuchte am stärksten unter der Anstrengung. Tran bot ihm an, er übernehme seine schwere Tasche. Der Kapitän lehnte erst ab, nach der halben Wegstrecke zwischen Strand und dem Camp stimmte er dann noch widerstrebend zu. Tran und Noel teilten sich die Zusatzlast. Wichtiger als falscher Stolz war jetzt, Hansen fing sich keinen Hitzschlag ein! Sein Puls ging schneller als zuträglich sein konnte für einen physische Anstrengung nicht gewohnten Seemann im vorgerückten Alter. Hansen brauchte keinen Spiegel um zu wissen, daß sein Kopf feuerrot angelaufen war.
Stolpernd langten die Schiffsbesatzung und ihre Begleiter am Lager an. Der Anmarsch konnte nicht länger als eine halbe Stunde gedauert haben, aber sie waren von dem nicht weiten Weg erschöpft. Luc und Stellring warfen sich neben die Philipinos heftig schnaufend in den Schatten einer Hütte. Hansen und Jacob streckten sich quer zur Wand der Nachbarhütte im Schatten aus, nur die Füße blieben der Sonne ausgesetzt. Kaum wieder zu einem Mindestmaß an Kraft gelangt, fragte Luc den Steuermann, ob er nicht auf die Sonnenseite wechseln wolle. Jacobs Erholung war weniger weit fortgeschritten. Er glotzte keuchend herüber und verweigerte eine Reaktion.
Das Camp bestand aus drei schäbigen Hütten mit Wellblechdach und ein paar Zelten. Etwas abseits gelegen zwei Bretterschuppen; später fanden die Gefangenen heraus, der eine für den Traktor und zwei große Tanks, auf dem Dach der größten Baracke befand sich notdürftig verdeckt der Gittermast einer Antenne.
Achmad und Ibrahim waren als Beifahrer auf Motorrädern am frühen Morgen angelangt. Achmad ließ sich vorerst nicht sehen, wahrscheinlich hielt er sich in einer der Hütten auf. Ibrahim hatte sich eine Ruhepause gegönnt, dann wies er die Besatzung der “Stozenfels” ins Leben in der Wüste ein. Ein kleineres Zelt war für Jacob und Hansen bestimmt, zwei große für die Mannschaft. Für jeden war eine Decke auf dem Boden ausgelegt. Die Anzahl stimmte mit der Kopfzahl der Gefangenen überein. Zufall oder waren die Entführer schon im Voraus über die Stärke der Besatzung informiert? Stellring rätselte über den Sinn von Zelten inmitten heißer Wüste. Tagsüber war es im Inneren unerträglich heiß. Er nahm an, auch nachts schlief man besser im Freien. Diese Zelte bestanden nicht aus Kunststoff wie im eigenen Land gewohnt sondern aus dickem Leder. Tragetaschen und Rucksäcke wurden abgelegt, und jeder flüchtete von neuem in den Schatten. Die Somalis kühlten die eigenen Zelte in der Mittagshitze in Abständen durch Befeuchten mit Wasser ab. In dieser Hinsicht wenigstens bestand anscheinend kein Grund zu Besorgnis: an Wasser war man inmitten dieser Hitze nicht besonders knapp. Die Abkühlung beim Verdunsten schien stark zu sein, fünf oder sechs zogen sich unter das Vordach ihrer Behausung zurück und tranken entspannt aus kleinen Gläsern mit ausladend geschwungenem Rand.
Man überließ die Gefangenen sich selbst. Die Hitze hielt an und ließ weder Nachdenken noch Gespräche zu. Weder Luc nach Stellring oder einer der Philipinos in der Nähe sprach ein Wort. Tran spendete nach bedrücktem Schweigen Trost: die schlimmste Hitze sei bald vorbei. Nach vier Uhr werde es wieder besser erträglich sein. Keiner gab ein Wort zurück. Noel und Joe grinsten matt, Stellring und Luc schwiegen und zogen apathisch die Schultern hoch. Einer der Somali kam die paar Schritte herüber, eine silbern glänzenden Kanne in der linken Hand, in der anderen balancierte er bauchige Gläser auf einem Tablett. Er bot ihnen sein Getränk wortlos an; keiner der mutlosen Gruppe wies sein Glas zurück. Stellring kostete vorsichtig und schmeckte süßen Tee. Der Somali schenkte noch einmal ein und ging. Jacob hatte das Angebot zunächst zurückgewiesen, dann nach einem Blick auf Hansen, der zugegriffen hatte, zögernd akzeptiert. Täuschte Stellring sich oder minderte das Getränk seine Apathie? Vielleicht hatte die Hitze wirklich wie angekündigt nachgelassen.
Er malte sich den Ablauf der kommenden Tage aus. Unwahrscheinlich, daß die Besatzung freigelassen würde ehe das Schiff losgekauft worden war! Sie würden hier Wochen verbringen, bei ungünstigen Verlauf Monate abhängig vom Erfolg der Verhandlungen über Lösegeld. Nach allem was vom Schiff aus und auf dem Landweg hierher gesehen hatte, machte er sich wenig Hoffnung auf den Erfolg bei einem Fluchtversuch. Ein Boot entführen oder eines der beiden Motorräder? Einer der Somalis beobachtete seit sie seit der Ankunft auffällig aufmerksam, sein Gewehr immer in Reichweite zur Hand. Wahrscheinlich wußte der Mann nicht, wie überflüssig die Drohung war. Seine Seite war in der Überzahl, die Gefangenen in schlechtem Zustand und waffenlos. Niemand konnte im Ernst erwarten, den Leuten der “Stolzenfels” stände der Sinn nach Kampf. Eine Flucht zu Fuß kam nicht infrage. Die Burschen drüben in ihrem wassergekühlten Zelt würden auch auf eine Nachtwache nicht verzichten. Außerdem war das Land soweit man sehen konnte flach, menschenleer und lebensfeindlich, ohne Anzeichen für die Aussicht auf ein vernünftiges Versteck. Am ersten Morgen nach einem Fluchtversuch wäre man gefaßt. Selbst wenn sich ein Versteck fände, kam man an Wasser und Proviant, für ein paar Tage nicht heran. Nach allem was man gehört hatte, war das Land in der Hand kriegerischer Klans. Er war Besatzungsmitglied eines gekaperten Schiffes. Sobald das Schiff freikam, wurde auch die dazugehörige Besatzung auf freien Fuß gesetzt. Falls der fehlgeschlagene Versuch zur Flucht ihn in die Gewalt der falschen Leute fallen ließ, machte er sich vielleicht ungewollt zum Pfand einer zusätzlichen Forderung von Lösegeld. Er nahm an, Luc Haanen gingen ähnliche Gedanken durch den Kopf. Stellring hatte sich in seinem Freund getäuscht. Luc sagte matt:
“Wäre jetzt Jenny hier, ich könnte der Lage eine Prise Romantik abgewinnen. Hatte vorhin unverschämte Angst, aber auf unser Leben haben die Brüder es anscheinend nicht abgesehen. Immerhin haben sie Tee gebracht und sogar die richtige Reihenfolge eingehalten: Mannschaft zuerst, dann Steuermann und Kapitän.” Ob Stellring gesehen habe wie Jacob sich geziert hat? Er hoffe, Ibrahim teile den Steuermann so bald wie möglich für eine Arbeit in der prallen Sonne ein. Lachte nicht dabei, er nahm den Spruch wahrhaftig ernst! Stellring fragte den Freund, wie lange, meine er, sitze man in dieser Patsche fest? Lange genug jedenfalls, daß zum Zeitpunkt der Heimkehr sein Urlaub gewaltig überschritten sei. Lucs Chef werde nicht glücklich darüber sein, aber deswegen mache er sich wenig Sorgen. Kein eigenes Verschulden, man erleide gerade Höhere Gewalt! Er hoffe, die Versicherung ziere sich nicht lange, denn von Jennys Treue während seiner längeren Abwesenheit von Brüssel sei er nicht überzeugt. Abhauen? Auf keinen Fall! Man werde persönlich nicht bedroht sondern nur in Gefangenschaft gehalten als das zufällig ins Netz geratene menschliche Zubehör für ein alten Schiff. Hier sei man nach seinem ersten Eindruck in relativer Sicherheit. Ein lebensgefährlicher Fluchtversuch, um ein paar Tagen als Gefangener zu entgehen? Ohne Luc Haanen! Die Bewacher würden den Versuch sicher nicht als Spaß verstehen.
