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2. Neuanfang

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Ein Jahr nach dem Aufbruch vom Camp saß Stellring in einem Büroraum in Brüssel in der Rue Rossini. Glückliche Zufälle hatten ihm den Weg in ein Brüsseler Institut geebnet. Seine Flucht aus der Gefangenschaft der Somalis vor einem Jahr hatte Aufsehen erregt. In einigen Zeitungen war ausführlich berichtet worden. Wenige Tage vor dem Abschluß seiner Karriere als Student war er in einer Sendung im Fernsehen aufgetreten. Eine illustrierte Zeitschrift hatte sich seinen Bericht und die Bilder aus dem sichergestellten Computerstick einiges kosten lassen. Der Kredit, den er für das Studium aufgenommen hatte, war mit einem Schlage abgelöst gewesen. Er hatte einen großen Teil aber nicht alle Erfahrungen aus der Zeit in Somalia und Pakistan preisgegeben. Das einhellige Urteil zu Hause hatte gelautet: Ein gelungenes Husarenstück! Neugier und Interesse für die gewagte und erfolgreich verlaufene Flucht waren groß gewesen. Der BND hatte sich gemeldet und angefragt, ob Stellring für eine Befragung und Details seiner Erfahrungen zur Verfügung stehe. Er hatte unverfängliche Details preisgegeben, teilweise ausgeschmückt. Über die Entführer war kein abschätziges Wort gefallen. Der Aufforderung nach präzise Angaben zum weiten Umweg über Pakistan im Verlauf der Flucht war er mit so unbestimmt gehaltenen Auskünften gefolgt, daß der Bericht einer Verweigerung nahe gekommen war. Er erinnere sich an diese Phase kaum. Er sei krank gewesen, habe Fieber, wahrscheinlich Malaria gehabt. Möglich auch, man habe ihn betäubt und willenlos gemacht.

Zwei weitere Anrufe von Interessenten an seinem Abenteuer hatten ihn erreicht, einer davon aus Brüssel vom "Centre de Recherches Outre-mer" Stellring hatte sich zum ersten Treffen mit einem Brüsseler Abgesandten auf halbem Weg in Aachen auf den Weg gemacht. Bei einem zweiten Zusammentreffen in Brüssel hatte er ein Gespräch mit Henry Tronchard geführt. Tronchard war Vizechef des "Centre de Recherches... "Der Mann hatte ihm das Angebot über einen vorläufigen Eintritt in sein Institut gemacht: Mitarbeit für ein Anfangsgehalt, das Stellringhoch erschienen war und von dem Tronchard gesagt hatte, man könne in Brüssel damit leben. Ein alternatives Angebot für den Berufseinstieg war nicht in Sicht, Stellring hatte eingeschlagen. Bitterer Beigeschmack damals noch: die Trennung von Sarina. Er hatte sie seither nur am Wochenende gesehen und Zeit und Geld für die Fahrten aufgewendet.

Er solle sich zunächst mit dem Umfeld und der Arbeitsweise im Institut vertraut machen, hatte Henri Trochard, ihm beim Antritt am neuen Arbeitsplatz gesagt. Der Mann hatte sich über Stellrings Studienfach berichten lassen und Interesse bekundet, vielleicht auch nur vorgetäuscht. Das "Centre …." finanziere sich je zu einem Drittel aus öffentlichen Mitteln, aus einem Fonds "Transatlantische Solidarität" und Honoraren für die Anfertigung von Expertisen, hatte man ihn mit der Bitte um vertrauliche Behandlung aufgeklärt. Zur Einordnung der Quellen bei der künftigen Arbeit übrigens gleich ein guter Rat: immer den Blick zuerst auf Auftraggeber und die Finanzierung richten. Trochard stellte Stellring bei Van Beeken vor, Chef der Abteilung Studien Nordafrika und Nahost. Zwei neuen Kollegen, Murray und Hodkins, schüttelte er bei einem kurzen Rundgang durch die Büros die Hand. Für ein auch nur kurzes Gespräch hatte sich bei dieser Gelegenheit keine Zeit gefunden. Die Leiter anderer Abteilungen im Haus hatten sich rar gemacht. Sie standen anscheinend zeitlich allesamt unter Druck.

