Читать книгу Stalin - Klaus Kellmann - Страница 13
Der Chefredakteur
ОглавлениеWas als Russische Revolution in die Weltgeschichte eingegangen ist, war eine über das Jahr 1917 verteilte Abfolge sich ständig steigernder Spannungen und Konfrontationen auf allen Ebenen des morschen und morbiden Zarenreiches, die durch die Abnutzung der Truppen an der Front und das Aushungern der Zivilbevölkerung im Land ihre besondere, weltkriegsbedingte Aufladung erfuhr und die mit der Explosion Ende Oktober in einen radikalen politischen und gesellschaftlichen Umbruch einmündete. Von da an sahen sich für die Spanne eines ganzen Menschenalters exakt diejenigen an die Macht katapultiert, die zum Prozess der Niederringung des alten Regimes wenig beigetragen, ja ihn eher in der Rolle der Zaungäste verdeckt und – im wahrsten Sinne des Wortes – versteckt verfolgt hatten, nämlich die Bolschewisten.
Der Sturz des Zaren
Dabei war und ging es beileibe nicht nur um eine einfache Konfrontation zwischen Zar und Volk. Im Laufe des 19. Jahrhunderts hatte sich ein breites Spektrum aus liberal gesonnenem Bürgertum, progressiver Intelligenz, protestierenden Bauern, monarchiekritischen Offizieren sowie, wenn auch nur in den Großstädten Moskau und Petrograd, ein Industriearbeiterproletariat herausgebildet, die allesamt nach einem politischen Sprachrohr und nach Organisationsformen suchten, um ihre Rechte und Interessen einzufordern und dem Zustand absolutistischer Realentmündigung ein Ende zu bereiten. Ein zwar erst bruchstückhaft, aber dennoch vorhandenes System aus Parteien und parteiähnlichen Gruppierungen kann als Antwort auf diese Entwicklung angesehen werden. Es reichte von den Befürwortern einer behutsam reformierten konstitutionellen Monarchie über Orientierungen auf eine bürgerlich-parlamentarische Demokratie, vor allem der gemäßigten Sozialrevolutionäre, bis zu den konsequenten Agrarsozialisten und der faktisch in Menschewisten und Bolschewisten zerfallenen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, in der die Proklamation der Diktatur des Proletariats alles andere als eine unumstrittene Forderung war.
Hinzu kamen weitere Faktoren, die die lange Zeit unangetastete zaristische Obrigkeit bei der Bevölkerung immer mehr in Frage stellten. Hier ist die moralische Verfassung des Hofes, konkret die Ehe des Herrscherpaares, anzuführen. Nikolaus II., ein gleichermaßen schwacher wie entscheidungsschwacher Mann, hatte die deutsche Fürstentochter Alice von Hessen geheiratet, die sich fortan Alexandra nannte. Die amtierende Zarin stammte mithin aus einem Land, mit dem Russland sich seit 1914 in einem erbitterten Krieg befand. Alexandra galt als herrschsüchtig. Als sie nach mehreren Töchtern endlich den lang ersehnten Thronfolger, den „Zarewitsch“, geboren hatte, verhätschelte und vergötterte sie das Kind, und dies umso mehr, nachdem sich herausstellte, dass es an der Bluterkrankheit litt. Das Leiden des Jungen ermöglichte es dem ehemaligen Mönch, Wunderheiler und Scharlatan Gregor Rasputin, sich bei Hof einzuschleichen und das Vertrauen der Zarin zu gewinnen. 1917 zog er schon über ein Jahrzehnt die Fäden in Petersburg und war zu einer festen Größe im Intrigengeflecht der Hauptstadt geworden. Längst beschränkte er seine Aktivitäten nicht mehr auf die medizinische Betreuung des beklagenswerten Kleinen, sondern mischte kräftig auch in den Händeln der großen Politik mit. Mehrere Entlassungen reformfreudiger Minister gehen auf sein Konto.