Luc hatte wahrscheinlich recht. Auch ein gemeinsamer Fluchtversuch wäre nicht weniger aussichtslos. Sie standen auf und gingen hinüber zum großen Wassertank hinter dem Eingang der Vorratshütte. Erhielten dort unaufgefordert kleine Krüge überreicht, löschten erst den Durst und gossen dann den Rest wie bei den Einheimischen beobachtet über dem Zeltdach aus. Sie wühlten aus den Rucksäcken Seife und Zahnpasta heraus.
Hansen und Achmad trafen sich zu einer Unterredung. Der Wächter, die Waffe in der Hand, hatte den Kapitän durch eine Geste zum Folgen aufgefordert. Der Kapitän stand dem Entführer seines Schiffes in der großen Hütte gegenüber. Es war kühl im Vergleich zur immer noch starken Hitze außerhalb. Alle hatten bemerkt, daß in der Nähe aber nicht sichtbar ein Generator lief. Kein Zweifel, eine Klimaanlage war in Betrieb, man verfügte hier über Strom. Der Kapitän. Möge bei seinem Reeder Meldung machen, er selbst und die Besatzung seien wohlauf aber in der Gewalt eines Kommandos. Die “Stolzenfels “ liege nahe der Küste vor Anker und sei unversehrt. Er möge Ankündigen, die Organisation nehme in Kürze selbst den Kontakt auf. Nur diese Sätze und nicht ein Wort mehr! Achmad übergab dem Kapitän das Satellitentelephon. Man verband Hansen in der Zentrale mit dem Seniorchef der Reederei, mit dem er sich gut verstand. Gleich nach Hansens Namensnennung überfiel ihn der Mann mit Fragen:
“Ah, Hansen, das Hilfsschiff hat Sie rechtzeitig erreicht? Sie rufen mich von wo aus an? Können Sie frei sprechen oder werden Sie bedroht?” Der Reeder sprach Deutsch mit seinem Kapitän. Hansen konnte noch zurückgeben, er stehe unter bewaffneter Bewachung. Achmad verstand die Sprache nicht. Mit einer unwilligen Geste forderte er zum Gebrauch der englischen Sprache auf.
Hansen kam der Aufforderung nach und sprach das Gewünschte Satz für Satz. Sein oberster Firmenchef hörte die Botschaft. Die Antwort wieder auf Deutsch: die Sicherheit der Leute gehe unter allen Umständen vor. Die Kosten seien wahrscheinlich... Das Gespräch brach ab. Achmad hatte Hansen den Hörer abgenommen und die Verbindung unterbrochen.
Der Kapitän nahm die Maßregelung resignierend hin. Das Kommando übten hier und jetzt andere aus. Die Verhandlung mit der Versicherung würden an ihm vorbei geführt. Der Führungsmann der Piraten hatte erwähnt, eine Organisation stecke hinter der Entführung. Mittelsleute würden eingeschaltet werden. Man würde halb-oder ganz verdeckte Treffen einberufen. Das Ergebnis war absehbar: eine Vereinbarung, mit der die Reederei sich der Erpressung beugen würde. Der Reeder würde darauf bestehen, daß sein Schiff so schnell wie möglich freigegeben wurde. Noch lieber wäre ihm vielleicht eine Entschädigung für Komplettverlust. Er würde für einen anständigen Betrag wahrscheinlich nicht ungern auf den betagten Kahn verzichten.
Die Strafverfolgung interessierte den Reeder jedenfalls nur in zweiter Linie. Man war auf somalischem Staatsgebiet in Gefangenschaft geraten. Der Chef zu Hause wußte, Justiz und Völkerrecht galten wenig bis nichts auf diesem Territorium. Dieses Gebilde Staat zu nennen hieße hochzustapeln. Auf dem Seegebiet vor seiner Küste war nach langem Zögern ein Versuch zum Schutz der Schifffahrt angelaufen. Die „Atalanta“ Mission hatte den Zeitpunkt zum Eingreifen verpaßt. Sein Schiff lag hier vor Anker und Wenn eine Entführung bis nahe an die Küste gelangt war, schien es aus nicht erklärbarem Grund immer für ein Eingreifen zu spät. Warum hatte man bisher nie von einem Angriff auf einen Piratenstützpunkte an Land Piraten gehört?Wahrscheinlich sah die “Atalanta” von solchen Attacken wegen Gefährdung der gefangenen Besatzung ab.
Seine schwache Rolle in diesem Trauerspiel war ausgespielt. Hansen nahm sich erneut vor, er weihe in Kürze Jacob, aber nicht die anderen Leute in die Umstände der Übernahme seines Schiffes ein.
Am nächsten Tag liefen die beiden schnellen Boote wieder aus. Nicht mit den Somaliern bemannt, die die “Stolzenfels” gekapert hatten. Von Süden her waren eine neue Besatzung, acht Mann stark, mit einem kleinen und langsamen Fischerboot am Morgen angekommen. Stellring hatte die Annäherung beobachtet, das Boot hatte sich nahe der Küste gehalten, auf dem leeren, nur schwach bewegten Meer. Der Trupp, der die “Stolzenfels” gekapert hatte, ruhe sich nach dem erfolgreichen Einsatz anscheinend zunächst aus, hatte Luc bemerkt. Nach einer Besprechung mit Achmad und Ibrahim waren die eben erst Eingetroffenen an Bord der Schnellbooten gegangen und hatten sich schnell in Richtung auf das offene Meer entfernt. Das kleine Boot, mit dem sie gekommen waren, ließen sie zurück.
Hansen hatte am Vortag Achmad um eine Vergünstigung gebeten: ob man für die Dauer der Wartezeit seinen Leuten die Rückkehr auf ihr Schiff gestatte? Achmad hatte gelacht und abgelehnt. Er selbst und ein paar andere hätten dort schon Quartier genommen. Daß eine Besatzung wie die der “Stolzenfels” an Land zu bleiben habe, sei eine der Grundregeln seiner Organisation. Nicht aus Angst vor Fluchtversuchen sondern als Schutzvorkehrung gegen die Versuchung Dritter zu einem Angriff auf das Camp von See aus oder aus der Luft.
Achmad habe wieder aufdringlich eine scheinbar noble Haltung herausgekehrt, berichtete er Jacob. Der Aufenthalt in in seinem Land Somalia solle so angenehm für Hansen sein wie von den Umständen erlaubt. Wo immer möglich, sei er zur Erleichterung ihres Aufenthaltes hier bereit. Man habe sicher inzwischen festgestellt, Nahrungsmittel und Getränke ständen ausreichend zur Verfügung. Im Blick auf Hygiene und Bequemlichkeit komme man an Abstrichen natürlich nicht vorbei. Hansen finde binnen kurzem noch heraus, das Leben in den ungewohnten Zelten dieser Region sei kein Behelf aus Mangel sondern den Bedingungen hier draußen bestens angepaßt. Seine Leute hätten über die Jahrtausende darin nicht schlecht gelebt. Achmad habe ihm und Jacob dennoch Hoffnung auf ein Klimagerät gemacht.