Der Kollege, mit dem er sich angefreundet hatte, war Franco Fella. Der Sizilianer mit dem kantigen Schädel hatte fast zur gleichen Zeit wie Stellring seine Arbeit im "Centre ..." aufgenommen. Die Bekanntschaft rührte von der Begrüßungsparty im Büro für die neuen Kollegen her. Franco gehörte zur Abteilung "Westliches Afrika". Daß er die Stelle bekommen habe, verdanke er weniger Glück oder besonderer Tüchtigkeit als Protektion, hatte er freimütig bekannt. Ein guter Studienabschluß reiche für den Eintritt ins "Centre..." nicht aus. Sein Onkel unterhalte gute Beziehungen zum Ministerium des Äußeren in Rom und habe sich mit Erfolg für ihn eingesetzt. Stellring hatte, anders als der neu gewonnene Freund aus Sizilien, keine Protektion gehabt. Arbeitsstellen, in denen sich ein anständiges Einkommen verdienen ließ, waren nach seinem Studiengang dünn gesät. Der Bedarf im diplomatischen Dienst in Berlin beschränkte sich jährlich auf eine beschränkte Zahl von Leute und war schnell gedeckt. Wie die Kollegen im Studium hatte er angenommen, daß auch im Auswärtigen Amt ohne Beziehungen kaum anzukommen war. Für eine Laufbahn an seiner Universität hatte er sich selbst als nicht geeignet eingeschätzt. Stellring hatte auch Grund zu zweifeln, daß man sie ihm angeboten hätte.

Stellring arbeitete sich mit der Lektüre älterer Studien des "Centre ..." ein, verfaßt von Autoren oder freien Mitarbeitern des Instituts. Die Berichte befaßten sich mit Syrien, Indonesien und dem Sudan. Einleitend wurde jeweils die politische und wirtschaftliche Lage dargestellt, im zweiten Teil handelten die Studien einzelne Führungspersonen ab. In den Texten seien einige Passagen bedauerlicherweise noch geschwärzt. Die Richtlinien im "Centre ..." schrieben das so vor. Er halte das Stellring gegenüber für nicht angebracht, hatte Van Beeken gönnerhaft gesagt. Der Grad der Geheimniskrämerei um eine Studie gebe nicht immer einen Hinweis auf ihre Relevanz. Eine ärgerliche Einschränkung, aber als neuem Mitglied im "Centre ..." sei Stellring der Zugang zur Vollversion zunächst bis auf Weiteres gesperrt.

Stellring nahm es hin. Er verschaffte sich einen ersten Überblick, sichtete die im Register angegebene Literatur und stellte befriedigt fest, fast alles war über den Rechner im Büro leicht greifbar. Eine Anzahl anderer Organisationen hatten eigene Studien zu den ihm vorgelegten Arbeiten des"Centre ..." verfaßt. Während der Studienjahre waren ihm von einigen die Namen schon nicht bekannt. Zu drei älteren Studien seiner neuen Kollegen verfaßte er je einen Kommentar. Ein sinnvoller Einstieg in die Arbeit im "Centre ..." oder nur Beschäftigungstherapie? Er traute sich die Einschätzung nicht zu. Vielleicht war der Weg nicht der schlechteste für die Einfühlung in ein nur wenig vertraute Arbeitsfeld. Er kannte sich mit den exotischen Regionen wie Indonesien und dem Yemen, um die es in den Berichten ging, nicht aus. Beurteilungen in der Sache waren damit von vornherein verwehrt. Der Versuch zu Korrekturen in der Sache würde bei Van Beeken allenfalls Verdacht erregen, der neue Mann neige zu Hochstapelei. Mehr als mild kritisierend durfte in den Fällen dieser beiden Länder eine Rezension ohnehin nicht sein, denn er kommentierte die frühere Arbeit von Kollegen, deren Weg er regelmäßig auf dem Büroflur kreuzte.

