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ОглавлениеVergangene Zahlen
Das antike Ägypten
Wenn die Zahlen der Statistik zu der Frage nach dem Warum schweigen, was verraten die Zahlen der Zeitgeschichte?
Das Thema Selbsttötung durchzieht die Menschheitsgeschichte wie ein roter Faden. Ein Kardiogramm mit Ausschlägen nach oben und unten, je nach Zeit- und Kulturepoche.
Philosophen und Theologen, Juristen und Mediziner, Psychologen, Soziologen und Ethnologen haben aus ihrer Zeit und ihrer Perspektive die Selbsttötung diskutiert und beurteilt.
Sie haben die Selbsttötung bewertet, haben zu ihr aufgerufen, haben sie verteufelt, haben sie gepriesen, versucht zu verhindern, versucht zu erklären, zu richten.
Schriftsteller und Künstler haben sie immer wieder zum Thema gemacht: besungen, modelliert, gemalt, geschrieben, gedichtet.
Lang wie die Liste dieser Kommentatoren ist die der prominenten, bekannten, berühmten Täter-Opfer3: von Kleopatra bis Hannelore Kohl, von Hannibal bis Hemingway.
Unabhängig von einer Bewertung ist die Selbsttötung offensichtlich und unbestreitbar Teil der menschlichen Natur und Kultur. Über alle Grenzen und alle Zeiten hinweg.
Der älteste überlieferte Text über die Selbsttötung stammt aus dem antiken Ägypten. Niedergeschrieben ist er auf einem Papyrus aus der Zeit um 1900 v. Chr. Der deutsche Ägyptologe Karl Richard Lepsius erwarb den Papyrus 1843 in Ägypten und veröffentlichte den Text 1859. Es ist das „Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele“. Die Seele wurde im alten Ägypten als der „Ba“ bezeichnet.
Der Mann, der des Lebens müde und verzweifelt ist, versucht seinen Ba, seine Seele, von seinem Vorhaben der Selbsttötung zu überzeugen. In mehreren Reden und Liedern beschreibt er seine Abscheu, seinen Ekel vor dem Leben, seine Sehnsucht nach dem Tod. Eines der Lieder lautet:
„Der Tod steht heute vor mir,
(wie) wenn ein Kranker gesund wird,
wie das Hinaustreten ins Freie nach dem Eingesperrtsein.
Der Tod steht heute vor mir
wie der Duft von Myrrhen,
wie das Sitzen unter einem Segel an einem windigen Tag.
Der Tod steht heute vor mir
wie der Duft von Lotusblumen,
wie das Sitzen am Ufer der Trunkenheit.
Der Tod steht heute vor mir
wie das Abziehen des Regens (oder: wie ein betretener Weg),
wie wenn ein Mann von einem Feldzug heimkehrt.
Der Tod steht heute vor mir,
wie wenn sich der Himmel enthüllt,
wie wenn ein Mensch die Lösung eines Rätsels findet.
Der Tod steht heute vor mir,
wie ein Mann sich danach sehnt, sein Heim wiederzusehen,
nachdem er viele Jahre in Gefangenschaft verbracht hat.“4
In mehreren Reden antwortet der Ba auf das Jammern und Wehklagen des Mannes und fordert ihn auf, das Leben wieder anzunehmen und zu genießen:
„Lasse das Wehklagen auf sich beruhen, dieser du, der zu mir gehört, mein Bruder. Lege auf das Feuerbecken und schließe Dich dem Lebenskampf – wie Du geschildert hast – an. Sei mir hier zugetan und stelle für dich den Westen5 zurück. Wünsche erst dann in den Westen zu gelangen, wenn sich Deine Glieder dem Boden zuneigen. Nach Deinem Ermatten werde ich mich niederlassen und wir werden eine Wohnstatt zusammen machen.“6
Selbst wenn dieser Text eine Dichtung war, zeigt er, dass auch im alten Ägypten die Selbsttötung ein Thema war, das weit über das Individuelle hinausging.
Eine moralische oder andere Art der Wertung der Selbsttötung lässt sich aus dem Text um 1.900 v. Chr. jedoch nicht herauslesen.
Fast 2.000 Jahre später, im Jahr 30 v. Chr., stirbt die letzte Pharaonin Ägyptens. Sie war eine der mächtigsten und schönsten Frauen der Weltgeschichte. Sie wurde als Göttin verehrt, als Hure beschimpft. Sie war Mutter von vier Kindern und Femme fatale. Geliebt und gehasst von den mächtigsten Männern ihrer Zeit. Gaius Julius Caesar und Marcus Antonius hatte sie verführt und für sich gewonnen. Octavian, der spätere Kaiser August, verfolgte sie als Feindin Roms und Rivalin seiner Macht. In Alexandria setzte er sie als Gefangene fest. Am Ende sah sie keinen anderen Ausweg, als sich selbst umzubringen. Sie lässt sich von einer Giftschlange beißen: Der Mythos „Kleopatra“ war geboren.
Neben ihrem Leben, das von den einen verteufelt, von den anderen verherrlicht wird, ist ihr Tod bis heute ungeklärt.