Viel massenwirksamer und bis in die entlegenste sibirische, kaukasische und karelische Dorfkneipe belacht und beklatscht war aber sein angebliches oder tatsächliches Verhältnis mit der Zarin, für das es immerhin einen Anhaltspunkt in den Aussagen von Nikolaus II. gibt, der auf dem Höhepunkt der Affäre äußerte: „Besser ein Rasputin in der Nacht als zehn ihrer hysterischen Anfälle jeden Tag.“1 Bald wurde dem zu einem wahren Potenzgiganten hochstilisierten Wandermönch eine derartige Suggestivkraft auf die Frau aus dem hessischen Adel zugeschrieben, dass einflussreiche Kreise in dem bizarren Paar die Protagonisten eines antirussischen Komplotts mit dem Kriegsgegner zu entdecken glaubten. Als die Vierte und letzte Duma am 1. November 1916 zusammentrat, hielt der liberale Abgeordnete Miljukow eine Rede, die zur gnadenlosen Abrechnung mit dem ancien régime wurde. Nach jedem Fehler, den er der Politik des Zaren anlastete, stellte er die rhetorische Frage: „Ist es Dummheit, oder ist es Verrat?“2 Rasputin wurde wenige Wochen später von einem Konservativen ermordet, sodass er auf die sich zuspitzende Entwicklung des Folgejahres keinen Einfluss mehr nehmen konnte, aber die Ohnmacht und die Schande des Hofes wirkten noch lange nach.
Autoritätsverfall, Protestkundgebungen, wilde Streiks, Versorgungsengpässe, galoppierende Geldentwertung, Schwarzmärkte, Diebstahl, Plünderungen, Anarchie, Chaos, Hunger und Gewalt bestimmten zusehends das Alltagsleben, nicht nur in der Zwei-Millionen-Metropole Petersburg, sondern bald auch im ganzen Reich. Es waren Frauen, die das Signal zum Losschlagen gaben, und es waren Frauen, die ein Blutbad verhinderten. Der schon damals bei den höheren Herren wenig geliebte Internationale Frauentag fiel in Russland, in dem noch der Julianische Kalender galt, auf den 23. Februar 1917. Versammlungen waren nicht erwünscht. Trotzdem gingen in Wyborg, einer Richtung Finnland gelegenen Nachbarstadt von Petersburg, völlig erschöpfte Textilarbeiterinnen auf die Straße und verlangten Brot. Der Protestzug schwoll an und marschierte Richtung Innenstadt. Noch gelang es den aus Kosaken gebildeten Eliteeinheiten der Polizei, den Auflauf zu zerstreuen, aber am nächsten Tag waren bereits über 200.000 Menschen im Ausstand und am dritten Tag wurde der Generalstreik ausgerufen. Diesmal schafften sie den Durchbruch zum Newski Prospekt, der Repräsentations- und Flaniermeile von Petersburg.
Der im Armeehauptquartier hinter den Frontstellungen weilende Zar hatte inzwischen dem Militärkommandanten der Stadt den Befehl erteilt, von der Schusswaffe Gebrauch zu machen. Staat und Gegengewalt, alte und neue Ordnung marschierten aufeinander zu. Da löste sich aus dem Zug eine Demonstrantin und überreichte dem vordersten Kosakenoffizier einen Strauß roter Rosen, den dieser verlegen lächelnd entgegennahm. Das Beispiel machte Schule. In der irrigen Annahme, die Situation wieder im Griff zu haben, veranlasste die örtliche Militärführung den Zaren zu einem verhängnisvollen Schritt: Am Abend des 26. Februar ließ Nikolaus II. die Vierte Duma auflösen. Spontane, wütende Proteste und der Sturm auf das Winterpalais, den Sitz des zaristischen Ministerkabinetts, waren die Antwort. 67.000 Soldaten desertierten unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Nachricht. Die alte Regierung erklärte geschlossen ihren Rücktritt, und am 2. März zwang die Duma den Zaren zur Abdankung. Die 300-jährige Romanow-Dynastie und die über 100-jährige russische Monarchie verschwanden sang- und klanglos in der Versenkung. Russland wurde Republik.
