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Weltanschauliche Erziehung – Gegen Judentum, Kirche und Moderne
Оглавление»Je länger der Krieg dauert, umso mehr müssen wir die gesamten Führer, Unterführer und Männer zu immer fanatischeren und überzeugteren Willensträgern der nationalsozialistischen Weltanschauung und zur Idee unseres Führers Adolf Hitler erziehen.«
Befehl Himmlers vom 24. Februar 194372
Eines der beliebtesten Narrative ehemaliger Angehöriger der Waffen-SS nach dem Krieg war die Mär von der weitgehenden Wirkungslosigkeit der NS-Propaganda. Das weltanschauliche Erziehungsprogramm der SS habe im Truppenalltag nur eine Nebenrolle gespielt. Man sei vor allem Soldat gewesen, beteuerte Paul Hausser noch 20 Jahre nach dem Krieg, und habe keine Veranlassung gehabt, die knappe und daher kostbare Ausbildungszeit für Himmlers überspannte Forderung nach Heranbildung »fanatischer Kämpfer« zu verschwenden. Allenfalls im Fach Heeresgeschichte seien je nach Geschmack der verantwortlichen Einheitsführer, jedoch »ganz ohne rassischen Dünkel«, weltanschauliche Themen zur Sprache gekommen.73 Hausser verschwieg aber, dass jeder Schulungsleiter der SS durch Himmlers wiederholte Befehle ausdrücklich verpflichtet war, seinen Unterricht in einem Diensttagebuch zu dokumentieren und den Weltanschauungsunterricht vor allem auf der Grundlage der regelmäßig vom zuständigen SS-Rasse- und Siedlungshauptamt herausgegebenen SS-Schulungsleithefte durchzuführen.74
Eine weniger plumpe Version späterer Beschönigungen lieferte der ehemalige SS-Standartenführer und Absolvent der Braunschweiger Junkerschule, Albert Frey, in seinen Memoiren. Der nach dem Krieg auf abenteuerlichen Wegen nach Südamerika geflohene Offizier der SS bestritt keineswegs, dass es ernsthafte Versuche seitens der SS-Führung gegeben habe, die Truppe im parteipolitischen Sinne zu beeinflussen, doch hätte das alles kaum Wirkung erzielt. »Wir waren jung, voller Ansprüche an das Leben und hatten von daher andere Ideen, erst recht in der Zeit des Krieges, der ja mehr als die Hälfte der Zeitdauer der Existenz der Waffen-SS ausmachte.«75 Offenbar aber agierten die Weltanschauungslehrer, nach Freys Darstellung meist »komische Figuren«, an den beiden Junkerschulen nicht ganz ungeschickt. Ihre Schulungen fanden schließlich sogar das Interesse des Heeres, das seit 1943 seine Ausbildungsmaterialien für die »Wehrgeistige Erziehung« nach dem Vorbild der SS gestaltete.76 Noch gegen Ende des Krieges, als im Spätsommer 1944 reihum fast alle Fronten zusammenbrachen und der Ruf der Truppe nach halbwegs ausgebildetem Führernachwuchs immer lauter wurde, waren Heeresoffiziere, die zur Bad Tölzer Junkerschule zu einem Adjutantenlehrgang kommandiert waren, beeindruckt von der dort stattfindenden »weltanschaulichen Erziehung der germanischen Jugend«.77
Himmler hatte in der nationalsozialistischen Prägung der SS stets seine Hauptaufgabe gesehen und in dieser Frage bis in die letzten Tage des Regimes keine Nachlässigkeiten geduldet. »Wenn einer noch so lahm ist, wir werden ihn zur weltanschaulichen Schulung heranholen«, erklärte er im Juli 1936.78 In seinen Reden schwärmte er gern von einer elitären Gemeinschaft »nordisch bestimmter« Männer, von einem nationalsozialistischen, soldatischen Orden, der nach den unabänderlichen Gesetzen der Geschichte den Weg in eine ferne Zukunft beschreiten sollte.79 Doch keiner wusste besser als er selbst, dass seine verzweigte Organisation noch weit von diesem Ideal entfernt war. Tatsächlich war Himmlers SS nicht mehr als ein zusammengewürfelter Haufen von Männern aus allen Gesellschaftsschichten. Zu ihr gehörten ehemalige Soldaten, Polizisten, Juristen, Kaufleute, Landwirte, Herrenreiter und Handwerker, aber auch notorische Schläger und sonstige Kriminelle, die wiederum in der ungebremst wuchernden SS auf den verschiedensten Feldern ihren Aufgaben nachgingen und dabei oft genug gegeneinander die heftigsten Grabenkämpfe ausfochten. Die einzige einigende Klammer dieses monströsen Ensembles konnte nach den Vorstellungen Himmlers die gemeinsame Prägung durch die Ideen des Nationalsozialismus sein: Führerprinzip und bedingungsloser Gehorsam, »Rassereinheit« und Judenhass, Kampf als Lebensprinzip und Elitebewusstsein.