„Nach Plutarch und Cassius Dio soll die ägyptische Königin dem römischen Machthaber erfolgreich ihren angeblichen Lebenswillen vorgetäuscht und so eine weniger strenge Bewachung erreicht haben, die ihr die Ausführung ihres Selbstmordes ermöglichte. Sie nahm ein Bad und aß danach ein köstliches Mahl. Inzwischen brachte ein Bauer einen Korb, zeigte den Wachen, dass sein Inhalt nur aus Feigen bestand, und durfte ihn hineintragen. Nach dem Essen schickte Kleopatra einen dringenden Brief zu Octavian, schloss sich mit ihren vertrauten Zofen Iras und Charmion ein und beging mit ihnen Selbstmord. Als Octavian in ihrem Brief den Wunsch las, sie neben Antonius zu bestatten, wusste er Bescheid und schickte schnell Boten, die aber Kleopatra schon tot in königlichem Gewand auf einem goldenen Bett liegend fanden, während ihre beiden Zofen im Sterben lagen. Auch Psylli genannte Schlangenbeschwörer, die ihr das Gift aussaugen sollten, konnten sie nicht mehr erwecken.“7
Nicht nur die Autoren der Antike (Plutarch, Cassius Dio), auch die Historiker von heute verweisen zumindest die Selbsttötung der letzten Königin vom Nil durch einen Schlangenbiss ins Reich der Legenden. Warum Kleopatra ihr Leben bis zum letzten Atemzug in dieser Art inszenierte, lässt sich aus der Perspektive der damaligen Zeit so erklären:
„Augustus zeigte bei seinem Triumphzug in Rom im Jahr 29 v. Chr. ein Bild Kleopatras, das sie mit zwei Schlangen darstellte. Damit erkannte er die in der Antike vorherrschende Version – Tod durch den Biss einer Schlange („aspis“) – offiziell an. Der Terminus „aspis“ bezieht sich auf die ägyptische Uräusschlange. Sie hatte symbolischen Charakter als Zeichen pharaonischer Herrschaft: Sie bedrohte die Feinde des Königs und stellte den Herrscher gleichzeitig unter den Schutz des Sonnengottes Re, dem sie ein heiliges Tier war. Dementsprechend trug die ägyptische Königskrone das Bild eines Doppeluräus. Der Biss einer solchen Schlange hätte nach ägyptischer Vorstellung nicht dem Erlangen von Unsterblichkeit gedient – denn die Ptolemäer8 galten schon zu Lebzeiten als Götter –, sondern er wäre für Kleopatra ein würdiger Tod gewesen.“9
Wie unwahrscheinlich diese Art der Selbsttötung ist, machen folgende Argumente schnell deutlich:
„Gegen einen Schlangenbiss spricht allerdings, dass man kein solches Reptil in Kleopatras Gemach fand, dass es schwierig ist, drei Menschen (Kleopatra und ihre beiden Zofen) durch eine Schlange beißen zu lassen, sowie dass ein Kobrabiss durchaus nicht schmerzlos ist und erst nach Stunden oder Tagen zum Tod führen kann. Am wahrscheinlichsten erscheint, dass Kleopatra Gift einnahm oder es sich injizierte, dass aber ihre engsten Vertrauten, darunter wohl ihr Arzt Olympos, auf ihren Wunsch die Schlangenbissversion verbreiteten, weil diese von religiösen Ägyptern als würdevollster und Legenden Vorschub leistender Tod ihrer Königin gesehen würde.“10
Welche Motive haben Kleopatra bei ihrer letzten Tat geleitet?
Ihr Geliebter Marcus Antonius hatte sich wenige Tage zuvor mit dem eigenen Schwert umgebracht. War ihr Herz gebrochen?
Wollte sie der Schande entgehen, als Gefangene im Triumphzug durch Rom geführt zu werden?
Hatte sie den Kampf um die Macht verloren?
Eine Niederlage im Kampf um die Macht sollte in den kommenden 2.000 Jahren für viele Krieger, Herrscher und Despoten immer wieder Grund genug sein, sich selbst umzubringen.
Das Leben und der Tod der letzten Pharaonin Ägyptens fasziniert bis heute Historiker genauso wie Schriftsteller, Maler, Musiker und Regisseure. Kleopatra hat es geschafft, nicht nur für ihre Zeitgenossen, sondern bis in die Gegenwart hinein als Mythos weiterzuexistieren. Durch ihren selbstbestimmten Tod wurde sie am Ende unsterblich.
Das Thema der „Unsterblichkeit“, die verschiedenen Bedeutungsinhalte und sehr unterschiedlichen, konträren Verständnisarten werden an anderer Stelle dieses Buches ausgeführt werden.
Der römische Geschichtsschreiber Cassius Dio schließt seine Geschichte über Kleopatra mit den Worten:
„Sie gewann die beiden größten Römer ihrer Zeit für sich und wegen des dritten nahm sie sich das Leben.“11
Das antike Griechenland und Rom
Das antike Griechenland ist die Wiege der abendländischen Kultur. Im Schatten der Akropolis wurde der Samen des modernen Denkens gesät. Die Philosophen und Denker der hellenistischen Welt zeichneten die Koordinaten für Körper, Geist, Seele und Kosmos, die bis heute unser Weltbild bestimmen. Im Mittelpunkt ihrer Betrachtungen über Leben, Tod und die Welt, an dem Punkt, an dem alle Koordinaten zusammenlaufen, steht der Mensch.
• Pythagoras
Pythagoras von Samos (570 v. Chr.–510 v. Chr.), einer der Begründer der griechischen Mathematik und Philosophie, war von einer Seelenwanderung und der Unsterblichkeit der Seele überzeugt. Seine Anhänger sprachen sich deutlich gegen die Selbsttötung aus. Ihrem Glauben nach war die menschliche Seele wegen einer Ursünde im Körper gefangen, um dort Sühne zu tun. Durch seinen selbst gewählten Tod entziehe sich der Mensch dieser von den Göttern auferlegten Buße und begehe so eine Gotteslästerung.
Dass Pythagoras sein Leben dann doch durch eigene Hand beendet haben soll, weil seine Glaubensgemeinde angegriffen worden war, ist unter Historikern bis heute umstritten.
• Sokrates
Der griechische Philosoph Sokrates (469 v. Chr.–399 v. Chr.) war einer der bedeutenden Denker des Abendlandes. Er gilt als der Begründer einer autonomen philosophischen Ethik. Eine der großen Fragen seiner Erkenntnislehre war: Wie führen das „Gute“ und die „Tugend“ zur Glückseligkeit?