Auffallend häufig wiederholten sich bestimmte Rückschlüsse und Einschätzungen in den Studien. Abschnittsweise drängte sich der Eindruck von Plagiaten auf. Er stellte bald fest, die Studien zeichneten generell ein monotones Bild. Die abweichende Beurteilung parallel gerichteter Arbeiten blieb auf Andeutungen beschränkt. Stellring las an vielen Formulierungen die Scheu vor Festlegung und Risiko heraus. Soweit es um islamische Länder ging, wurden die Übel im Land übereinstimmend am Islamismus festgemacht. Allgemein fehlte der Darstellung der Menschen Einfühlung und Sympathie. Stand fehlende Empathie hinter dem Mangel oder der Wunsch, es Auftraggebern recht zu machen? Stellring fühlte nach seinen Erfahrungen im letzten Jahr die Berechtigung zu einer abweichenden Sicht der Dinge. Er hatte sich einiger Begegnungen bei der Rückkehr aus Afrika mit Dankbarkeit erinnert. Seine Kommentare zu den Studien über Ägypten und Sudan waren ausführlich ausgefallen. Er hatte nicht nur Formalien kommentiert sondern versucht, Aspekte nachgetragen und eigene Einschätzungen aufgeführt. Die Expertisen stellten durchweg Machtfragen in den Mittelpunkt, völlig zurecht, dem Auftrag der Kundschaft wurde damit entsprochen. Er war sich bewußt, seine Erfahrungen waren subjektiv gewesen, aber die kühle Verkennung von Unrecht als Grund vieler Probleme empfand er als Mangel. Das gezeichnete Bild blieb unvollständig aber klar war auch, die Beschränkung auf Machtperspektiven des Westens war gewollt.

Kein Zweifel, er wurde durch diese Beschäftigung mit der Arbeit des "Centre ..." vertraut, aber ohne die Gelegenheit zum Austausch mit den Autoren führte die passive Beschäftigung zum Überdruß. Er stellte sich die Frage, fanden seine Kommentare Leser oder wurden sie als bloße Fingerübungen umgehend in die Ablage entsorgt? Da Van Beeken für längere Zeit auf Reisen gegangen war, bat er nach der ersten Woche Trochard um ein Gespräch. Stellring trug ihm den Wunsch nach eigenständiger Arbeit vor und wurde mit der Bitte um Geduld vertröstet.

Am Tag danach kehrte Van Beeken zurück. Er fragte Stellring nach den Eindrücken der ersten Woche im Institut. Stellring spürte die Bemühung um den Eindruck von Wohlwollen heraus. Sein neuer Chef war, anders als die meisten Kollegen über das Abenteuer in Somalia und Pakistan informiert. Hatte ihm schon am ersten Tag anerkennend auf die Schulter geklopft und geäußert, der neue Mann habe Schneid bewiesen. Er selbst in gleicher Lage hätte wahrscheinlich den Mut zu einer hoch riskanten Flucht nicht aufgebracht. Stellring versicherte, er habe dabei einiges an Handwerklichem gelernt. Wie Van Beeken zu den ihm vorgelegten Kommentaren stehe? Die vage Geste ließ keinen Zweifel, der Andere hatte keinen gelesen, wahrscheinlich war er auch zur Aufwendung der Mühe und Zeit dafür nicht gewillt. Stellring wußte nicht, ob Tronchard sich für ihn verwendet hatte, aber von diesem Tag an arbeitete er an einer Studie über mittelfristige Entwicklungsperspektiven für Somalia.

Van Beeken legte Stichworte als Rahmen vor, auf Stellring entfiel die Feinarbeit. Er übergab ihm zusätzlich ein umfangreiches Verzeichnis von Denkschriften, Studien und eine Menge statistisches Material. Stellrings sei durch persönliche Erfahrungen und seine Sprachkenntnis für die Studie qualifiziert. Er möge den Zeitaufwand für eine gründliche Bearbeitung nicht scheuen. Qualität rangiere vor Schnelligkeit. Der Auftraggeber informiere sich nicht nur aus einer Hand, sondern habe immer die Möglichkeit zum Vergleich. Die Arbeit würde in zwei Versionen abzuliefern sein. Die erste als Vortragsmanuskript und zur Veröffentlichung bestimmt, die zweite solle ins Detail gehen, müsse das zusätzliche Material enthalten und würde nur Geheimnisträgern zugänglich gemacht. Die Schriften der Konkurrenz zum Thema hatten sich auf Mengen statistischen Materials gestützt. Manches davon erscheine Van Beeken dubios, mindestens gehöre es umfangreich ergänzt. Mit einer Erweiterung der Grundlage werde man sich vorteilhaft von den Konkurrenten abheben. Eine Denkschrift in Arabisch enthalte angeblich wichtige neue Hinweise auf neue Anführer der Opposition. Bisher liege dazu keine Übersetzung vor. Wenn möglich übernehme Stellring die Übersetzung bitte selbst! Stellring wußte, es würde möglich sein, er konnte auf SarinasHilfestellung hoffen. Ein Berg Arbeit lag vor ihm, aber unter der Studie würde der eigene Name stehen, wenn auch neben dem von Van Beeken erst an zweiter oder dritter Stelle. Ein Kollege arbeitete für das Kapitel wirtschaftliche Entwicklung an der Studie mit.