Genau genommen handelte es sich bei der NS-Ideologie keineswegs um eine ausgereifte gedanklich durchdrungene Weltanschauung. Man hatte es eher mit einem Sammelsurium bizarr gebrochener Negationen zu tun. So hasste Himmler etwa die Jesuiten, doch zugleich bewunderte er ihre Organisation und besonders ihre Methode der vollkommenen Vereinnahmung ihrer Mitglieder.80 Tatsächlich besaß das Weltbild des Nationalsozialismus im Gegensatz zum verachteten Liberalismus oder zum verhassten Bolschewismus mit seinem dialektischen Materialismus keine eigene genuine Idee. Der Nationalsozialismus definierte sich vielmehr durch seine kompromisslose Frontstellung gegenüber sämtlichen geistigen Strömungen der Moderne. Humanismus, Aufklärung und Individualismus bewertete der Nationalsozialismus als elementare Degenerationen der Geschichte, welche die angeblich natürliche Vorherrschaft der »schöpferischen nordischen Rasse« immer mehr infrage zu stellen drohten. Hinter allen diesen Entwicklungen sahen die Parteiideologen vorzugsweise das »zersetzende Wirken« des Judentums. Der Jude sei von Natur aus »feige, unterwürfig und wurzellos«, hieß es etwa in einem SS-Schulungsleitheft aus dem Jahre 1936. Mit seiner pazifistischen Haltung wolle er die Völker »entwaffnen und entmannen«. Die Politik des Juden beschränke sich daher auf Verhandlungen, taktische Finessen und vermeintliches Nachgeben.81 Einzig die »nordische Rasse« könne der angeblich drohenden Weltherrschaft dieses größten und gefährlichsten Feindes aller menschlichen Kultur noch Einhalt gebieten. Nur durch die Sammlung und Reinhaltung des »arischen Blutes« in einer neuen starken Gemeinschaft werde der rettende Gegenangriff gelingen. Nach Himmlers Vorstellungen war es die historische Aufgabe seiner SS, diese für ganz Europa überlebenswichtige Rolle ausfüllen. Dazu aber musste sie zu einem fest gefügten Orden werden, in dem die nationalsozialistischen Ideen täglich gelebt wurden. Weltanschauliche Erziehung durfte nicht allein theoretisches Wissen vermitteln, sondern musste jeden SS-Mann durch die Handhabung des täglichen Dienstes, durch den gemeinsamen Jargon und den Stil des Zusammenlebens zu einer nationalsozialistischen Haltung erziehen.82
Himmler war stets vom Ordensgedanken fasziniert gewesen und sah in der mittelalterlichen Ostkolonisation des »Deutschen Ordens« das große Vorbild. »Im Osten müssen wir kämpfen und siedeln«, hatte der damalige Student der Agrarwissenschaften schon 1922 in sein Tagebuch notiert.83 Dass die mittelalterlichen Kampfgemeinschaften zugleich auch christliche Orden gewesen waren, wollte allerdings nicht so recht in Himmlers verstiegenes Weltbild passen. Ihm imponierte zwar die höchst effektive Kombination aus militärischer Schlagkraft, Frömmigkeit und Askese als Kernelemente der alten Ritterorden, doch den christlichen Tugenden der Demut, Toleranz und Nächstenliebe misstraute er zutiefst. Himmler sah in der christlichen Lehre sogar eine geschickte Variation des »zersetzenden Judentums« und nannte sie die größte Pest in der Geschichte der germanischen Völker.84 Die Kandidaten der beiden Junkerschulen ließ er regelmäßig Prüfungsaufsätze verfassen, in denen die zukünftigen Führer seiner SS etwa der Frage nachzugehen hatten, ob das Christentum den Untergang der Wandalen und Ostgoten verursacht habe.85 Vor allem aber misstraute Himmler den Amtskirchen, deren Loyalitätsanspruch an ihre Gläubigen mit den Forderungen der SS nach unbedingter Treue und blindem Gehorsam scharf konkurrierte.86 Ein Soldat der SS-»Verfügungstruppe« konnte daher unmöglich zugleich noch einer Kirche angehören, und so ergoss sich von Anfang an eine Flut antichristlicher Hetzpropaganda auf die Truppe.