Der Weg zur Oktoberrevolution
Aus dem Machtvakuum kristallisierten sich bald zwei Herrschaftszentren heraus, die von Anfang an miteinander rivalisierten: die bürgerliche provisorische Regierung des Sozialrevolutionärs Alexander Kerenski, zunächst nur einfacher Minister, bald aber ihre Führungsfigur, und der Petersburger Arbeiter- und Soldatenrat, der legendäre Petrograder Sowjet. Dieser übernahm sofort das Kommando im öffentlichen Leben, in der Verwaltung und in den Fabriken, wohingegen die provisorische Regierung erst für den Herbst das Einberufen einer Verfassunggebenden Versammlung ankündigte, ein fataler Schritt. Immerhin aber legte sie schon am 6. März ein Programm vor, in dem alle Grund- und Menschenrechte sowie die Koalitions-, Versammlungs- und Pressefreiheit garantiert wurden. Es wurde umgehend Gesetz. In weiteren Dekreten wurde jede Diskriminierung aus ständischen, ethnisch-nationalen und religiösen Gründen aufgehoben, mithin die bisherige Russifizierungspolitik beendet und die Emanzipation der Juden garantiert, der Strafvollzug mit der Peitsche verboten und am 12. März die Todesstrafe abgeschafft. Ziel war eine freie, demokratische Gesellschaft. Aus Untertanen unter der Zarenknute sollten mündige, souveräne Bürger werden. Die Ideen der westlichen Demokratien schienen unaufhaltsam in den Osten hinüberzuwachsen – zunächst freilich nur auf dem Papier. Die Wirklichkeit sah anders aus. Ausschlaggebend war und blieb, wofür sich die Soldaten entschieden. Was würden die Generäle tun, wenn ihnen die Männer davonliefen, zum Feind als dem neuen Verbündeten? Sollte man weichen oder weiterkämpfen, waren Krieg oder Frieden das Gebot der Stunde?
Zu den Parolen, die die Frauen von Wyborg am Morgen des 23. Februar skandierten, hatte auch ein „Nieder mit den Waffen“ gehört. Kerenskis erklärtes Ziel hingegen war die Erhaltung der Kampfkraft des Landes, während der Petrograder Sowjet als erste internationale Erklärung der Februarrevolution die „Völker der Welt“ am 14. März zu einem „Frieden ohne Annexionen und Kontributionen“ aufrief. Das klang zwar radikal, beinhaltete aber beileibe keine sofortige Waffenruhe und ließ Raum zur Fortführung des Krieges. Bis ins Frühjahr hinein hielten sich die Desertionen noch in Grenzen, dann aber gingen die Mannschaftsdienstgrade bataillons-, divisions- und regimentsweise von der Fahne, sodass die Armee am Vorabend der Oktoberrevolution als geschlossene Einheit praktisch aufgehört hatte zu existieren. Vom April bis in den Herbst hinein entfernten sich eine Million Soldaten eigenmächtig von der Truppe. Verbrüderungen mit den Deutschen waren an der Tagesordnung, andere blieben in den Wäldern und bildeten marodierende Banden. Vom Sommer 1917 an kam es zu Befehlsverweigerungen von Offizieren und Heeresführern gegenüber der Provisorischen Regierung, aber auch dem Sowjet gegenüber, weil dieser das Kerenski-Regime in der Kriegsfrage mittrug. Den linken Agitatoren war damit das Feld bereitet, und es ist kein Wunder, dass der Desintegrationsprozess der Armee parallel lief mit dem rasanten Aufstieg einer Gruppierung, die bisher kaum in Erscheinung getreten war, sondern sich geschickt und verdeckt im Hintergrund gehalten hatte: den Bolschewisten. Sie schickten sich jetzt an, vom Trittbrett ans Steuer der Geschichte zu springen.