Wie lange er die Frist einschätze bis man frei sei? Hinge von der Einsicht der Versicherungen ab. Einige Wochen brauche man meistens bis zu einer Einigung, manchmal würden auch Monate daraus. Er verspreche Hansen, man halte ihn über den Zeitablauf auf aktuellem Kenntnisstand. Ein mindestens scheinbar umgänglicher Mensch also, schon der erste Eindruck sei nicht ausschließlich negativ gewesen.
Der Kapitän vertrieb sich mit Jacob die Zeit durch ungezählte Partien Schach. Brett und Figuren stellte Ibrahim. Die Philipinos führten mit großer Ausdauer Gespräche, die kein anderer verstand und tranken große Mengen heißen Tee. Bei niedrigem Sonnenstand früh und abends gingen sie ein immer gleiches Stück am Strand entlang. Das leere Hinterland in Blickweite des Wächters war schnell erkundet. Die Wache versah immer sechs Stunden lang den Aufsichtsdienst, dann wurde sie abgelöst. Der Auftritt der Somalis zeigte betonte Lässigkeit. Jeder einzelne wußte sehr genau, die Gefangenen hatten keine Aussicht auf Entkommen. Nur anfangs hatten Luc und Stellring sich dem Strandgang angeschlossen, später auf die Teilnahme verzichtet. Lucs Einwand: ein allzu leeres Ritual, der Kraftaufwand lohne nicht. Stellring setzte ein Fitnesstraining fort. Lockerungsübungen, Kniebeugen und Liegestütz, so hatten er und Sarina es jeden Morgen auch während der Tour durch Afrika gehalten. Sie griffen zu Büchern in den Stunden vor und nach dem höchsten Sonnenstand in denen sich die Hitze mit mäßig konzentriertem Lesen noch verbinden ließ. Stellring blätterte in Fachbüchern über Freiheitsbewegungen und wirtschaftlichen Entwicklungsstand in Schwellenländern mit Schwerpunkt südliches Afrika. Seine Abschlußarbeit befaßte sich mit der “Auswirkung religiöser Unterschiedlichkeit auf das Erwerbsverhalten bei ethnisch homogener Bevölkerung”. Er hatte im letzten Jahr viel Zeit auf Lektüre und seinen Text verwendet. Daß er jetzt Überdruß empfand, schob er dem Frust über die andauernde Blockade zu.
Luc vertiefte sich in eine Sammlung von fünf Aufsätzen zum Thema “Statistische Methoden zur Aufdeckung von unterschätztem Schadenrisiko”. Sein Chef hatte ihm die Befassung damit ans Herz gelegt. Er strich einzelne Passagen an und schrieb Notizen an die Ränder. Nach Rückkehr aus dem Urlaub wartete auf ihn die Präsentation einer Studie zum Thema für die Geschäftsführung im Betrieb.
Die Tage zogen sich ohne Abwechslung hin. Keine Neuigkeit über den Stand der Verhandlungen zur Rückgabe des Schiffes. Achmad teilte Hansen nur mit, die Gespräche verliefen zäh.
Der Inhalt der Fachbücher war Stellring längst bekannt. Er entschloß sich zur Pflegef rüher erworbenen Kenntnisse mit Hilfe eines Lehrbuchs für Arabisch. Er war einer von wenigen Studenten mit einer Anfangskenntnis der Sprache. Zwar nicht viel mehr als schwache Erinnerung an eine längst vergangene Zeit, aber sie würde nun aufgefrischt. Er hatte schon früher den Vorsatz dazu gefaßt, aber mangels Zeit und Energie nie umgesetzt. Er führte ein schmales Lehrbuch im Rucksack mit. Arabisch-Kenntnisse würden bei der Arbeitssuche nach dem Studiums von Nutzen sein. Stellring nahm seine Arabisch-Studien im Bewußtsein auf, er schlug die öde Zeit hier nicht nur sinnlos tot.
Er war nicht über die ersten paar Seiten hinausgelangt, da setzte sich Achmad vom Camp und den Bewachten ab.
„Vielleicht der Einsatz in einer neuen Kaperungsaktion?“ hatte Hansen Achmad gefragt ehe der Mann auf dem Rücksitz eines Motorrads davongefahren war. Achmad hatte den Kopf geschüttelt und gelacht. Er werde auf einige Zeit an anderem Ort gebraucht. Vielleicht überbringe er bei der Rückkehr Neuigkeiten zur Freigabe der “Stolzenfels”. Hansen uns seine Leute sollten unbesorgt sein, Ibrahim sei ein braver Kerl. Vielleicht halte er mehr auf Disziplin, als bisher gefordert, aber im Grunde ändere sich für Hansen und seine Leute nichts.
Ibrahim nahm sich der neuen Aufgabe mit Eifer an. Bisher waren seine Kontakte zur Besatzung auf Hansen und Jacob beschränkt gewesen. Im Schachspiel hatten die beiden in Ibrahim einen Gegner gefunden, der ihnen überlegen war. Gewöhnlich setzte er sie je einzeln nacheinander oder auch gleichzeitig gegen beide nach einer viertel Stunde matt. Wenn sie ihre Kräfte am gleichen Brett zusammenlegten, änderte sich allenfalls die Dauer, nicht der Ausgang der Partie.
Nach Achmads Fortgang nahm er Kontakt auch zum Rest der Mannschaft auf. An einem der immer gleich verlaufenden Vormittage traf er Stellring mit seinem Arabisch Lehrbuch an. Ein Buch mit den Schriftzeichen seines Landes in der Händen eines Europäers erschien für ihn ein ungewohnter Anblick. Ibrahim zeigte erstauntes Interesse und leistete Stellring Hilfestellung. Stellrings Problem mit der Aussprache und Betonung einzelner Worte hatten den Lehrmeister in ihm geweckt. Er habe sich in der Schule selbst jahrelang mit dem Erlernen der Sprache abgemüht. Stellring klärte die Herkunft seiner bescheidenen Vorkenntnisse auf: die Jahre im Alter von drei bis sechs Jahren habe er im Orient verbracht. Die Familie war dem Vater zu seiner Arbeitsstelle ins nördliche Pakistan gefolgt. Der Kindergarten hatte ihn aufgenommen, zusammen mit mit Gleichaltrige aus Ländern der Region, aus Amerika und aus Europa. Erste frühe Freundschaften waren entstanden. Ohne davon zu wissen, hätten die Kinder von Privilegien profitiert. Der Vater war bei einer Unterorganisation der UN angestellt gewesen. Man habe in Verhältnissen gelebt, von denen die meisten Einheimischen im Norden Pakistans damals wie heute nur träumen konnten. Für Stellring war die Zeit in guter Erinnerung geblieben. Von einem der Spielgefährten damals hatte er sich etwas Paschtu von einem anderen ein paar Brocken Arabisch abgehört. Manchmal habe er zum Erstaunen der Eltern den Dolmetscher gespielt, hatte man ihm später davon erzählt. Er selbst erinnerte sich nicht daran. Man habe ihn mit vorgeblichem Neid geneckt, daß sich der Sohn in der Landessprache leichter zurechtfand als man selbst. Mit Erreichen des Schulalters war die Familie nach Deutschland zurückgekehrt. Den größten Teil des Paschtu, der Landessprache in der Umgebung von Peschawar und die paar Wörter Arabisch, hatte Stellring ebenso schnell wieder vergessen wie zuvor gelernt.