Die unverblümte Forderung der SS an ihre Angehörigen, sich von ihrer Konfession loszusagen, eskalierte in manchen Truppenteilen zu einem regelrechten Spießrutenlaufen für kirchentreue SS-Männer. Standhafte Katholiken, ohnehin eine Minderheit in der SS-»Verfügungstruppe«, wurden von ihren Vorgesetzten wie Geächtete behandelt und regelmäßig vor die Front gestellt. Der permanente Druck der Vorgesetzten zeigte rasch Wirkung. Ende 1938 waren bereits 53 Prozent aller Soldaten der SS-»Verfügungstruppe« aus der Kirche ausgetreten. Noch höher war mit 69 Prozent die Quote bei Theodor Eickes Totenkopfverbänden.87 Nur wenige Tage vor Beginn der großen Offensive im Westen versuchte der inzwischen zum Kommandeur einer SS-Division avancierte oberste KZ-Wächter, auch die letzten verbliebenen Kirchentreuen seiner Truppe zum Austritt aus der Kirche zu bewegen.88 Von einem Protest der Inspektion der SS-»Verfügungstruppe« gegen die rabiaten Methoden seiner Kommandeure zur Erzwingung von Kirchenaustritten ist nichts bekannt. In seinem Hauptwerk über die Waffen-SS übergeht der Preuße Paul Hausser die systematische Christenverfolgung mit beharrlichem Stillschweigen.
Ganz auf eine transzendente Bezugsgröße aber mochte auch der fanatische Kirchenfeind Himmler nicht verzichten. Er wusste genau, dass die postulierte weltgeschichtliche Mission seiner SS ohne die Weihe einer höheren Ordnung, ob man sie Vorsehung oder einfach göttlichen Plan nannte, erheblich an Anziehungskraft verlieren musste. Er habe daher niemals Atheisten in den Reihen der SS geduldet, behauptete er noch 1944 unmittelbar nach dem Stauffenberg-Attentat.89 Allerdings kamen Himmlers Versuche, das vertraute christliche Gottesbild durch die Verehrung eines »höchsten Wesens« zu ersetzen, über blutleere und platte Abstraktionen nie hinaus. In seinen Reden sprach er gelegentlich von dem Uralten, dem »Waralda« oder von einer »unendlichen weisen Hoheit«, die jeder über sich spüre, der den ständigen Ausleseprozess in der Natur beobachte und verstünde.90 Als neue »Gottgläubigkeit« wurde dieses offizielle Bekenntnis zu Himmlers Religionsersatz in den Akten der meisten SS-Angehörigen akribisch vermerkt.
Die Kirchenfeindlichkeit der SS-Führung ging zuletzt sogar so weit, dass man offen den Islam hofierte. Dem von den britischen Mandatsbehörden in Palästina wegen Massenmords gesuchten Großmufti von Jerusalem, Amin al-Husseini, einem fanatischen Judenhasser und notorischen Aufwiegler, versuchte Gottlob Berger in bizarrer Verdrehung fast aller historischer Fakten zu umschmeicheln. Es würde um Deutschland besser stehen, so behauptete der Chef des SS-Hauptamtes gegenüber seinem Gast, und die deutsche altgermanische Kultur wäre nicht zugrunde gegangen, wenn seinerzeit bei Wien die Vorsehung nicht den Europäern, sondern den Mohammedanern den Sieg gegeben hätte.91
Die nationalsozialistische Vorliebe für die orientalische Lehre des Islam wirkte nur auf den ersten Blick sonderbar. Schien es sich doch um einen Gottesglauben ganz eigener Art zu handeln, der ausdrücklich zu Kampf und Eroberung im Namen der Religion aufrief. Allerdings unterschieden Himmler und Berger genau zwischen der von ihnen vorbehaltlos bewunderten religiösen Doktrin und den islamischen Völkern des Balkans sowie des Nahen Ostens. Bosnier, Türken und Araber galten aus nationalsozialistischer Sicht nach wie vor als Menschen zweiter Klasse. Hitler hatte sie in seiner Kampfschrift ausdrücklich als »minderwertige Rassen« eingestuft. Ein wie immer gearteter Schulterschluss mit ihnen schien daher zunächst ausgeschlossen. Aber auch in dieser delikaten Frage sah sich die SS mit fortschreitender Kriegsdauer gezwungen, ihre rassischen Vorbehalte zurückzustellen und durch eine pragmatischere Einstellung zu ersetzen.