Stalin war am 12. März nach Petersburg zurückgekehrt, als unbekannter und selbst in Parteikreisen noch weitgehend unbedeutender Mann. Das Zentralkomitee hatte schon seit 1912 in der Stadt ein so genanntes Russisches Büro eingerichtet, das auch die Pressearbeit erledigte. An seiner Spitze stand der gerade 27-jährige Wjatscheslaw Molotow, der die Kriegsverlängerung der provisorischen Regierung scharf verurteilte und Kerenski als „Vaterlandsverteidiger“3 brandmarkte. Der junge Heißsporn verlangte die sofortige Errichtung der Diktatur des Proletariats, mit ideologischer Schützenhilfe des ‚Meisters‘ Lenin aus der Ferne. Gegen Stalin mauerten die Mitglieder des Büros „angesichts gewisser persönlicher Eigenschaften“4, die diesem nachgesagt wurden, von Anfang an; doch der brauchte nur drei Tage, um Molotow abzusetzen, dessen Position und damit praktisch auch die Chefredaktion der Prawda zu übernehmen und als bolschewistisches Mitglied in den Petrograder Sowjet delegiert zu werden – ein Parforceritt aus dem sibirischen Eis in den Brennpunkt des Geschehens. Allerdings sprach er sich gegen Lenins Rat aus dem Schweizer Exil für die Positionen der Menschewisten aus, die im Sowjet die Mehrheit hatten, ja er unterstützte sogar die provisorische Regierung. Abwarten hieß das Gebot der Stunde, damit auch die ‚unsicheren‘ Bevölkerungsschichten bis tief hinein ins Kleinbürgertum gewonnen werden konnten. Lenins Briefe fanden sich in der Prawda nur verkürzt, verstümmelt oder verfälscht abgedruckt, einige wurden sogar regelrecht unterschlagen. Der ‚Lehrling‘ begehrte auf. Als im Russischen Büro ein Telegramm aus der Schweiz mit dem Gebot einging, dass es zu „keinerlei Annäherung mit irgendeiner Partei“5 kommen dürfe, schlug Stalin demonstrativ die Vereinigung aller Sozialisten vor. Und tatsächlich begannen hierfür auch schon die ersten Verhandlungen. War Russland auf dem Weg zur zwar sozialistischen, aber immerhin parlamentarischen Republik?
In diesem Moment kam Lenin ein ungewöhnlicher Verbündeter in Berlin zu Hilfe. „Wir, Wilhelm, von Gottes Gnaden“, wie die Hohenzollern auf dem deutschen Kaiserthron alle ihre Erlasse einleiteten, arrangierte und bezahlte ihm die Passage in einem plombierten Eisenbahnwaggon erster Klasse aus der Schweiz durch das Reichsgebiet ins heimatliche Petersburg. Reichskanzler, Oberste Heeresleitung und Auswärtiges Amt an der Spree sowie etliche deutsche Botschafter arbeiteten zusammen, damit der Berufsrevolutionär, mit 15 Millionen Goldmark ausgestattet, auch dahin kam, wo er hinkommen sollte. Der bolschewistische Umsturz würde scheitern, da war sich Wilhelm II. sicher, wichtig waren einzig und allein der propagierte sofortige Friedensschluss mit Deutschland und der Fortfall der Ostfront, um dann alle Reserven in die letzte Offensive gegen Frankreich zu werfen.