Die Phase der Einarbeitung lag hinter ihm, jetzt winkte eine Gelegenheit zur eigenständigen Betätigung! Ein zweiter Grund trug zu guter Laune bei: Sarina hatte angerufen. Sie hatte den Zuschlag für die Stelle im Dolmetschdienst der EU. In Zukunft würde sie hier in der Stadt oder wenigstens nahe bei Brüssel wohnen, besser noch, man bezog möglichst bald eine Wohnung zu zweit. Das Hin und Her über die Wochenenden wäre dann Vergangenheit. Der Zuschlag der Brüsseler Behörde an Sarina war alles andere als selbstverständlich und wollte gefeiert sein. Noch heute Abend würden sie sich dazu treffen. Sie habe auch einen Brief für Stellring von zuhause mitgebracht, hatte sie am Telephon gesagt. Er rief Franco Fella an, sagte ihm für diesen Abend ab und verließ das Büro.

Eine halbe Stunde später saß Stellring Sarina gegenüber. Sie trafen sich in dem kleinen Lokal unweit des Grand Place nicht zum ersten mal. Sarina war bester Stimmung, Stellring hatte sie so seit langem nicht mehr erlebt. Nichts zu spüren von der Traurigkeit, die sonst oft um sie war. Daß frühe Erfahrungen in der fernen Heimat zugrunde lagen, hatte sie ihm erst Wochen nach dem ersten Zusammentreffen recht gegeben.

Der Familienname der Eltern vertrug sich nur mühsam mit dem Vornamen Sarina. Über den scheinbaren Widerspruch hatte sie ihn schon am ersten Abend aufgeklärt. Der zweite Mann ihrer Mutter, die aus Afghanistan geflohen war, hatte sie adoptiert. Der leibliche Vater war im Bürgerkrieg Mitte der90er Jahre in einer Schießerei zwischen sowjetischen Soldaten und den Taliban geraten. Als zufälliges Opfer war er schwer verletzt worden und nach langer Krankheit gestorben. Die Mutter und den ältere Bruder hatte der Verlust anscheinend traumatisiert. Der Überfall hatte sich vor eigenen Augen der beiden abgespielt. Sarinas Bruder hatte erzählt, die Mutter sei über ein halbes Jahr lang verstummt und habe kein Wort mehr gesprochen. Sie hätte sich in dieser Zeit allein über Zeichen mitgeteilt. Sie habe die Zerstörung der Familie nicht bewußt erlebt, aber die Zeit mußte für das kleine Kind gespenstisch gewesen sein. Ein Onkel, der in Deutschland gelebt hatte, hatte die Mutter und beide Kinder aus dem Bürgerkrieg heraus zu sich geholt. Mit Hilfe einer Therapie habe Sarinas Mutter wieder zum Sprechen gefunden und neuen Lebensmut gefaßt. Sie hatte die neue Sprache gelernt und eine Arbeit in einem Sanatorium aufgenommen. Die Erinnerung an die Tragödie in der alten Heimat verfolge sie weiter, ihre Trauer habe sie nie abgelegt. Der Reiz der exotischen Erscheinung in ständig verhaltener Trauer hatte einem verwitweten Arzt Dr. Arnstein Gefallen an ihr finden lassen. Ihr Reiz und in schwächerem Maß die Melancholie hatten auf Sarina abgefärbt. Stellring hatte mit ihr zusammen die beiden ein paar mal in ihrem Haus besucht. Stellring hatte sich überzeugt, der Arzt hatte einen guten Griff getan, Sarinas Mutter war wie ihre Tochter eine attraktive Frau. Ein Hauptmerkmal, wie von Sarina angekündigt, ihre Verschlossenheit. Zu mehr als dem Austausch unverbindlicher Förmlichkeiten war man bei den Besuchen nicht gelangt. Sarina hatte das als nicht ungewöhnlich angesehen. Auch wenn man zu dritt ganz unter sich sei, kämen längere Gespräche selten auf. Ihr Bruder arbeitete in einer Bank. Vor zwei Jahren war er in deren Auftrag nach Übersee gegangen. Sarina hatte ihn dort zweimal besucht und Photos von ihm gezeigt. Sie hoffe, zu Weihnachten komme er wieder einmal zu Besuch.