Ibrahim war beeindruckt. Das seien Startbedingungen, von denen er und seine Leute nur träumen könnten, sagte er. Er habe dagegen nur wenig Hoffnung auf Besserung und weniger Armut in seinem Land. Der Mann, der Stellring Lernhilfe anbot, zeigte sich auch an Grundsätzlichem interessiert! Wenn er sein Land voranbringen wolle, warum nähme Ibrahim dann an kriminellen Aktionen teil? Stellring war mit dem Vorwurf anscheinend zu weit gegangen. Ibrahim reagierte beleidigt. Er wechselte die Tonart und sagte Stellring selbst möge sich über die Antwort Gedanken machen. Wo eine Notlage auftrete, sei auch Notwehr erlaubt. Die Aktionen seiner Organisation seien nicht kriminell sondern Kampfeinsätze. Jeder einzelne sei gerechtfertigt als Maßnahme zur Sicherung der Lebensbasis für sein Volk. Die Worte erschienen Stellring hochtrabend und hohl. Er richtete den Blick auf das Camp, die Zelte und Hütten samt dem verbliebenen Motorrad unter einem Sonnendach. Ein Stück weit seitab draußen lag die “Stolzenfels” vor Anker. „Kampfeinsatz“, die Bezeichnung werde dem Ablauf wie er ihn erlebt hatte nicht gerecht. Ein Angriff aus dem Hinterhalt der grenzenlosen Wasserwüste, gerichtete gegen ein waffenloses Schiff! Das sei kein Heldenstück gewesen sondern Piraterie. Ibrahim blickte ihn zornig an, drehte sich um und ging.
Stellring nahm auf die Decke unter dem Zeltvordach neben Luc Haanen Platz. Immerhin, meinte der Freund, der neue Aufsichtschef mache sich auch mit Mannschaften gemein. Er zeigte das Bedürfnis nach Ruhe an, legte seine Notizen zur Seite und gähnte hinter vorgehaltener Hand. Stellring setzte sich über den Wunsch hinweg. Ibrahim brüste sich mit der Entführung der “Stolzenfels”, trage wortreich Rechtfertigungsgründe vor. Er selbst finde keine. Lucs Meinung dazu? Der Freund zeigte noch einmal Unversöhnlichkeit: immerhin hätten die Burschen mit ihrer Aktion dem arroganten Steuermann Jacob einen Denkzettel verpaßt. Auch er gewinne übrigens der Entführung inzwischen positive Seiten ab: sammle praktische Erfahrung mit einem interessanten Versicherungsfall. Wünschte sich, er wäre selbst bei den Verhandlungen über die Schadensabwicklung dabei. Luc mache sich Gedanken, wie weit der Kapitän aus Sicht der Versicherung richtig gehandelt habe. Er meine, allzu schnell habe das Schiff sich nach der Kaperung den Absichten der Kaperer gefügt. Das Risiko einer gewaltsamen Übernahme habe man bei der Auslegung der Technik möglicherweise nicht ausreichend bedacht. Bei größerem Zeitaufwand bis zur Aufnahme der Steuerung durch die Piraten wäre die “Atalanta” nicht zu spät gekommen! Bei dem Vortrag zu Hause in Brüssel gehe es in seinem Job um die Einschätzung von Risiken. Bei jedem Versicherungsunternehmen entscheide das Risikomanagement über Wohl und Wehe. “Risikomanagement, ein großes Wort”, spottete Stellring. Er nehme als Laie an, dahinter stecke mehr Anspruch als Substanz. Luc ärgerte sich über Vorbehalte gegen seine Branche. Statistik und Erfahrungsberichte erlaubten die sinnvolle Abschätzung von Gefahren. Selbst habe er bisher mit der Sparte Seefahrt aber keinen Kontakt gehabt. Im Vergleich zu anderen sei der Zweig maritimer Versicherungen lukrativ. Jeder neue Bericht in den Medien über Probleme mit Piraten wirke sich günstig auf die erzielten Prämien aus. Zufällig gehe in einem Abschnitt seiner Vortragssammlung ein Verfasser auf einen Fall ähnlich wie ihren ein. Glimpflich abgelaufen für alle Beteiligten. Die Versicherung habe nach neun Wochen gezahlt. Er bringe selbstverständlich nach der Rückkehr seine Erfahrungen für die Fachwelt ein. Luc hatte abgelenkt. Ob eine Schiffsentführung unter besonderen Umständen moralisch vertretbar sei?, beharrte Stellring. Luc blickte verständnislos. Die Temperatur lastete schwer auf den Eingeschlossenen im Camp.
“Ich wiederhole, ein Vortrag mit Realitätsbezug! Nur für die Fachwelt fast zu schade. Verkaufen wir doch unsere Story an ein Magazin.” Stellring winkte ab:
“Brächte sicher ein schönes Honorar. Aber geben wir uns keiner Illusion hin, ohne mit ein paar Photos ist ein Bericht für die Medien ohne Wert. Deine Kamera hat Jenny im Flugzeug mitgenommen, bei meiner ist die Batterie entladen.” Stellring fürchtete, dies war ein schlecht gewählter Zeitpunkt für ein vernünftiges Gespräch. Die Hitze war zu stark.
“Moralisch vertretbar oder nicht?” fragte er noch einmal nach. Luc musterte ihn besorgt. Meinte Stellring die Frage wirklich ernst? Der Reisekamerad Stellring redete dummes Zeug! Auch die Ration von zwei Litern Wasser am Vormittag hatten für erträgliches Befinden jetzt in der Mittagszeit nicht gereicht. Für eine tiefsinnige Debatte waren Zeitpunkt und die eigene Verfassung ungeeignet. Man hatte gemeinsam festgestellt, der Umstieg auf Tee brachte keine dauerhafte Verbesserung. Warum um alles in der Welt servierte man ihnen nicht endlich auch ein Bier?”
“Lassen wir es gut sein, Gerd, die Hitze setzt uns zu. Zeit für Siesta, nicht für Streit über moralische Aspekte der Piraterie.”
Am nächsten Vormittag suchte Stellring selbst den Kontakt zu Ibrahim. Der Wunsch nach Gedankenaustauschtrieb ihn dazu, weniger die Aussicht auf Hilfe im vierten Kapitel seines Sprachlehrbuchs.
Wie das gemeint gewesen sei gestern mit dem Bezug auf die Lebensbasis hier? Ibrahim machte eine wegwerfende Handbewegung. Anscheinend fühlte er sich zur Weiterführung der Unterhaltung vom Vortag nicht aufgelegt. Wiederholte dann, Stellring solle sich seine eigenen Gedanken dazu machen. Der gab zurück, er habe über das Gespräch von gestern nachgedacht und glaube jetzt, er käme an einer Abbitte nicht vorbei. Ibrahim blickte erstaunt auf. Er gab seine Zurückhaltung anscheinend auf und zeigte Interesse für die Vorgeschichte seiner Gefangenen:Stellring und sein Freund hätten in den letzten Wochen mehrere Länder Afrikas besucht. Welche Reiseroute habe man gewählt? Stellring beschrieb die lange Fahrt von Kairo bis herunter nach Maputo und später zurück nach Beira. Erwähnte, ihre Gruppe sei nicht im Hotel abgestiegen sondern wenn möglich im billigeren Hostel, die Hälfte der Zeit habe man in Zelten übernachtet. Drei Nächte seien man Gast im Dorf eines Freundes aus dem Sudan gewesen, mit dem Luc Freundschaft geschlossen hatte. Habe man auf dem Weg nach Süden auch Somalia besucht? Leider nein, aber das hole man ja gerade eben nach. Ibrahim ersparte sich ein Lachen.