Am 3. April traf Lenin auf dem Finnischen Bahnhof in Petersburg ein. Abgesandte des Sowjet begrüßten ihn mit angemessenem Zeremoniell, nur Stalin war nicht anwesend. Er hatte mit den „Vereinigungsgesprächen“ zu tun. In fiebriger Hast brachte der Heimkehrer zehn Punkte, die so genannten „Aprilthesen“, den Fahrplan zur bolschewistischen Machtergreifung, zu Papier. Während ein paar Straßen weiter die Revision der Spaltung in Menschewisten und Bolschewisten von 1912 kurz vor dem Abschluss stand, ermutigte Lenin die Armee, sich mit den proletarischen Kräften der Deutschen zu verbrüdern. Für die eigene Organisation forderte er, um die Trennung endgültig zu machen, einen neuen Namen, nämlich „Kommunistische Partei“, denn „die Mehrzahl der offiziellen Sozialdemokraten hat den Sozialismus verraten und verkauft“.6 Als die Thesen vier Tage später in der Prawda abgedruckt wurden, hieß es in einer redaktionellen Anmerkung, dass sie lediglich die „persönliche Meinung“7 (!) Lenins darstellten. Verantwortlich für diese Notiz war der Chefredakteur Stalin alias Koba.
Nach weiteren vier Tagen, je mehr sich Lenins demagogisches und ideologisches Talent entfaltete, schwenkte der Georgier wieder um, hielt sich im Hintergrund und tauchte zunächst völlig ab – ein Taktiker und ein Opportunist. In seiner Proklamation zum 1. Mai 1917 sprach er bereits wieder davon, „dass unter dem Donnergrollen der Russischen Revolution sich auch die Arbeiter des Westens aus ihrem Schlaf erheben“8 werden, und kurz zuvor, auf dem ersten Allrussischen Kongress der Bolschewisten, war er – auf Vorschlag Lenins – ins neue Zentralkomitee gewählt worden.
Übergreifendes Thema der Konferenz war die Nationalitätenfrage. Obwohl ihm an der Einheit Russlands gelegen war, trat Stalin erneut für das Recht der Finnen, Polen, Ukrainer und der kaukasischen Völker ein, sich abzutrennen und ihr Selbstbestimmungsrecht zu reklamieren. Mehr als aufschlussreich ist aber die Begründung, die ihn zu dieser Konzession veranlasst hatte, weil sie gleichzeitig eine Antwort auf die viel gestellte Frage gibt, ob oder wann sich der Georgier Koba in den Russen Stalin verwandelt hat. Weit wichtiger als nationale Über- oder Unterordnungen, so seine Argumentation, sei die straff und kategorisch auf eine Kommandozentrale ausgerichtete Organisation der Bolschewisten, die im auseinander brechenden Zarenreich überall, in Industrie, Verkehrswesen, Armee und Verwaltung, vor allem aber in den sich jetzt allenthalben bildenden Arbeiter- und Soldatenräten, den Sowjets, in die entscheidenden Positionen gebracht werden müssten. Konkret: Polen könnte unabhängig sein, Hauptsache, es würde von Bolschewisten regiert. Der Mann, der ideologisch eben noch so wankelmütig war, erwies sich inzwischen als absolut linientreu. Denn was er hier vertrat, das Prinzip des so genannten proletarischen Internationalismus, ist ein Grundbaustein der Leninschen Lehre. Stalins eigentliche Identität war nicht georgisch oder russisch, sondern bolschewistisch.