Im Alter von 70 Jahren wird Sokrates wegen Missachtung der griechischen Götter und angeblich verderblichen Einfluss auf die Jugend angeklagt:
„Sokrates frevelt und treibt Torheit, indem er unterirdische und himmlische Dinge untersucht und Unrecht zu Recht macht und dies auch andere lehrt.“12
Die Ideen des Sokrates waren den Mächtigen ein Dorn im Auge. Der Philosoph verteidigte sich selbst vor einer Jury aus 501 Geschworenen:
„Laßt uns aber auch so erwägen, wieviel Ursache wir haben zu hoffen, es sei etwas Gutes. Denn eins von beiden ist das Totsein: entweder so viel als nichts sein noch irgend eine Empfindung von irgend etwas haben, wenn man tot ist; oder, wie auch gesagt wird, es ist eine Versetzung und Umzug der Seele von hinnen an einen andern Ort. Und es ist nun gar keine Empfindung, sondern wie ein Schlaf, in welchem der Schlafende auch nicht einmal einen Traum hat, so wäre der Tod ein wunderbarer Gewinn. (…)
Ist aber der Tod wiederum wie eine Auswanderung von hinnen an einen andern Ort, und ist das wahr, was gesagt wird, daß dort alle Verstorbenen sind – was für ein größeres Gut könnte es wohl geben als dieses, ihr Richter? Denn wenn einer, in der Unterwelt angelangt, nun dieser sich so nennenden Richter entledigt dort die wahren Richter antrifft, von denen auch gesagt wird, daß sie dort Recht sprechen, den Minos und Rhadamanthys und Aiakos und Triptolemos, und welche Halbgötter sonst gerecht gewesen sind in ihrem Leben – wäre das wohl eine schlechte Umwanderung? Oder auch mit dem Orpheus umzugehen und mit Musaios und Hesiodos und Homeros – wie teuer möchtet ihr das wohl erkaufen? Ich wenigstens will gern oftmals sterben, wenn dies wahr ist.“13
Unbeugsam in seiner Haltung, zog er sich die Ablehnung und den Zorn den Geschworenen zu und wurde zum Tod verurteilt.
Er hatte mehrfach die Gelegenheit zur Flucht. Aber er hatte das gegen ihn ausgesprochene Todesurteil als gültiges Fehlurteil mit großer Gelassenheit hingenommen. Bis zu dem Moment, wo er den Schierlingsbecher trank, diskutierte er mit seinen im Gefängnis anwesenden Freunden und Schülern philosophische Fragen.
Auch die Frage nach dem Recht auf Selbsttötung wurde besprochen. In Platons „Phaidon“ heißt es dazu:
„Nur Gewalt wird er sich doch nicht selbst antun; denn dies, sagen sie, sei nicht recht.
Und als er dies sagte, ließ er seine Beine von dem Bett wieder herunter auf die Erde, und so sitzend sprach er das übrige.
Kebes fragte ihn nun: Wie meinst du das, o Sokrates, daß es nicht recht sei, sich selbst Leides zu tun, daß aber doch der Philosoph dem Sterbenden zu folgen wünsche?
Wie, Kebes? Habt ihr über diese Dinge nichts gehört, du und Simmias, als ihr mit dem Philolaos zusammenwaret?
Nichts Genaues wenigstens, Sokrates.
Auch ich kann freilich nur vom Hörensagen davon reden; was ich aber gehört, bin ich gar nicht abgeneigt, euch zu sagen. Auch ziemt es sich ja wohl am besten, daß der, welcher im Begriff ist, dorthin zu wandern, nachsinne und sich Bilder mache über die Wanderung dorthin, wie man sie sich wohl zu denken habe. Was könnte einer auch wohl noch weiter tun in der Zeit bis zum Untergang der Sonne?
Weshalb also sagen sie, es sei nicht recht, sich selbst zu töten, o Sokrates? Denn ich habe dies auch schon, wonach du eben fragtest, vom Philolaos gehört, als er sich bei uns aufhielt, und auch schon von andern, daß man dies nicht tun dürfe. Genaues aber habe ich von keinem jemals etwas darüber gehört.
So mußt du dich noch weiter bemühen, sagte er, du kannst es ja wohl noch hören. Vielleicht aber kommt es dir auch wunderbar vor, daß dies allein unter allen Dingen schlechthin so sein soll, und auf keine Weise, wie doch sonst überall, nur bisweilen und nur für einige Menschen: nämlich es sei besser zu sterben als zu leben. Und denen nun besser wäre zu sterben, wird dir wunderbar vorkommen, daß es diesen Menschen nicht erlaubt sein solle, sich selbst wohlzutun, sondern daß sie einen andern Wohltäter erwarten sollen.
Da sagte Kebes etwas lächelnd und in seiner Mundart: Das mag Gott wissen.
Es kann freilich so scheinen, unvernünftig zu sein, sprach Sokrates, aber es hat doch auch wieder einigen Grund. Denn was darüber in den Geheimlehren gesagt wird, daß wir Menschen wie in einer Feste sind und man sich aus dieser nicht selbst losmachen und davongehen dürfe, das erscheint mir doch als eine gewichtige Rede und gar nicht leicht zu durchschauen. Wie denn auch dieses, o Kebes, mir ganz richtig gesprochen scheint, daß die Götter unsere Hüter und wir Menschen eine von den Herden der Götter sind. Oder dünkt es dich nicht so?
Allerdings wohl, sagte Kebes.
Also auch du würdest gewiß, wenn ein Stück aus deiner Herde sich selbst tötete, ohne daß du angedeutet hättest, daß du wolltest, es solle sterben, diesem zürnen und, wenn du noch eine Strafe wüßtest, es bestrafen?
Ganz gewiß, sagte er.
Auf diese Weise nun wäre es also wohl nicht unvernünftig, daß man nicht eher sich selbst töten dürfe, bis der Gott irgend eine Notwendigkeit dazu verfügt hat, wie die jetzt uns gewordene?
Dieses freilich, sagte Kebes, scheint ganz billig. Was du jedoch vorher sagtest, daß jeder Philosoph gern werde sterben wollen, dieses, o Sokrates, kommt dann ungereimt heraus; wenn doch, was wir eben sagten, sich richtig so verhält, daß Gott es ist, der uns hütet, und daß wir zu seiner Herde gehören. Denn daß nicht die Vernünftigsten gerade am unwilligsten aus dieser Pflege sich entfernen sollten, wo diejenigen für sie sorgen, welche die besten Versorger sind für alles, was ist, die Götter, das ist gar nicht zu denken. Denn sie können ja nicht glauben, daß sie sich selbst besser hüten werden, wenn sie frei geworden sind; sondern nur ein unvernünftiger Mensch könnte das vielleicht glauben, daß es gut wäre, von seinem Herrn zu fliehen, und könnte nicht bedenken, daß man ja von dem Guten nicht fliehen muß, sondern sich soviel als möglich daran halten, und daß er also unvernünftigerweise fliehen würde; der Vernünftige aber würde immer streben, bei dem zu sein, der besser wäre als er. Und so käme ja wohl, o Sokrates, das Gegenteil von dem heraus, was eben gesagt ward: den Vernünftigen nämlich ziemte es, ungern zu sterben, und nur den Unvernünftigen gern.“14
Dieser kurze Ausschnitt aus Platons „Phaidon“ zeigt, dass Sokrates bereit ist, für seine Ideen zu sterben. Aber er spricht sich hier, so wie später auch Platon (428 v. Chr.–348 v. Chr.) oder Aristoteles (384 v. Chr.–328 v. Chr.), klar gegen die Selbsttötung aus.