Hatte die Melancholie der Mutter auf Sarina abgefärbt? Wenn das zutraf, dann nur ansatzweise. Sie lachte selten aber die ständige Verschlossenheit der Mutter war ihr fremd.

Die Bekanntschaft ging auf einen Abend in der Universität zurück. Ein Vortrag über Afghanistan hatte Sarina an seiner Seite Platz genommen und das Thema hatte sie anschließend ins Gespräcjh gebracht.

Die muslimische Tradition in der Familie konnte kaum ausgeprägt gewesen sein, nach der Übersiedlung in die neue Heimat war Sarina bei Arnstein in einer westlich bestimmten Atmosphäre aufgewachsen. Ihre Eltern hatten paschtunischen Familien angehört. Die Mutter war eine der wenigen Lehrerinnen für Fremdsprachen in Afghanistan gewesen. Die Taliban hatten schon vor dem Tod des ersten Mannes ein Berufsverbot verhängt. Eine Nachbarin hatte Sarina zu Hause in den Heimatsprachen unterrichtet, denen sie das Engagement bei der EU verdankte, Urdu und Paschtu darunter, das sie nach eigener Einschätzung passabel sprach.

Sarina wirkte fast übermütig. in dieser Stimmung, hatte Stellring sie kaum je vorher erlebt. Sie würde in Zukunft jeden Abend zusammen sein. Sarina freute sich auf die neue Arbeit in Brüssel, zu allem Überfluß werde sie anständig bezahlt. Für unwichtig hielt Stellring diesen Umstand nicht. Sarina kannte bisher weder die Preise im Supermarkt noch in den Restaurants und unterschätzte wahrscheinlich auch die Probleme auf dem Wohnungsmarkt. Er hatte schnell festgestellt, die Kosten auch ohne Anspruch auf luxuriöse Lebensführung hielten den Vergleich mit Städten wie Paris oder London leicht aus.

In der Konkurrenz um den Posten habe sie sich wegen ihres Paschtu und Urdu durchgesetzt. Als EU- offiziell galten beide Sprachen nicht. Der Bedarf entstehe bei gelegentlichen Besuchern aus Mittelost, habe man ihr gesagt. Stellring wußte, das "Centre ..."kooperierte mit Partneragenturen in New York, Shanghai und Dubai. Wenn Sarina einmal in einer Organisation wie der EU Fuß gefaßt hatte, ließe sich mit dieser Referenz im Rücken ein Weg auch an anderem Ort gemeinsam gehen, sollte er selbst einmal außerhalb Brüssels tätig sein. Auch die Arbeit im "Centre ..." ginge ihm an ihrer Seite in Zukunft leichter von der Hand. Vor Sarina und Stellring öffnete sich eine Welt voll lockender Möglichkeiten.

Sie schlug vor, man solle sich am nächsten Tag mit Luc und Jenny treffen. Die Vier Rucksackreisenden aus Deira waren wieder örtlich ganz nah vereint. Glückliche Zufälle hatten es so gewollt. Stellring hatte die beiden bisher erst ein einziges mal gesehen seit Antritt der Brüsseler Arbeitsstelle. Er sei sicher, auch Jenny und Luc würden von Sarinas Job ebenso begeistert sein wie er. Die beiden hätten beim letzten Zusammentreffen keinen sehr glücklichen Eindruck auf ihn gemacht. Vielleicht nur ein kurzer Streit, hoffentlich hätten sie sich in der Zwischenzeit nicht schon getrennt. Auch Franco Fella müsse Sarina kennenlernen.

Franco war in der gleichen Situation wie Stellring gewesen beim Einstieg in den Beruf. Ihre Freundschaft ging auf gemeinsame Streifzüge am Abend durch die große Stadt zurück. Franco stand Stellring dadurch inzwischen näher als Luc ihm früher gestanden hatte trotz des gemeinsamen Abenteuers auf der „Stolzenfels“ und der gemeinsamen Gefangenschaft. Er war sich sicher, Sarina würde mit Franco harmonieren.