Die Wirklichkeit allerdings hinkte gegenüber dem hier erhobenen Herrschaftsanspruch der Bolschewisten merklich hinterher. Als Anfang Juni der erste Allrussische Sowjetkongress zusammentrat, stellten die Sozialrevolutionäre 285, die Menschewisten 248 und die Bolschewisten ganze 105 Delegierte, und als Lenin provozierend ausrief, dass seine Organisation „jede Minute bereit (sei), die alleinige Macht zu übernehmen“9, erntete er nur Gelächter. Doch Hohn und Spott waren ihm gute Lehrmeister. Rasch erkannte er, dass die revolutionäre Machtübernahme nur dann gelingen könne, wenn die Bolschewisten in den Arbeiter- und Soldatenräten auch formell die Mehrheit erringen und zum dominierenden Faktor werden würden. Ihr nunmehr einsetzender aggressiver Propagandafeldzug in Fabriken und Kasernenhöfen stürzte die Hauptstadt, und zwar alle politischen Lager von den Ultralinken über die Gemäßigten und Bürgerlich-Liberalen bis hin zu den Konterrevolutionären, Militärs und Monarchisten, in eine nur schwer zu entzerrende Abfolge aus Irrungen und Wirrungen, deren einzelne Stationen (auch innerhalb der Gruppierungen) unzählige Widersprüche und schier paradoxe Zuspitzungen zeitigten. Dies galt nicht zuletzt und ganz besonders für die Partei Lenins.
Noch während des laufenden Sowjetkongresses wurden die Arbeiter durch Flugblätter zum Protest gegen die „Konterrevolution“ aufgewiegelt. Der Petersburger Arbeiter- und Soldatenrat, nach wie vor mit menschewistischer Mehrheit, bekniete das Zentralkomitee der Bolschewisten, den Aufmarsch abzublasen, und Lenin gab nach. Mehr noch, er erteilte sogar ein ‚offizielles‘ Demonstrationsverbot. Aber es war zu spät. Anfang Juli verwandelten über eine Million Menschen Petersburg de facto in eine belagerte Stadt. Die Massenbasis war da, doch Lenin schlug nicht los. Ihm war nicht entgangen, dass auffallend viele Soldaten in ihren Kasernen geblieben oder sich sogar offen auf die Seite der provisorischen Regierung geschlagen hatten, in der Kerenski, gerade die Ämter des Ministerpräsidenten sowie des Kriegs- und Marineministers auf sich vereinigend, zum Gegenschlag ausholte. Er verordnete eine Offensive an der Front und streute gleichzeitig Gerüchte, dass Lenin ein Agent im Sold der Deutschen sei. Natürlich war dies barer Unsinn, immerhin aber konnte nachgewiesen werden, dass das kaiserliche Deutschland dem Berufsrevolutionär nicht nur die kostenfreie Passage durch halb Europa ermöglicht, sondern ihn zur Erfüllung seiner historischen Mission gleichzeitig auch noch mit beträchtlichen Finanzmitteln ausgestattet hatte. In der Tat blieb die ‚Aufklärungsaktion‘ nicht ohne Folgen, von denen der vorübergehende Stillstand des bolschewistischen Zulaufs in der Armee nur eine war.
Unverändert wirksam war der Druck der Straße. In Petersburg dachte kein Mensch daran, nach Hause zu gehen. Am 2. Juli verlangte wieder eine Soldatendelegation vor dem Hauptquartier der Bolschewisten den Befehl zum Losschlagen. Parteiredner, die das Demonstrationsverbot erneuerten, wurden niedergeschrieen. Gegen Abend stieß die Maschinengewehreinheit der berühmten Matrosen aus Kronstadt, einem Vorort von Petersburg, zu den bereits Versammelten. Überall wurden jetzt Uniformen und Waffen gesichtet, die Situation verschärfte sich, die Revolution lag förmlich in der Luft. Was die Kronstadter verlangten, hallte bald als zentrale Forderung durch die Nacht: der Petrograder Sowjet sollte die provisorische Regierung absetzen und selbst die Regierungsgewalt übernehmen. Genau das und nichts anderes hatte Lenin mit seinem „Alle Macht den Sowjets“ ja seit Wochen proklamiert.