Er wollte wissen, wie Stellring die Lebensbedingungen in Afrika einschätze im Vergleich mit denen bei ihm in Europa? Stellring gab die Eindrücke nach bestem Wissen wieder: es sei für keinen zu übersehen, die meisten Menschen seien arm. Fast immer sei man ihm dennoch mit Freundlichkeit begegnet. Materiell kein leichtes Leben für die Allermeisten, in dieser Hinsicht anders als für die Mehrheit in seinem Land. Man habe nicht erlebt, daß Menschen gehungert hatten. Mit leerem Magen gehe anscheinend kaum einer am Abend schlafen. Woher dann das Recht auf den Irrweg der Piraterie auf Hoher See?
„In dieser Hinsicht anders als bei euch zu Hause?“ Ibrahim schüttelte ungläubig den Kopf.
“Eine schwere Untertreibung, Stellring, Somalia ist noch ungleich übler dran als die Länder, die Ihr gesehen habt. Man weiß hier über das Leben bei Euch Bescheid. Fernseher sind trotz Armut in Somalia weit verbreitet. Manche geben ihr knappes Geld dafür statt für ordentliches Essen ihrer Kinder aus.”Alles vielleicht nicht ganz falsch aber einseitig gesehen, dachte Stellring. Was ging ihn der Unverstand anderer Leute an? Er sagte:
“Jedenfalls haben wir in den letzten vier Wochen von den Leuten in den Nachbarländern mehr Lachen gehört als im letzten Jahr vorher zu Hause. Wer so häufig lacht wie viele hier, zeigt, daß ihm nichts Wesentliches fehlt. Gesundheit, ein gutes Gefühl im Bauch bei Wärme statt kaltem Nebelwetter ersetzen das, was manche bei uns im Norden sich an Luxus leisten.”
Ibrahims Kopfschütteln hielt an. Er nahm die Agitation vom Vortag heftig wieder auf.
Ehe er zur Organisation gestoßen sei, habe ein Onkel im Dorf jämmerlich verhungern müssen. Ob Stellring sich eine Vorstellung machen könne, wie das ein Angehöriger erlebt? Ein älterer Cousin habe sein zweites Kind begraben. Der Vater habe mit angesehen, wie es mangels Geld für Arzt und Medizinzugrunde gegangen sei. Wieviele Kinder Stellring habe? Keine? Dann allerdings fehle ihm wahrscheinlich Verständnis und Phantasie für die elende Situation von Eltern mit dem Bewußtsein, daß man den Kindern zu viel schuldig blieb. Weil Stellring betreten schwieg, fuhr Ibrahim bitter fort:
Stellring habe sich auf oberflächliche Beobachtungen beschränkt. Sein Begleiter und er verfügten weder über klaren Blick noch Einfühlung. Vom sorglosen Leben junger Leute habe er sich blenden lassen. In späteren Jahre werde die Armut auch für jetzt Junge bitter sein. Weder Ausbildung noch Arbeit, kein Geld, Krankheit von Angehörigen! Stellring möge seine Phantasie bemühen dann male er sich leicht aus, wie es sich in den Hütten lebt. Er, Ibrahim hätte von einem verständigen Besucher erwartet, daß er den Blick auch hinter die Oberfläche wirft. Er hatte noch nicht geendet. Stellring räusperte sich. Er schob seine Gegenrede ein Stück hinaus.
Ibrahim seien Berichte über sein Land aus Übersee bekannt. Natürlich habe die Regierung in den Zeiten versagt als es noch einen Rest Ordnung im Land gegeben habe. Der Stand der Entwicklung in Somalia sei extrem schlecht, nicht zu vergleichen mit denen in Tansania oder in Kenia. Keine Macht weit und breit, die für ein Minimum von Recht und Ordnung sorgt! Das Land stehe seit Jahren im Bürgerkrieg und leide jetzt wieder unter einer Dürre. Eine Strafe Gottes, die sich regelmäßig wiederholt! Stände Geld für den Bau künstlicher Bewässerung zur Verfügung, brauchte wenigstens diese weitere Katastrophe nicht zu sein.
Stellring fühlte sich belehrt. Kein zweifel, Ibrahim gehörte zu einem anderer Menschenschlag als von vielen Begegnungen in Überlandbussen und Hostels gewohnt! War er erst hier auf das Afrika der Erwachsenen gestoßen? Der Pirat, gab ihm eine Lektion in Landeskunde abseits touristischer Interessen. Der Mann war nicht älter als er selbst. Wahrscheinlich längst verheiratet und Vater kleiner Kinder sonst hätte er sich nicht gerade eben nicht so echauffiert. Jedenfalls ein nachdenklicher Typ. Der Tiefgang nur vorgespiegelt oder echt? Vielleicht war die Rechtfertigung für die Anarchie zur See, von der er zu leben schien, nicht nur vorgeschoben. Stellring fiel eine noch gar nicht vorgebrachte Beschwerde ein: er hatte mehrfach gelesen, der Einsatz großer Flotten aus den Industrieländern habe die Küstenfischerei auch in den Fanggründen am Horn von Afrika ruiniert. Ibrahims Klage hatte zu Teilen Anspruch auf Verständnis. Die Zeiten spielten seinem Land derzeit besonders übel mit.
Laut sagte er, die Gründe hätten ihn nachdenklich gemacht. Ibrahim habe wahrscheinlich recht, repräsentativ für die Mehrheit seien die Kontaktpersonen auf der Reise bisher nicht gewesen. Man habe vielleicht überwiegend einseitig Erfahrungen gemacht. Ibrahim Er solle versichert sein, er, Stellring, und seine Begleiter hätten die Augen vor negativen Reisebildern nicht verschlossen. Besonders die Mädchen hätten immer Einfühlung gezeigt und Sympathie für die Menschen bewiesen, denen es nicht gut gegangen sei. Er kam dann auf den Stand der Verhandlungen zu sprechen. Wann mit der Freigabe des Schiffes zu rechnen sei? Ibrahim blieb einsilbig. Entweder er war nicht informiert oder er hielt sich anders als Achmad dem Kapitän gegenüber mehr zurück. Er warf einen Blick in Stellrings Sprachlehrbuch. Sagte, nach seiner Erfahrung käme man ohne viel Ausdauer nicht voran und wollte gehen.
Immerhin schien die Bemerkung ein Zeichen der Anteilnahme, dachte Stellring.
“Ein Wort noch”, begann er vorsichtig, er nehme an, diese Verhandlung, Ende nicht absehbar, liefen unabhängig davon, ob die Besatzung vollzählig gefangen sei. Er denke über eine Flucht nach Hause nach. Er hoffe, Ibrahim verstehe ihn nicht falsch. Anzunehmen, im umgekehrten Fall erginge es einem Somali als Gefangener im fremden Land nicht anders!
Ibrahim verzog das Gesicht zu einem Grinsen. Bisher war der Andere verständig aufgetreten und hatte den Anschein von Lernfähigkeit erweckt, jetzt schien es, er hatte den Verstand verloren. Diese Leute aus dem Norden vertrugen Hitze nicht! Stellring wartete gespannt auf Antwort. Er hatte provoziert. Wenn der Somali der ersten Entrüstung nachgab und dabei blieb, war der halb fertige Plan schon zu Beginn gescheitert. Infrage käme die Flucht vom Camp natürlich nur im Einvernehmen, schob er schnell als Erklärung nach. Er denke sich zur Piste durchzuschlagen, Von dort per AutoStopp bis an die Grenze zu Äthiopien! Auf Stellring warteten dringende Termine: der Abschluß der Ausbildung, Freundin und Familien sorgten sich um ihn. Dieser Aufenthalt hier bringe alle Pläne durcheinander.
Der neue Leiter im Camps hatte den Ernst von vorher abgelegt und lachte laut heraus.