Angesichts der im Winter 1942/43 kaum noch zu leugnenden Kriegswende zählten aus Sicht des Reichsführers-SS die moslemischen Bewohner des Balkans plötzlich zu den »rassisch wertvollen Völkern Europas«, die sich allerdings ihren Platz an der Seite der Arier noch erkämpfen müssten.92 Dass es gar nicht den einen monolithischen Islam gab und dass gerade daran schon im Ersten Weltkrieg alle Versuche kaiserlicher Behörden gescheitert waren, moslemische Ethnien im Kampf gegen die Briten zu instrumentalisieren, störte Himmler und Berger offenbar nicht weiter. Denn jetzt ließ sich die erhoffte Allianz mit der islamischen Welt durch ihren traditionellen Judenhass begründen, der durch den modernen Zionismus und die Balfour-Deklaration von 1917 neu entfacht worden war und innerhalb sämtlicher islamischer Strömungen gleichermaßen präsent schien. Mit politischen Garantien an die Araber hielt sich die SS zwar zurück, aber fürsorglich kümmerte sich der Reichsführer-SS darum, dass die aus Bosnien stammenden Soldaten der im Herbst 1943 aufgestellten 13. Waffen-Gebirgs-Division der SS »Handschar« eine islamkonforme Verpflegung ohne Alkohol und Schweinefleisch erhielten. Beraten von Al-Husseini, der nach seiner Flucht aus dem Irak jahrelang eine große Villa im Grunewald bewohnen durfte, organisierte er sogar die Ausbildung von Militär-Imamen in Deutschland.93 Himmler fand auch noch die Zeit, sich persönlich mit der Neugestaltung des Fez, der traditionellen Kopfbedeckung der kaiserlichen Bosniaken, zu befassen. Tatsächlich hatte Himmler nie an eine Verschmelzung beider Ideologien gedacht, sondern nur an einen gemeinsamen Kampf gegen die »von Juden unterwanderten« Feinde Deutschlands. Teil seines Ordens nordisch bestimmter Männer konnten Moslems niemals werden.
War aber erst einmal das nationalsozialistische Prinzip radikaler Exklusion aller »nicht arischen Elemente« durchbrochen, fanden sich rasch weitere weltanschauliche Anpassungen. Dazu gehörte gewiss die von Himmler und Berger vorangetriebene Idee eines gemeinsamen Kampfes der europäischen Völker gegen den Bolschewismus. Nachdem der Versuch, sogenannte rassisch wertvolle Soldaten in den besetzten Gebieten West- und Nordeuropas für die Waffen-SS anzuwerben, nicht die hochgesteckten Erwartungen erfüllt hatte, gingen beide dazu über, auch andere Freiwillige in diesen Ländern für die SS zu rekrutieren. Aus dieser Gruppe, die nicht mehr den hohen rassischen Anforderungen der SS-Ideologen entsprechen musste, ließ Himmler nach dem Angriff auf die Sowjetunion die neuen Freiwilligenlegionen der SS aufstellen. Europa und der antibolschewistische Kampf gegen die »Horden Asiens« waren die zentralen Themen der SS-Propaganda im besetzten Europa, und die Angehörigen der neuen Freiwilligenlegionen schworen, dem »Führer« im Kampf gegen den Bolschewismus unbedingten Gehorsam zu leisten.94
Spätere Apologeten der Waffen-SS nutzten die transnationalen Fantasien ihrer ehemaligen Herren nach dem Krieg gern, um ihre Parteitruppe als erste europäische Armee darzustellen.95 Doch der Blick hinter die Kulissen des Truppenalltags fiel eher ernüchternd aus. In den Freiwilligenverbänden der Waffen-SS agierten nach wie vor Deutsche als Vorgesetzte und Ausbilder, denen die ideologische Wendigkeit eines Himmlers oder Bergers meist völlig fremd waren. Im Umgang mit den ausländischen Freiwilligen brachten es nur die wenigsten Führer fertig, ihren anerzogenen kulturellen Hochmut zu überwinden und die Ausländer tatsächlich als gleichberechtigte Kameraden in Truppenalltag und Kampf zu behandeln. Seit 1942 häuften sich die Entlassungsanträge von Freiwilligen aus Belgien, den Niederlanden und Norwegen. Das jahrlang gepredigte Herrenmenschentum fiel den NS-Ideologen jetzt krachend auf die Füße. Himmler schien sich der Widersprüche seiner rassistischen Weltanschauung nicht einmal bewusst zu sein, als er im April 1942 in einem Brief an Berger und Jüttner befahl, dass Führer und Unterführer, die sich an der »germanischen Zukunft der SS versündigten«, entweder degradiert oder sogar aus der SS ausgestoßen werden müssten.96
Es war das wohl entscheidende Manko der nationalsozialistischen Ideologie, dass sie zwar mit konkreten Feindbildern arbeitete, die Hitlers historisches Zerstörungswerk fraglos begünstigten, aber selbst nicht in der Lage war, über vage pangermanische Fantasien hinaus eine alle Kräfte bindende positive Utopie zu entwickeln. Bis zuletzt verweigerte der Nationalsozialismus eine plausible Antwort auf die entscheidende Frage, wie denn ein nationalsozialistisches Europa unter deutscher Führung einmal aussehen würde, und er hätte sie vermutlich auch nie geben können.