Trotzdem wurde die Menge besänftigt, umdirigiert und ins Leere geschoben. Sollten sie doch hinübermarschieren zum Taurischen Palais, wo der Sowjet tagte, und ihm dies direkt unterbreiten. Unter den Klängen der Marseillaise zogen die Demonstranten zum Palais und belagerten es die ganze Nacht, doch aus dem Gebäude kam keine Reaktion. Die Kronstadter Matrosen verschanzten sich daraufhin in der Peter-Pauls-Festung auf einer Insel mitten in der Newa, die durch Petersburg fließt. Die Fronten waren festgefahren, hier und da kam es zu den ersten blutigen Scharmützeln.
Kerenski verstand sofort, dass die Nacht vor dem Taurischen Palais die Generalprobe für die bolschewistische Revolution war. Das leiseste Signal aus dem Rat an die Aufständischen da draußen hätte ausgereicht, und der nicht mehr zu löschende Flächenbrand wäre entfacht worden. Offensichtlich aber hatte sich die Fraktion Lenins nicht durchsetzen können und hatte notgedrungen klein beigeben müssen. Schnelles und konsequentes Zurückschlagen von Seiten der provisorischen Regierung war jetzt dringend geboten. Kerenski bewertete das Ganze offiziell als Putschversuch, ließ die Parteizentrale der Bolschewisten von Regierungstruppen erstürmen, die Redaktionsräume der Prawda besetzen, die Führungsmitglieder verhaften und die Partei verbieten.
Es war die Stunde Stalins, dieses in der Breite der Bevölkerung noch praktisch unbekannten und als unbelastet geltenden Mannes, der als einziges Mitglied des Zentralkomitees ungeschoren davonkam. Eilig brachte er Lenin erst bei der Familie Allilujew unter und dann, am 11. Juli, nach Finnland, keine hundert Tage, nachdem dieser den heimatlichen Boden wieder betreten hatte. Illegalität und Untergrund, die Kampfbedingungen, unter denen man sich erneut befand, sein alterprobtes Tummelfeld, machten Stalin zum zwar nicht formellen, aber faktischen Parteiführer, der sich nach außen hin erneut durch Mäßigung und Besonnenheit auszeichnete.
Stalin war es auch, der die Kronstadter Matrosen in der Peter-Pauls-Festung zum Aufgeben überredete, ihnen gleichwohl aber weitere Unterstützung zusicherte. Als Lenins erste Brandbriefe in Petersburg mit der Forderung eingingen, nicht mehr auf die Mehrheit in den Sowjets zu warten und sofort alle Kräfte für den „bewaffneten Aufstand“10 zu mobilisieren, ließ er dies im Organ der ‚Kronstadter‘ abdrucken, nachdem er zuvor genau diesen Passus in „entschlossenen Kampf“11 umgeändert hatte.
Ende Juli gelang es Stalin, einen halb legalen, halb illegalen Parteitag auf die Beine zu stellen, der über die weitere Marschroute befinden sollte. Als sich ein Streit darüber entspann, ob der sozialistische Gesellschaftsumbau in Russland nur dann gelingen könne, wenn der revolutionäre Funke auch in Westeuropa zündet, formulierte Stalin:
„Die Möglichkeit ist nicht auszuschließen, dass gerade Russland das Land sein wird, das den Weg zum Sozialismus ebnet (...) Wir halten nichts von der überholten Auffassung, dass uns nur Europa den Weg weisen könnte. Es gibt einen dogmatischen und einen schöpferischen Marxismus. Ich stehe auf dem Boden des Letzteren.“12
Ausführlich wurde auf der Konferenz diskutiert, wie mit den Räten umzugehen sei, die sich nicht zu Werkzeugen der Bolschewisten machen lassen wollten. Die Nacht vor dem Taurischen Palais steckte noch allen in den Knochen. Es war wohl schon mehr als eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet Stalin die Rolle zukam, auf der Versammlung genau den Mann in die Partei zu integrieren und als Verbindungsglied zum Petrograder Sowjet aufzubauen, mit dem er sich die parteipolitische Schlacht seines Lebens liefern sollte, nämlich Leo Trotzki.