Bleibt die Frage, hat Sokrates sich selbst getötet, als er den Schierlingsbecher nahm? War es ein Freitod oder eine erzwungene Selbsthinrichtung?
„Ich verstehe, sagte Sokrates. Beten aber darf man doch zu den Göttern und muß es, daß die Wanderung von hier dorthin glücklich sein möge, worum denn auch ich hiermit bete, und so möge es geschehen!
Und wie er dies gesagt, setzte er an, und ganz frisch und unverdrossen trank er aus. Und von uns waren die meisten bis dahin ziemlich imstande gewesen, sich zu halten, daß sie nicht weinten; als wir aber sahen, daß er trank und getrunken hatte, nicht mehr.“15
• Platon
Das eigentliche Wesen des Menschen ist seine Seele. Diese ist nicht in unserer physischen Welt, sondern in einer transzendenten Ideenwelt beheimatet. Diese zeit- und raumlose Welt ist die ursprüngliche Wirklichkeit, von der die physische Welt abhängt. Die Existenz des Menschen ist also keine eigenständige, unabhängige, sondern eine Projektion der Ideenwelt, die in der physischen Welt nur zur materiellen Erscheinung kommt. Die Urbilder der Ideenwelt verleihen den Abbildern der physischen Welt Gestalt.
Aus dieser komplexen Weltsicht heraus sagt Platon, dass der Mensch in der Macht der Götter steht und deswegen nur mit Erlaubnis oder auf Befehl der Götter das Leben verlassen dürfe. Wer sich gar aus Schlaffheit und unmännlicher Feigheit umbringe, solle an unbebauten, namelosen Plätzen ruhmlos bestattet werden.
• Aristoteles
Noch deutlicher spricht sich Aristoteles gegen die Selbsttötung aus. Er sieht den Selbstmord durch das Gesetz der Polis16 verboten: „Recht in einem Sinne ist, was vom Gesetze in Bezug auf jede einzelne Tugend geboten ist. Nun gebietet das Gesetz aber zum Beispiel nicht, sich selbst zu tödten; was es aber nicht zu tödten gebietet, das zu tödten verbietet es.“17
Er spricht auch über die entsprechende Bestrafung, den Verlust von Ansehen und Ehre: „Er leidet ja freiwillig, und niemand leidet freiwillig Unrecht. Darum straft ihn auch die Obrigkeit und haftet dem Selbstmörder, als einem Menschen, der sich am gemeinen Wesen versündigt hat, eine Makel an.“18
Der „Selbstmörder“, so Aristoteles, verletzt durch seine Tat seine Pflichten gegenüber der Gesellschaft. Somit sei es verantwortungslos, sich selbst zu töten. Und die Gesellschaft habe das Recht, mit schärfsten Strafen zu reagieren.
An anderer Stelle wertet Aristoteles den Selbstmord als Anzeichen von Weichlichkeit. Dann, wenn der Selbstmörder durch seine Tat den Übeln des Lebens fliehen will. Er rät „dem Feigling“ dazu, sich der Tugend der Tapferkeit zuzuwenden, anstatt sein Wohl im Tod zu suchen.
Nach Aristoteles kann es keine guten Gründe geben, sich das Leben zu nehmen.
• Hegesias
Eine ganz andere Sicht vertrat der griechische Philosoph Hegesias von Kyrene. Er lebte und wirkte um 300 v. Chr. in Alexandria.
Die Metropole am Mittelmeer, die Alexander der Große etwa 30 Jahre vorher gegründet hatte, wuchs zu dieser Zeit nicht nur zum wirtschaftlichen und politischen, sondern auch zum geistigen Zentrum der hellenistischen Welt.
Hegesias war als Denker aus der Schule der Kyrenaiker19 ein Hedonist. „Hedonismus“, vom Griechischen „hedone“, bedeutet Freude, Vergnügen, Lust.
Der Leitgedanke der Hedonisten in der Antike war, dass einzig die Maximierung von Lust und Freude – körperlicher wie auch seelischer – und die Vermeidung von Schmerz und Leid als höchstes zu erreichendes Ideal anzusehen sind – als eigentlicher Sinn des Lebens.
Hegesias entwickelte seine Gedanken vom Hedonismus zu einem seltsam radikalen Pessimismus. Das Leben, so argumentierte er, halte in den meisten Fällen mehr Schmerz als Lust bereit. Da die Lust also unerreichbar ist, gilt es zumindest, Schmerz und Leid zu vermeiden. Der Tod birgt diese totale und einzig wirkliche Befreiung vom Leid. Im Tod gibt es weder Lust noch Schmerz. Daher ist er besser als das Leben. Der Weise kann also in letzter Konsequenz nur zu dem Schluss kommen, sich selbst zu töten.
Seine Werke und Schriften, in denen er diese Philosophie darlegte, sind nicht erhalten geblieben. Aber seine Reden müssen so vortrefflich und für die Massen verführerisch gewesen sein, dass die Menschen sich scharenweise das Leben nahmen.
Mit seinen Reden gegen das Leben verdiente er sich schnell den Beinamen „Peisithanatos“, der „Zum-Tode-Ratende“.
Die Frage bleibt:
Warum ist er seinem eigenen Rat nicht gefolgt?
Warum hat er selbst nicht diesen letzten Schritt des Weisen getan?
König Ptolemaios I. Lagu machte dem Spuk ein Ende und untersagte dem „Zum-Tode-Ratenden“, weiterhin in öffentlicher Rede den Selbstmord zu propagieren.
Die Motive des Herrschers waren wahrscheinlich weniger moralischer oder ethischer Natur. Vielmehr fürchtete er eine Destabilisierung des Staatswesens. Arbeiter und Sklaven, die sich selbst in den Tod stürzten, waren schließlich für keinen mehr von Nutzen. Der volkswirtschaftliche Schaden war immens.
Über den Tod von Hegesias von Kyrene, über die Art und Weise, wie er aus dem Leben schied, ist nichts bekannt.