“Ein merkwürdiger Sinn für Humor! Unsere Aktion bringt also Termine durcheinander. Ich sage Dir, es gibt weit Wichtigeres für meine Leute als einen verschobenen Termin. Dein Freund Luc hat gestern wegen eines Gesprächs nach Brüssel nachgefragt. Es wird Zeit, Ihr macht Euch klar, Ihr seid hier in Kriegsgefangenschaft. Jeder unserer Leute hat bei kleinstem Anlaß Schießbefehl. Ihr solltet verstanden haben, wir verstehen keinen Spaß.”
Stellring wiederholte die Versicherung, sein Vorhaben setze das Einverständnis der Somalier voraus. Er hoffe, man betrachte ihn nicht mehr als Feind. Er jedenfalls verhehle sich nicht mehr die Sympathie für Ibrahims Sicht der Dinge. Die Zahlung für das Schiff sei von der Freilassung einzelner Mitglieder der Besatzung nicht berührt. Über den Ort und Zeitpunkt der Entführung wisse die Welt ohnehin Bescheid. Mittels Satellit sei auch die jetzige Ankerstelle der “Stolzenfels”aufgeklärt. Er verpflichte sich im Voraus, nach geglückter Heimkehr gebe es von Stellring keinen negativen Kommentar zur Entführung und zur Behandlung im Camp.
Er hatte die Bereitschaft zu Ibrahims Entgegenkommen überschätzt. Der Somali gab zu erkennen, er mache bei einem frivolen Gedankenspiel nicht weiter mit:
“Zur Erinnerung, mein Freund, und damit es zu keiner Fehleinschätzung kommt: auf die nächsten hundert Kilometer im Umkreis findet sich hier keine Menschenseele, auf die ein Flüchtling zählen kann. Selbst wenn Du nachts unbemerkt wegläufst, hast Du bei Tagesanfang nicht mehr geschafft als dreißig Kilometer. Die Wüste zeigt tagsüber Leuten ohne Sonnenschutz und Orientierung ein häßliches Gesicht. Mein Ratschlag an alle mit einem dringenden Termin zuhause: zeigt Geduld und haltet die Gefangenschaft noch eine Weile aus.”
Mit Luc war der Vorstoß nicht abgestimmt gewesen. Stellring überraschte ihn in der Hitze des Mittags mit seinem Bericht über das vorher geführte Zwiegespräch. Luc zeigte für das Vorhaben kein ernsthaftes Interesse. Er erkenne nicht mehr als, wohlwollend geurteilt, eine Schnapsidee. Stellring zeige trotz erzwungenem Verzicht auf Alkohol, seine Phantasie sei völlig überhitzt, sein Plan ohne jede Realisierungschance. Er seufzte und dosierte sorgfältig kleine Schlucke Tee. Wie der Vorschlag bei Ibrahim angekommen sei? Er bewunderte die souveräne Reaktion des Afrikaners. Erstaunlich, daß dem Mann das Ansinnen nicht in den falschen Hals geraten sei! Wahrscheinlich habe auch er an einen Scherz geglaubt. Er schloß den Kommentar mit der Frage, ob Stellring seinen Vorschlag in ihrer Lage für moralisch vertretbar halte? Stellring überhörte den Hohn und lieferte sachlich Argumente nach. Die Chancen ständen besser wenn man sich das Motorrad zunutze mache. Ob Luc in diesem Fall zur Teilnahme an einer Flucht bereit sei? Ein klares Nein! Auch dies Detail mache den Plan nicht besser. Der Zündschlüssel liege nicht frei herum. Ihn mit Gewalt beschaffen? Die Anderen seien in der Überzahl und hielten ständig Schießeisen griffbereit. Bisher habe nach einer Entführung noch niemand Leute der Besatzung umgebracht. Er verspüre kein Verlangen nach einer kurzen flucht. Man ende erschossen oder verdurstet im Wüstensand. Stellring möge Vernunft annehmen, hier habe man Wasser und Verpflegung und sitze selbstverständlich die Sache weiter aus.
Am nächsten Abend kehrte Achmad als Sozius hinter einem Somali als Fahrer auf dem Motorrad ins Camp zurück. Er sah staubig und müde aus. Zog, kaum abgestiegen, Ibrahim in den klimatisierten Verschlag vor dem Antennenstand. Als erster der Schiffsbesatzung gelang Hansen am folgenden Morgen ein Gespräch. Achmad habe für den Kapitän keine Neuigkeiten. Die Verhandlungen zögen sich hin, wenn auch nicht länger als sonst gewohnt. Man nehme einen positiven Ausgang noch vor Ende Winter an. Hansen und die gestrandete Besatzung waren enttäuscht. Weihnachten stand an und man vertröstete sie auf unbestimmte Zeit. Der Kapitän spendete seinen Leuten schwachen Trost. Möglich sei immer auch ein früherer Termin. Die Zeit werde ihm selber lang, aber die Befreiung stehe schließlich völlig außer Zweifel. Er garantiere, die Heuer werde auf Heller und Pfennig nachgezahlt.
Das bedeute wie viel für seinen Freund und ihn, fragte Luc. Der Kapitän wehrte unwirsch ab. Luc möge einsehen, daß Führung und Mannschaft in dieser Lage besonders aufeinander angewiesen seien. Ständige Stichelei sei fehl am Platz. “ Wie viel also, wie hoch ist unsere Heuer?“ “Maul halten”, brüllte Jacob ihn laut an. Zehn Jahre jünger als Hansen, hielt auch er die Gefangenschaft schlecht aus. Das Motorrad hatte erst am Vortag Nachschub an Verpflegung ins Camp gebracht. Man ernährte sich nicht schlecht aber Jacob war abgemagert, die Fertigportionen einheimischer Speisen aus einer Kühleinrichtung im Besprechungszelt bekamen dem Magen nicht. Hansen machte sich Sorgen um seinen Steuermann. Man mußte hoffen, er würde unter den schwierigen Umständen hier nicht ernstlich krank.
Einen Tag später wurde Stellring zu einem Besuch bei Achmad und Ibrahim in der Führungsbaracke aufgefordert. Nur Hansen war diese Ehre bisher zuteil geworden. Er hatte danach berichtet, die schäbige Hütte werde klimatisiert. Die Anlage nicht übermäßig wirksam, aber angenehm im Vergleich zur Mittagshitze in der Außenwelt! Die Sonne brannte vor dem Zeltdach hart auf grauen Sand und Schutt. Zu dieser Tageszeit hielten auch Einheimische es nur im Schatten aus. Stellring wußte, noch mindestens zwei Stunden hielt diese Tageszeit der täglichen Bedrückung an. In der Baracke angenehme Wärme aber es war hier nicht mehr heiß. Die Temperatur ähnlich angenehm wie an einem schönen Sommertag zuhause! Auf einem Tisch in der Mitte des dunklen Raumes standen außer eine Kanne Tee drei bauchige Gläser, jedes in Reichweite einer Sitzgelegenheit. Im Hintergrund erkannte er ein Regal mit dunklen Kästen, an einer Stelle flackerte ein schwaches Licht, vielleicht die Leuchtanzeige an einem Funkgerät. Stellring nahm auf einem Holzstuhl den beiden Somalis gegenüber Platz. Achmad eröffnete das Gespräch:
“Sie sind Student, hat mit Ihr Kapitän gesagt.”
“Student mit dem Wunsch, diesen Aufenthalt bald zu beenden, hatte ich zu Ibahim schon gesagt.” Achmad deutete ein Lachen an.
Ibrahim habe ihm von Stellrings Plan berichtet. Auch daß er Verständnis für die Entführung geäußert habe. An die Frage nach dem Stand der Studien für Arabisch schloß sich eine entspannte Unterhaltung an. Ein Gedankenaustausch ähnlich dem mit Ibrahim drei Tage vorher wiederholte sich. Dann fiel der Satz, auf den Stellring gewartet hatte: Achmad schließe eine vorzeitige Entlassung aus der Gefangenschaft nicht aus. Aus diesem Grund habe er Stellring hergebeten. Wenn man sich einig werde, nehme Achmad einen Versuch auf seine Kappe.