Sarina habe am Telephon von einem Brief gesprochen. Sie erinnerte sich, suchte in der Handtasche und gab ihm den kleinen Umschlag in die Hand. Als Adresse war die Wohnung der kleinen Gruppe von Lebenskünstlern angegeben, in der er bis vor dem Wegzug nach Brüssel Mitglied gewesen war. Die Anschrift ebenso wie der Name des Absenders in Dubai entstammte einer wenig geübten Hand, Personen aus Dubai waren Stellring nicht bekannt. Noch hatte der Kellner nur eine Flasche Wein und Gläser auf den Tisch gestellt. Stellring griff zum Dessertmesser und schlitzte den Umschlag auf. Sarina kommentierte die Eile nachsichtig mit Spott:

"Eine Bekanntschaft vom Kaperschiff?"

"Die anderen steuerten Kaperboote, wir waren ihre Opfer. Von unseren Philipinos jedenfalls stammt der Brief nicht." Er reichte das Stück Papier zurück und Sarina las die drei Zeilen mit gedämpfter Stimme vor. Rashid sende herzliche Grüße. Er bedanke sich, daß Stellring Wort gehalten habe und bitte um Kontaktaufnahme mit Machmoud. Eine Telephonadresse war angegeben. Der Text endete grußlos mit der Unterschrift „M.“.

Stellring war Sarina eine Erklärung schuldig. Er vermute, es handle sich um Rashid Durrani, den Spielgefährten aus seiner Zeit im Kindergarten in Pakistan, den Rashid, der ihm nach seiner Flucht in Pakistan durch Zufall wieder begegnet sei.

Sarina rief sich die kleine Geschichte in Erinnerung. Stellring hatte ihr von seinen frühen Jahren in Pakistan schon vor dem Aufbruch zur Reise nach Afrika erzählt. Er hatte nach der Rückkehr auch vom zufälligen Wiedersehen mit einem Rashid berichtet. Sarina hatte lachend gesagt, nicht viel habe gefehlt und auch sie wäre Stellring damals schon begegnet.

Rashid habe ihm bei der Rückkehr nach Hause sehr geholfen. Man habe beim Abschied gegenseitige Besuche ausgemacht, entweder dort oder hier. Ginge es dazu nach Pakistan, würden Sarinas Paschtu Kenntnisse ihnen beiden nur von Nutzen sein. Irgendwann später vielleicht, hatte sie zugestimmt. Solange die Verhältnisse sich nicht gebessert hätten, habe sie auf einen Besuch dort wenig Lust. Sie reise nicht in ein Land des religiösen Fanatismus, das seine Frauen unterdrücke und in dem Bomben friedliche Menschen in Stücke rissen. Pakistan käme als Reiseziel dann infrage wenn die Verhältnisse besser und das Leben ruhiger geworden sei. Stellring hatte zugestimmt. Ein Besuch unter den derzeitigen Umständen stehe nicht an. Ehe an Vergnügungsreisen zu denken war, mußte er beruflich halbwegs fest im Sattel sitzen. Die Mitarbeit auf Zeit in einer Consulting- Agentur reichte zur dauerhaften Sicherung einer Existenz nicht aus. Sein Bedarf an Abenteuern sei durch die Erfahrungen in Somalia und bei der Flucht zurück gedeckt.

Sarina erinnerte sich an seine Worte. Sie musterte Stellring nicht ohne Sorge. Seine Neigung zu Abenteuern war ihr aus der Vergangenheit bekannt. Sie empfehle, er halte sich aus der Verfolgung der exotischen Kinderfreundschaft heraus. Nehme aber ihr Versprechen nicht zurück und werde ihn in friedlichen Zeiten gerne nach Pakistan begleiten. Wenn es Rashid mit einem Treffen eilig sei, finde es bitte in Europa statt. Sie reichte den Brief über den Tisch zurück, anscheinend nicht in Sorge, der „Plat du Jour“ kühle schnell ab. Sagte noch, Stellrings neue Arbeitsstelle in Brüssel sei dem Absender „M.“. anscheinend nicht bekannt. Sie schlage vor, er ignoriere den Brief und die Einladung erledige sich von selbst. Stellring verzichtete auf Widerspruch. Dieser Abend in Hochstimmung gehörte nur Sarina und ihm selbst. Er spürte weder Wunsch noch Neigung zur Debatte über eine Episode der Vergangenheit, die für ihn abgeschlossen war.

Fluchtpunkt Mogadischu

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