• Epikur
„Lebt wohl und erinnert euch an meine Lehren.“
Nach diesen letzten Worten an seine Schüler nahm der Philosoph Epikur (341 v. Chr.–270 v. Chr.) noch ein warmes Bad und trank dann den Kelch mit dem Gift.
Epikur lebte vor den Toren Athens in einem kleinen Haus mit Garten. Seine Schüler, die er hier unterrichtete, hießen im Volksmund „die Philosophen aus dem Garten“. Am Eingang zu Epikurs Garten war eine Inschrift angebracht:
„Freund, das ist ein guter Ort. Hier wird nichts mehr verehrt als das Glück.“
Das oberste Ziel von Epikurs Ethiklehre war das Erreichen und die Verstetigung des Glücks durch den Genuss jedes einzelnen Tages, jeden Augenblicks.
Ein bedeutender Unterschied zu den Hedonisten ist, dass die Lustmaximierung nach Epikur mit einer weisen Bedürfnisregulierung zu erreichen war. Eines der berühmtesten Zitate von Epikur in diesem Zusammenhang lautet:
„Nichts ist für den genug, dem das Genügende zu wenig ist.“20
Ein lustvolles Leben ist gleichzeitig ein Leben voller Einsicht. Aber ein einsichtiges Leben lässt sich gleichzeitig nur durch ein lustvolles Leben erreichen.
Um dieses Ideal, die vollendete Seelenruhe, die Ataraxie21, zu Lebzeiten zu erreichen, galt es, alle Gefährdungen des Seelenfriedens zu meiden oder zu überwinden. Als die drei Hauptgefahren sah Epikur die Begierde, den Schmerz und die Furcht. Bei der Furcht unterschied er vor allem die Furcht vor den Göttern und die Furcht vor dem Tod.
In seinen Briefen an Menoikeus heißt es dazu:
„Gewöhne dich daran zu glauben, dass der Tod keine Bedeutung für uns hat. Denn alles, was gut, und alles, was schlecht ist, ist Sache der Wahrnehmung. Der Verlust der Wahrnehmung aber ist der Tod. Daher macht die richtige Erkenntnis, dass der Tod keine Bedeutung für uns hat, die Vergänglichkeit des Lebens zu einer Quelle der Lust, indem sie uns keine unbegrenzte Zeit in Aussicht stellt, sondern das Verlangen nach Unsterblichkeit aufhebt. (…) Das schauerlichste aller Übel, der Tod, hat also keine Bedeutung für uns; denn solange wir da sind, ist der Tod nicht da, wenn aber der Tod da ist, dann sind wir nicht da.“22
Epikur vertrat eine absolute Diesseitigkeit. Nach seiner Lehre löst sich mit dem Tod auch die Seele auf. Ebenso wie gegen die Furcht vor dem Tod sprach er sich deutlich gegen eine Gottesfürchtigkeit aus. Das Schicksal, das Leben gehört dem Menschen allein. Der Mensch lebt nicht für einen Gott, nicht für einen Staat, nicht für eine Kultur, sondern einzig und allein, um sein einmaliges Leben mit Glück zu erfüllen.
Trotz dieser obrigkeitsfeindlichen Lehren wurde Epikur nicht wie Sokrates von den Mächtigen seiner Zeit verfolgt, sondern nur verhöhnt und verachtet.
Epikur und Sokrates. Beide begehen Selbsttötung, beide in bester Stimmung, im Kreis ihrer Freunde. Sokrates war zum Tod verurteilt, Epikur litt an einer schweren Krankheit.
Aber Sokrates wie Epikur gestanden dem Menschen die Selbsttötung nur unter bestimmten Umständen und in bestimmten Situationen zu. Ähnlich war auch die Sicht der Stoiker.
• Zenon von Kition
Zenon von Kition (333 v. Chr.–264 v. Chr.) gilt als Begründer der Stoa. Er lebte und lehrte zur gleichen Zeit wie Epikur.
Seine Lehre, die Stoa, ist benannt nach einer alten Säulenhalle, die im antiken Athen auf der Agora (Markt) unterhalb der Akropolis stand. Hier versammelte Zenon sein Schüler um sich.
Seine Lehre sah den Mensch als Teil einer vom „göttlichen Logos“, von der „göttlichen Urkraft und Vernunft“ durchwebten und bestimmten Natur.
Sein Geist und sein Verstand geben dem Mensch die Möglichkeit, an diesem göttlichen Logos teilzuhaben und die „eudaimonia“, das seelische Glück, zu erreichen.
Dafür notwendige Voraussetzung ist, ein tugendhaftes, vernünftiges Leben zu führen, sich nicht von Begierden verleiten zu lassen. Den Schicksalsschlägen des Lebens solle man mit „stoischer Gelassenheit“ begegnen.
Ein Ideal in diesem Zusammenhang war das Erreichen der „Apatheia“, der „Abwesenheit von Affekten“. Durch die Kontrolle von Schmerz und Lust, durch die emotionale Selbstbeherrschung (Kontrolle der Affekte), werde der Stoiker die Apatheia und damit die Weisheit erlangen. Apatheia ist keinesfalls mit dem heutigen Begriff und Verständnis von Apathie gleichzusetzen.
Die Stoa lehrte aber auch, dass ein Mensch, der unheilbar krank oder schwer verletzt ist, kein vernunftmäßiges Leben mehr führen könne. Dann gebiete es der Logos, das Leben freiwillig zu beenden.
Zenon von Kition ging mit bestem Beispiel voran. Laut Überlieferung soll er sich selbst stranguliert haben, nachdem er gestürzt war und sich ein Bein gebrochen hatte.
• Lucius Annaeus Seneca
Die altstoische Schule des antiken Griechenlands hatte noch 300 Jahre später im kaiserlichen Rom zahlreiche Anhänger, die die philosophischen Gedanken der Stoa weiterentwickelten.
Einer der großen Meister der jüngeren Stoa war der Philosoph, Dramatiker und Staatsmann Lucius Annaeus Seneca (1 n. Chr.– 65 n. Chr.). Schon zu seinen Lebzeiten war er ein Superstar, einer der meistgelesenen Autoren seiner Zeit. Bekannt ist er bis heute auch als Lehrer und Erzieher von Kaiser Nero. Ein Wirken, das wohl nicht von Erfolg gekrönt war. Der Tyrann Nero bezichtigte seinen alten Lehrer, an einem gescheiterten Mordkomplott gegen ihn beteiligt gewesen zu sein, und befahl ihm, sich selbst zu töten. Mit stoischer Gelassenheit und ohne zu zögern kam Seneca dem Befehl nach.