Stellring frohlockte. Der Chef der Piraten ließ sich auf die Idee seiner vorzeitiger Heimkehr ein! Anscheinend hatte er sich von Ibrahim überzeugen lassen, die Geisel Stellring sei von der gerechten Sache der Geiselnehmer überzeugt. Der Anführer der Piraten erweckte den Eindruck von Entschlußkraft. Stellring spürte spontane Sympathie.
Allerdings erwarte man eine Gegenleistung, schränkte Achmad ein. Die vorzeitige Freilassung geschähe nicht allein aus Sympathie. Stellring müsse seinerseits ihm, Achmad, entgegenkommen. Er verspreche sich nach Stellrings Rückkehr positive Wirkung auf die öffentlichen Meinung über die Probleme in seinem Land. Er erwäge die Zusage vorläufig noch ohne Zustimmung seiner Organisation und verheimliche Stellring nicht, das Vorhaben werde mit Gefahren verbunden sein.
Stellring hatte aufmerksam zugehört. Er sehe sich als Mann ohne übermäßige Ängstlichkeit, mit guten Nerven und einem Grundwortschatz Arabisch ausgestattet. Wie er herauskomme aus dem Camp und welches Entgegenkommen von ihm erwartet werde? Er betone nochmal ausdrücklich, einmal zurück in Freiheit, gebe es von seiner Seite zur Entführung kein böses Wort.
Das erwarte man als Selbstverständlichkeit. Als Gegenleistung reiche dieses Versprechen nicht aus, sagte Ibrahim. Nach gelungener Flucht erwarte man für die Medien eine positive Schilderung des Camps und die Versicherung, daß hier mit den Geiseln schonend umgegangen werde, außerdemein entschiedenes Abraten von Versuchen zu ihrer Befreiung mit Gewalt. Falls die “Atalanta” mit dem Gedanken an gewaltsame Aktionen spiele, solle sie vorab wissen, nicht nur Somalier würden die Opfer sein. Alle Gefangenen der Organisation hielten sich immer in direkter Nähe ihrer Leute auf. Die Zeit für weitere Einzelheiten sei jetzt noch nicht reif. In ein paar Tagen wisse Achmad mehr und komme damit auf Stellring zu. Die Unterredung war beendet. Zu Luc zurückgekehrt, teilte Stellring ihm wie drei Tage zuvor den Inhalt mit.
Ungläubigkeit war Lucs erste Reaktion! Dann wiederholte sich der vorher schon einmal geführte Dialog. Stellring lasse sich auf gefährliche Abenteuer mit ungewissem Ausgang ein. Stellring hielt dagegen. Uneingeschränkt wohl sei auch ihm bei dem Gedanken an ein Abenteuer nicht. Er halte die Untätigkeit nicht länger aus. Die Gefangenschaft dauere vielleicht noch ein halbes Jahr. Er habe sich als Student viel Literatur über Sicherheitsfragen in Entwicklungsländern einverleibt. Nach der Theorie aus Büchern winke Gelegenheit zu praktischer Erfahrung. Risikomanagement sei jetzt gefragt. Er lachte als Luc säuerlich das Gesicht verzog. Wenn Achmads Organisation ihm einen Passierschein schreibe, erscheine das Risiko beherrschbar.
Luc wehrte weiter ab. Ob Stellring glaube, in diesem Land reiche ein einziger Passierschein aus? Er wisse nicht viel über Somalia, aber eines doch mit Sicherheit: das Land leide an Haß und Gewalt zwischen verfeindeten Milizen. Die Clans kontrollierten nur kleine Teilgebiete und auch diese oft nur auf Zeit. Man bekämpfe sich gegenseitig bis aufs Blut und Stellring wage sich mit einem nicht lesbaren Papier bewaffnet zwischen die Fronten in einem ihm unbekannten Land. Er halte es für Irrsinn, sich solchen Gefahren auszusetzen. Stellring war nicht unbeeindruckt. Er sagte, Luc greife den Dingen zu weit vor. Noch warte er auf Klärung der Details.
Ibrahim kam aus der Chefbaracke herüber und übergab ihm einen in arabischer Sprache gedruckten Koran. Wenn es Stellring ernst mit seinen Plänen sei, habe Achmad gesagt, möge er sich so gut wie möglich darin orientieren. Es werde ihm auf seinem Heimweg von Nutzen sein. Ibrahim bot auch für diese Lektüre seine Hilfestellung an.
Stellring beherzigte Achmads Rat. Er nutzte die reichlich vorhandene Zeit und Fortschritte blieben nicht aus. Ibrahim begleitete Lesen und Rezitieren jedes neuen Abschnittes mit steigendem Respekt. Achmad war zwei Tage nach der Unterredung wieder weggefahren und blieb lange aus. Das Warten auf die nächste Besprechung zum gemeinsamen Projekt fiel Stellring trotz Ablenkung durch die Arbeit an der neuen Sprache schwer. Die Tage zogen sich ohne Abwechslung hin. Hatte man Achmad das Projekt an höherer Stelle abgelehnt? Die Schiffsbesatzung war im Camp isoliert. Kein Radio, kein TV!Ibrahim besaß ein kleines Radio. Zusätzlich gab es mit Sicherheit Funkeinrichtungen in der Chefbaracke, von denen man nichts wußte. Es wäre ein Leichtes für Ibrahim, ein paar Neuigkeiten von außerhalb mit den Gefangenen zu teilen! Mit dem Transistorgerät wäre man auch in diesem verlassenen Winkel Afrikas in Minuten über das Nötigste informiert, aber Ibrahim sperrte sich. “Jacobs Verwandter im Geist”, regte Luc sich vergeblich auf. Ibrahim befolgte anscheinend die Anweisung, ihnen jede Verbindung mit der Außenwelt vorzuenthalten. Weder Kapitän und Steuermann noch die Mannschaft der “Stolzenfels” brachten ihn von seiner entschiedenen Haltung ab. Ohne Kontakt nach außen fiel man schnell aus der Zeit. Hansen und Luc zählten sorgfältig die eintönig verstreichenden Tage ab. Strichlisten dienten ihnen als Ersatz für den fehlenden Kalender.
In Europa war Winter, womöglich lag zuhause Schnee. Hier begleitete den Fortschritt der Jahreszeit ein kaum merklicher Wechsel der Witterung. Die Luftbewegung blieb schwach, das Meer immer gleich in seiner trägen Ruhe aber die Mittagshitze hatte zuletzt nachgelassen. Hansen stellte erleichtert fest, Jacobs Gesundheit stabilisierte sich. Der Kapitän dachte mit Sorge an die heißere Jahreszeit wenn die Gefangenschaft noch bis ins Frühjahr dauern sollte.
Zwei Mann der Bewachung fuhren alle drei Tage mit dem Boot ein Stück weit raus aufs Meer zum Fischen. Auch die Geiseln wurden am Fang beteiligt, eine willkommene Abwechslung von der aufgewärmten Tiefkühlkost! Am 5. Januar kam Achmad zurück, aus gleicher Richtung und mit gleichem Fahrzeug wie beim letzten mal. Er zog sich gleich nach der Ankunft zusammen mit Ibrahim zurück in die Chefbaracke. Erst ein paar Stunden zuvor hatten die beiden Schnellboote wieder angelegt. Die Besatzung war ausgestiegen und hatte zwei neu aufgestellte Hütten hinter dem Camp bezogen. Zwei Somalier waren allem Anschein nach verwundet. Einer hatte eine geschwärzte klebrige Binde um den Bauch gebunden, der andere einen Verband am Oberschenkel, er hatte stark gehinkt. Wahrscheinlich gestehe man den Verwundeten ärztliche Behandlung, den anderen eine Erholungspause vor dem nächsten Einsatz zu, hatte Luc gesagt.