Seine Sicht auf das Leben und die Selbsttötung beschreibt er sehr deutlich und ausführlich in seinem 70. Brief an seinen Freund Lucilius.
„Über den freiwilligen Tod
Nach langer Zeit habe ich dein Pompeji wiedergesehen. Ich fühle mich zurückversetzt in die Zeit meiner Jugend. Sie stand mir wieder vor Augen. Alles, was ich als Jüngling getan, es kam mir vor, als könnte ich es jetzt noch tun und als hätte ich’s erst eben getan. Wir sind am Leben vorübergeschifft, mein Lucilius, und wie bei einer Meeresfahrt unserem Vergil zufolge so haben wir im Verlauf der rastlos eilenden Zeit zuerst unsere Kindheit dahinschwinden sehen, sodann unsere Jünglingszeit, sodann die zwischen Jugendund Greisenalter liegende Zeit, die an beide grenzte, sodann die besten Jahre des Greisenalters selbst, und nun nähern wir uns der Grenze, die allen Menschen gesetzt ist. Wir halten sie für eine Klippe. Wir Toren! Ein Hafen ist sie, zuweilen erstrebenswert, niemals zu verschmähen. Wer in den ersten Lebensjahren dahin verschlagen wird, darf sich ebenso wenig beklagen wie der, welcher in schneller Fahrt dahin gelangte. Denn den einen hält, wie du weißt, das launenhafte Spiel der Winde zurück, ihn durch ihre ausgesuchte Trägheit bis zu völligem Überdruss ermüdend, während einen anderen eine immer frische Brise schnellstens ans Ziel bringt. Ebenso ergeht es uns: Die einen führt das Leben in raschem Verlaufe dahin, wohin sie auch bei zögerndem Schritte gelangen müssten, andere macht es mürbe und gar. Du weißt: Das Leben ist nicht wert, immer festgehalten zu werden; denn nicht das Leben an sich ist ein Gut, sondern nur das sittlich reine Leben. Daher lebt der Weise nicht, so lange er kann, sondern so lange die Pflicht es fordert. Er wird Umschau halten, mit wem und wie er leben wird und was er vornehmen wird, sein Sinnen und Denken geht nicht auf die Länge des Lebens sondern auf dessen Beschaffenheit. Tritt ihm viel Belästigendes und seine Gemütsruhe Störendes entgegen, dann wirft er die Fessel von sich, und er tut das nicht bloß in der äußersten Not, sondern sobald das Schicksal anfängt ihm verdächtig zu werden, geht er gewissenhaft mit sich zu Rate, ob er sofort ein Ende machen soll. Ihm kommt es nicht darauf an, ob er oder eine anderer sein Ende herbeiführe, ob es früher oder später eintrete. Er ist nicht in Furcht, als handle es sich um einen großen Verlust: an der Dachtraufe ist für niemanden viel verloren. Früher oder später zu sterben ist nicht von Belang; von Belang ist allein, ob du tadellos oder schimpflich stirbst. Tadellos zu sterben aber heißt der Gefahr entgehen, schlecht zu leben.
Ich halte es für eine unmännliche Äußerung, wenn jener Rhodier, den ein Tyrann in einen Käfig einsperren und wie ein wildes Tier füttern ließ, einem, der ihm riet, sich der Nahrung zu enthalten, die Antwort gab: ‚Solange der Mensch noch lebt, darf er alles hoffen.‘ Auch angenommen, dies sei wahr, so ist doch das Leben nicht um jeden Preis zu erkaufen. Mag manches, was uns winkt, auch noch so groß, noch so sicher sein, so möchte ich doch nicht durch ein schimpfliches Geständnis meiner Schwäche dazu gelangen. Was von beiden soll ich lieber denken? Dass das Schicksal gegen den, welcher lebt, alles vermag, oder dass das Schicksal gegen den, welcher zu sterben weiß, nichts vermag? Doch es gibt Fälle, wo der Weise, auch wenn ihm der sichere Tod bevorsteht und er weiß, dass seine Todesstrafe beschlossen ist, seine Hand nicht hergeben wird für Vollziehung derselben: Für sich selbst würde er sie hergeben. Torheit ist es, aus Furcht vor dem Tode zu sterben. Er kommt, der dich tötet; erwarte ihn. Warum hast du es so eilig? Warum machst du dich zum Vollstrecker der grausamen Anordnung eines anderen? Gönnst du es deinem Henker nicht oder willst du ihn schonen?
Sokrates hätte durch Enthaltsamkeit seinem Leben ein Ende machen können und durch Hunger statt durch Gift sterben. Gleichwohl verbrachte er dreißig Tage im Kerker und in Erwartung des Todes, nicht etwa in der Annahme, es könne noch alles Mögliche geschehen, eine so lange Zeit gebe mancherlei Hoffnung Raum, sondern um seine Gesetzestreue zu bewähren und um seine Freunde in die Lage zu bringen, sich des Umganges mit dem an der Schwelle des Todes stehenden Sokrates zu erfreuen. Was wäre törichter gewesen als den Tod zu verachten und das Gift zu fürchten?
Scribonia, eine würdevolle Frau, war die Vaterschwester des Drusus Libo, eines jungen Mannes, der ebenso töricht wie adelsstolz mit seinen ehrgeizigen Plänen höher hinauswollte als zu jener Zeit sonst einer oder er selbst zu irgendeiner Zeit sich zutrauen durfte. Als er in leidendem Zustand vom Senat in einer Sänfte nach Hause gebracht worden war – mit geringem (Leichen-)Gefolge, denn alle ihm Nahestehenden hatten ihn lieblos verlassen, als wäre er bereits tot und nicht bloß angeklagt –, trat er mit den Seinigen in eine Beratung darüber ein, ob er sich den Tod geben oder ihn erwarten solle. Da sagte Scribonia: ,Was hast du denn davon, wenn du anderer Geschäfte besorgst?‘ Ihre Worte hatten keinen Erfolg: Er legte Hand an sich und nicht ohne Grund. Denn wer drei oder vier Tage später nach seines Gegners Entscheidung sterben soll und sein Leben noch schont, der besorgt die Geschäfte anderer.
Man kann also schwerlich ein schlechthin allgemeines Urteil darüber abgeben, ob man, durch äußere Gewalt mit dem Tode bedroht, sich selbst im voraus den Tod geben oder ihn erwarten soll. Denn es gibt mancherlei, was uns nach beiden Seiten ziehen kann. Wenn die eine Todesart mit Folterqualen verbunden ist, die andere einfach und leicht, warum soll ich mich nicht an die letztere halten? Wie ich zu einer Seefahrt mir das Schiff und zu meiner Wohnung mir das Haus wähle, so wähle ich eine Todesart, um aus dem Leben zu scheiden. Zudem ist ja das längere Leben nicht unbedingt auch das bessere, während der längere Tod unbedingt der schlimmere ist. Es gibt nichts, worin wir so sehr der Stimmung der Seele Rechnung tragen müssen, als der Tod. Wähle sie sich ihren Ausweg gemäß dem Drange, der sie treibt; mag sie nach dem Schwerte greifen oder nach einem Strick oder nach einem die Adern durchdringenden Gifttrank, gleichviel, sie zerreiße ohne Zögern die Ketten der Knechtschaft! Für das Leben muss jeder auch Rücksicht nehmen auf die Billigung anderer, den Tod bestimme er ganz nach eigener Wahl; je mehr nach unserer Neigung, umso besser. Ein Tor, wer sich Gedanken macht wie diese: ,Der eine wird mir mangelnden Mut, der andere Übereiltheit vorwerfen, ein dritter wird sagen, es hätte doch irgendeine beherztere Todesart gewählt werden können.‘ Lass dich nicht irre machen! Nur der Entschluss ist wirklich der deinige, mit dem das Gerede der Leute nichts zu tun hat. Dein Augenmerk sei allein darauf gerichtet, dich so schnell als möglich der Gewalt des Schicksals zu entziehen. Ohnehin wird es an Leuten nicht fehlen, die über deine Tat ungünstig urteilen.
Es finden sich sogar Vertreter der Philosophie, die ein gewaltsames Lebensende für unerlaubt erklären und es für eine Sünde halten, sein eigener Mörder zu werden: Man müsse des Ausganges harren, den die Natur bestimmt hat. Wer so spricht, sieht nicht, dass er der Freiheit den Weg versperrt. Wie hätte das ewige Gesetz besser verfahren können als so, dass es uns einen Eingang ins Leben gab, der Ausgänge aber viele. Soll ich wirklich auf die Grausamkeit einer Krankheit oder eines Menschen warten, während es in meiner Macht steht, allen Folterqualen aus dem Wege zu gehen und mich aller Widerwärtigkeiten zu entledigen? Dies ist, das uns keinen Grund gibt, über das Leben zu klagen: Es hält niemanden fest. Es ist ein Trost für uns Menschen, dass niemand unglücklich ist außer durch eigene Schuld. Gefäll dir’s so lebe; gefällt dir’s nicht, so kannst du wieder hingehen, woher du gekommen. Um die Kopfschmerzen loszuwerden, hast du schon öfters Blut gelassen. Um die Körperfülle zu mindern, wird dir zu Ader gelassen. Es ist nicht nötig, die Brust durch eine weit klaffende Wunde zu spalten: ein Messerchen genügt, den Weg zu bahnen zu jener hochherrlichen Freiheit, ein einziger Stich sichert und die sorgenlose Ruhe.
Was ist es also, was uns träge und schlaff macht? Keiner von uns denkt daran, dass er doch einmal diese Wohnung verlassen müsse: So sehen sich alte Mietsleute durch die Gewohnheit an die liebgewordene Örtlichkeit gefesselt trotzt aller Unzuträglichkeiten. Willst du dich unabhängig machen von diesem Leib? Dann bewohne ihn als ein zur Auswanderung Bereiter. Stelle dir vor, dass du einst auf diese Gemeinschaft verzichten musst; dann wirst du mutiger sein, wenn es gilt, ihn zu verlassen. Doch wie sollen diejenigen an ihr Ende denken, deren Begehrlichkeit allseitig ins Endlose geht? Nichts fordert so dringend unser Nachdenken. Für andere Dinge übt man sich vielleicht ganz überflüssigerweise. Man hat sich innerlich auf die Armut vorbereitet; aber der Reichtum ist nicht von uns gewichen. Wir haben uns gerüstet zum Kampfe gegen den Schmerz als einen verächtlichen Gegner; allein die glückliche Veranlagung unseres unverletzten und gesunden Körpers verlangt nie von uns eine Probe dieser Tugend. Wir haben es uns zur Vorschrift gemacht, bei schmerzlichen Todesfällen den Sehnsuchtsschmerz tapfer zu bekämpfen; aber all unsere Lieben hat das Schicksal am Leben erhalten. Jene Vorbereitung dagegen ist die einzige für deren Erprobung der entscheidende Tag mit Bestimmtheit erscheinen wird.
Man glaube nicht, nur große Männer hätten die Kraft gehabt, die Bande der menschlichen Knechtschaft zu sprengen. Man meine nicht, dergleichen könne nur von einem Cato geschehen, der mit der bloßen Hand dem Leben den Ausgang verschaffte, den er mit dem Schwerte nicht hatte erzielen können. Menschen niedrigsten Standes haben sich mit feurigem Ungestüm in dieser Hinsicht zu sichern gewusst, und dass sie nicht nach ihrem Wunsche sterben und sich die Werkzeuge dazu nicht nach Belieben auswählen durften, so griffen sie nach allem, was ihnen gerade in die Hand kam, und machten mit ihrer Kraft zu Waffen, was von Natur nicht schädlich war.