Am nächsten Tag kehrte auch das kleine Fischerboot zurück, dieses mal war es vorher nicht zum Fischfang ausgelaufen sondern war volle zwei Tage ausgeblieben. Zehn Afrikaner stiegen aus. Fünf waren unbewaffnet, die anderen hielten je ein Gewehr zur Hand. Sie wirkten frisch und ausgeruht. Wahrscheinlich stand ihnen eine Kaperfahrt bevor. Die Männer ohne Waffe fuhren gleich nach der Ankunft das kleine Stück zur “Stolzenfels” hinaus und legten an. Jeder im Camp konnte sie leicht beobachten. Man schlug Pakete um. Teile der Ladung oder die Reste des Proviants, die man in Baira oder vorher eingelagert hatte?Weder Stellring noch Luc wußte genau, was die “Stolzenfels” geladen hatte. Hansen hatte an ihrem ersten Tag an Bord vage erklärt, man habe auf der Hinfahrt große Machinenteile nach Südafrika gebracht und fahre jetzt mit sperrigem Stückgut zurück. Nichts, was für die Entführer hier ohne die Möglichkeiten zum Abtransport von Interesse war. Falls es um den Proviant ging, kam der Zeitpunkt reichlich spät! Luc sagte, er nähme an, man habe die Vorräte an Lebensmitteln schon längst vorher geplündert. Wenn wider Erwarten nicht dann hoffe er jetzt endlich auf ein paar Kästen Bier.
Der Wunsch blieb unerfüllt. Ein paar Stunden nach Ankunft der zehn neuen Leute brach im Lager am Nachmittag Bewegung aus. Alle Afrikaner ausgenommen die Bewachung der Geiseln versammelten sich auf dem Platz vor der Zentralbaracke. Man stellte sich in gerader Reihe rechts vor der Zentrale auf. Die Rückkehrer aus den Schnellbooten wirkten älter als die zehn vom Fischerboot. Sie zeigten auch weniger Neugier auf die Anstehende Zeremonie. Minuten später trat Achmad aus aus der Baracke und nahm die kleine Parade ab. Die Männer mit Gewehr präsentierten ihre Waffe wie auf einem Kasernenhof, einige hantierten mit geschnitzten Attrappen als Ersatz. Stellring unterdrückte Gefühl der Belustigung. Er hielt nicht viel von kriegerischen Ritualen, verstand nichts von dem was hier vor sich ging. Dem Wehrdienst zuhause war er mit etwas Glück entgangen. Der Eindruck reichte für ein Urteil dennoch aus: die Männer in zerbeulter Hose und T-Shirt hatten wenig Ähnlichkeit mit dem Bild, das man sonst mit Militär verband. Ibrahim stand ein Stück weit seitlich vor der Front. Er stieß einen lauten Ruf aus und alle Mann gleichzeitig führten die gestreckte rechte Hand in Höhe der Schläfen zu einem Gruß. Achmad reckte sich mittig vor der Reihe in Positur. Er setzte zu einer Ansprache an seine Männer an. Die Beobachter sahen aus der Entfernung nur Mundbewegungen, Worte ließen sich wegen des Windes in Gegenrichtung nicht verstehen. Der Kommandeur sprach einige Minuten lang. Keine Bewegung seiner Soldaten während dieser Zeit. Ibrahim gab ein neues Kommando, die Front quittierte es mit einem trotz der Brise vernehmbaren Hurra. Luc zeigte sich beeindruckt:
“Hut ab, hätte ich nicht erwartet. Die Burschen zeigen richtig Disziplin.” Der Vorgang war noch nicht beendet. Achmad schritt die Front ab und reichte jedem einzeln die Hand. Bei den Verwundeten blieb er eine Weile länger stehen, fragte wahrscheinlich nach dem Befinden oder danach wie es zu der Verwundung gekommen war. Beide erhielten ein aufmunterndes Klopfen in Schulterhöhe auf den verblichenen Stoff der Uniform. Achmad trat ein weiteres mal mit einem Schlußwort vor seine Leute, dann löste sich die Truppe der Afrikaner langsam auf.
Nicht lange danach saß Stellring zum zweiten Mal dem Kommandeur in der Zentralbaracke gegenüber. Ibrahim hatte ihn wieder persönlich eskortiert. Achmad kam schnell zum Thema: die Organisation habe dem Vorschlag zugestimmt. Stellrings Rückreise auf eigenes Risiko stehe nichts im Weg. Er erinnerte an das Versprechen über den zugesagten Auftritt nach der Rückkehr: Man erwarte öffentlich geäußert positive Kommentare über die gute Behandlung der Gefangenen im Camp. Ein Computer-Stick werde ihm dazu zur Verwendung zuhause anvertraut. Beleg für das Wohlbefinden der Schiffsbesatzung und als Warnung gegen jeden Versuch gewaltsamer Befreiung! Die Organisation sei wegen der EU-Mission besorgt. Vor Angriffen auf die Stützpunkte an der Küste sei “Atalanta” bisher zurückgeschreckt. Man nehme an, den Militärs der EU sei ein Camp wie dieses hier den Aufwand für Präzisionsbombardements nicht wert. Wenn überhaupt, befürchte man eine Attacke mit Bordgeschützen aus geringer Höhe. Der stände man nicht schutzlos gegenüber, getarnte Flak-Geschütze seien in der Nähe der Unterkunft für die Gefangenen aufgebaut. Es wäre von Vorteil für alle Beteiligten, die Wirkung der Abwehr werde mangels Attacke nicht erprobt. Er fasse sich kurz, der Stick enthalte Photos der Geschütze und Aufnahmen der Sprengladungen im Schiff. Die Kisten mit Dynamit seien im untersten Deck der “Stolzenfels” gleich über dem Schiffsboden und neben den Schraubenwellen angebracht. Bei Zündung im Falle einer Befreiungsaktion werde das Schiff in kurzer Zeit geflutet sein. Das Wasser hier vor der Küste sei nicht tief aber die “Stolzenfels” gehe unweigerlich nach einer Sprengung auf Grund. Soweit das Interesse der Organisation für Stellrings vorzeitige Entlassung. Die Photos der Besatzung würden noch ergänzt. Stellring solle die Aufnahmen als Kurier nach Hause bringen. Ein Lebenszeichen für die Angehörigen und der Beweis, daß die restliche Besatzung in guter Verfassung sei. Der Stick werde ihm dreifach übergeben, Stellring überlege sich einstweilen schon passende Verstecke im Gepäck. Würde der Rucksack während der Rückreise von wem auch immer kontrolliert, sollten wenigstens nicht alle drei zugleich in falsche Hände fallen.
Stellring staunte. Achmad war bereit, dem Nachbarclan Einblick in die Einrichtung des Camps zu geben falls man den Chip entdeckte. Er mußte wissen, dieser Fall war nicht unwahrscheinlich. Sollte nicht nur der “Atalanta” sondern auch dem Nachbarclan gezeigt werden, man war hier abwehrbereit und gut ausgestattet? Die Absicht mußte für ihn kein Nachteil sein. Er erinnerte sich an das Gespräch mit Luc. Wenn man über Bilder zur Illustration verfügte, gewann ein Erfahrungsbericht von der Kaperung für die Medien enorm an Wert. Er sehe im Transport der Chips kein Problem, sagte Stellring, aber es gehe ihm vordringlich um den sicheren Weg zurück. Habe er das Gebiet dieser Nachbarn erst einmal durchquert, gelange er bald darauf nach Mogadischu. Von dort aus irgendwohin nach Europa finde sich ein Flug.