Kürzlich trat im Tierkampf ein Germane, der für das Vormittagsspiel bestimmt war, angeblich zur Befriedigung eines Bedürfnisses aus: Es gab für ihn sonst keinen Ort, wohin er ohne Begleiter sich hätte entfernen können. Dort stieß er sich die zur Beseitigung des Unrates mit einem Schwamm versehene Holzstange tief in die Kehle hinein und gab infolge dieser Versperrung des Schlundes den Geist auf. Das heißt dem Tode Hohn antun. Recht so. Allerdings, Sauberkeit und Anstand kommen dabei zu kurz. Aber was wäre törichter als beim Tode nach Anstand zu fragen? Heil diesem Helden, der würdig gewesen wäre, seinen Tod sich wählen zu dürfen! Wie tapfer hätte er das Schwert gehandhabt, wie mutig hätte er sich in die Tiefe des Meeres oder in den Abgrund einer Felsenschlucht gestürzt! Aller Hilfe beraubt fand er doch den Weg, sich zum alleinigen Herren über seinen Tod und die dazu dienliche Waffe zu machen, zum Beweise, dass es zum Tode kein Hemmnis gibt als den Willen. Urteile jeder nach Gutdünken über die Tat dieses trotzig entschlossenen Mannes; aber so viel steht fest: auch der schmutzigste Tod ist der saubersten Knechtschaft vorzuziehen.
Einmal hineingeraten in das Fahrwasser der den niederen Schichten entnommenen Beispiele, will ich dabei auch bleiben. Denn jeder wird an sich selbst höhere Anforderungen stellen, wenn er sieht, dass der Tod auch von den Verachtetsten verachtet werden kann. Einen Cato, einen Scipio und wie sie sonst heißen, deren Namen wir mit Bewunderung zu hören gewohnt sind, halten wir für erhaben über alle Nachahmung. So will ich denn zeigen, dass nicht weniger Beispiel dieser Tugend bei dem Schauspiel der Tierkämpfe vorkommen als bei den führenden Männern im Bürgerkrieg. Als kürzlich ein für die Tierkämpfe Bestimmter unter starker Bewachung auf einem Karren zu diesem Morgenspiel gefahren wurde, stellte er sich, als ob er von Müdigkeit überwältigt eingenickt wäre, und senkte seinen Kopf so tief, bis durch den Umschwung des Rades das Genick brach. Derselbe Karren, der ihn zu dem tödlichen Spiel führen sollte, verhalf ihm zur Flucht vor demselben.
Nichts steht dem im Wege, der sich seiner Umgebung entziehen will. Die Natur hält uns in ihrer Obhut, lässt uns aber reichliche Freiheit. Wem seine bedrängte Lage es noch erlaubt, der suche einen leicht erträglichen Ausgang; wem mehrere Mittel zur Hand sind, sich in Freiheit zu setzen, der treffe eine Auswahl und erwäge, welches das beste ist, um zur Freiheit zu gelange; für wen sich aber nur schwer eine Gelegenheit finden will, der greife zu dem ersten besten, mag es auch ungewöhnlich, mag es auch unerhört sein. Wem zum Tode der Mut nicht fehlt, der wird dazu auch Erfindungsgabe genug haben: Siehst du doch, wie auch die Sklaven niederster Sorte, wenn ihre traurige Lage sie zu dem Äußersten anstachelt, sich ermannen und die strengsten Wächter täuschen. Der ist ein großer Mann, der den Tod nicht nur über sich verhängt, sondern auch die Art desselben zu finden weiß. Ich habe dir aus dem gleichen Berufskreis mehrere Beispiele versprochen. Bei der zweiten Aufführung der Seeschlacht stieß sich einer der Barbaren die Lanze, die er zum Kampfe wider die Gegner empfangen hatte, tief in die Kehle. Er sagte sich: ,Warum, warum entziehe ich mich nicht schon längst jeder Macht, jedem Hohn? Jetzt habe ich eine Waffe, warum warte ich auf den Tod?‘ Dieses Schauspiel war umso großartiger, je ehrenvoller es für den Menschen ist, sterben als töten zu lernen. Wie steht es also? Einen Mut, den die Vertreter der niedrigsten und gefährlichsten Menschenschicht besitzen, sollen diejenigen nicht haben, die sich für solche Fälle durch anhaltendes Nachdenken unter Führung der Vernunft, dieser Lehrerin aller Dinge, gerüstet haben? Sie, die Vernunft, lehrt uns, dass das Schicksal mancherlei Eintrittsweisen in das Leben gestattet, dass das Ziel aber das gleiche ist und dass es nichts ausmache, welches der Ausgangspunkt dessen sei, was da kommt. Eben diese Vernunft rät uns, wenn es angeht, nach unserer Wahl zu sterben, aber im anderen Falle nach Maßgabe dessen, was in unserer Macht steht, und jedes sich bietende Mittel zu benutzen, um uns Gewalt anzutun. Es ist unrecht, vom Raube zu leben, aber nicht schöner als zu sterben durch das, was man durch Raub in seine Gewalt gebracht hat.“23
Dieser Text lässt sich nur in seiner Gesamtheit wiedergeben, weil eine Verkürzung auch eine Verfälschung des Sinns bedeuten würde. Aber selbst die vollständige Widergabe des Textes verhindert nicht, dass dieser Text falsch verstanden wird.
Seneca nimmt in diesem Text kein Blatt vor den Mund. Sprache und Inhalt sind extrem. Auch wenn Seneca hier ungeschminkt über Selbsttötung spricht, seine Philosophie, seine Lehren erzählen von den Mitteln und Wegen des Weisen, sein Leben durch die Vernunft in Gelassenheit und mit Seelenfrieden zu meistern. Aus seinen Lehren spricht eine große Liebe zu einem tugendhaften
Leben.
Weder Seneca noch die Philosophie der Stoa stellen dem Menschen einen Freibrief auf ein allgemeines Recht zur Selbsttötung aus. Nur unter ganz bestimmten Bedingungen und in bestimmten Situationen räumen sie dem Menschen die Freiheit ein, sich zu töten. Diese Bedingungen beziehen sich vor allem auf den Verlust der Freiheit (Leben in der Tyrannei) oder auf den Verlust des freien und vernünftigen Bewusstseins aufgrund von Krankheit, Qualen und Schmerz.
Aber ob die Stoa dem Menschen das Recht einräumt, sich ohne äußeren Druck und Zwang zu töten, bleibt zu bezweifeln.
Auch Seneca selbst handelte auf Befehl (Zwang) von Nero, so wie Sokrates nach dem Todesurteil der Geschworenen. Beide begingen Selbsttötung auf Zwang, aber sie handelten bewusst, töteten sich selbst, um der Hand des Henkers zu entkommen.