Trotzki war Anfang Mai aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrt, hatte in nächtelangen Diskussionen mit Lenin seine Theorie von der permanenten Revolution mit dessen Vorstellungen zur Errichtung der Diktatur des Proletariats auf Linie gebracht, war daraufhin vom Menschewisten zum Bolschewisten konvertiert, in die Partei eingetreten und sofort verhaftet worden. In einem kometenhaften Aufstieg wurde er schon auf dem Juli-Kongress – in Abwesenheit – förmliches Mitglied des Zentralkomitees und keine zwei Monate später Vorsitzender des Petersburger Arbeiter- und Soldatenrats. Die Aversion gegenüber Stalin, die vor Jahren im Schachzimmer eines Wiener Caféhauses schon einmal aufgeblitzt war, blieb zwar noch unter der Decke, immerhin aber urteilte Trotzki:
„Stalin ist von Natur aus faul. Wenn nicht seine persönlichen Interessen direkt im Spiel sind, ist er unfähig, mit Volldampf zu arbeiten. Er zieht es dann vor, seine Pfeife zu rauchen und seine Zeit abzuwarten.“13
Unumwunden lobte er allerdings Stalins Leistung ‚im Apparat‘, und schon früh durchschaute er auch, dass dessen Faulheit nicht auf Bequemlichkeit, sondern auf Berechnung beruhte: eine Erkenntnis, die sich in den Tagen des Oktoberumsturzes als nur zu richtig erweisen sollte.
Alexander Kerenski und die provisorische Regierung gingen währenddessen in ihr letztes Gefecht. Die groß propagierte Militäroffensive gegen die Deutschen war schon am dritten Tag in den Gräben stecken geblieben. Entlastung sollte die Ernennung des Generals Kornilow zum neuen Obersten Befehlshaber bringen, der durch seinen Einsatz maßgeblich zum Erfolg der Februarrevolution beigetragen hatte. Bürgerliche und Liberale, deren Einfluss von Tag zu Tag zurückging, begrüßten ihn mit den Worten „Retten Sie Russland, und ein dankbares Volk wird Sie krönen!“14, und als Riga am 21. August in die Hand der Deutschen fiel, ertönte allenthalben der Ruf nach dem starken Mann. Aus einer Verkettung von Missverständnissen heraus, die bis hin zu banalsten Übermittlungsfehlern reichten, glaubte Kornilow sich im Einverständnis mit Kerenski bei der Vorbereitung eines Staatsstreichs, der in eine Militärdiktatur einmünden sollte. Am 26. August enthob Kerenski den General seines Amtes. Dieser verweigerte dem Ministerpräsidenten den Gehorsam und gab Befehl zum Marsch auf Petersburg. Kerenski griff zum Äußersten und bat die Bolschewisten – eine von ihm verbotene Organisation – um Beistand. Sie setzten sich mit den Kronstadter Matrosen, ihrem militantesten Arm in der Hauptstadt, in Verbindung und konsultierten Trotzki im Gefängnis. Er gab den ‚Kronstadtern‘ den Rat, zunächst Kornilow und dann Kerenski zu erledigen, aber nicht beide gleichzeitig. Sofort wurden die Truppen gestoppt und der General mit seinem Stab verhaftet. Kerenski ernannte sich selbst zum Oberbefehlshaber, rief Russland jetzt auch formell zur Republik aus und wähnte sich auf dem Höhepunkt der Macht. Ein großer Teil der Linken war verhaftet, die Rechten besiegt, die Bürgerlichen ausgebootet und mit den Gemäßigten bildete er die Regierung. In Wirklichkeit hatte er sich mit dem Hilferuf an die Bolschewisten selbst besiegt. Die Partei Lenins stand ‚ante portas‘.
Kerenskis letztes Gefecht fiel in die Zeit, in der alle Welt, insbesondere aber das nachzaristische Russland, auf zwei Großereignisse wartete, nämlich auf den zweiten Allrussischen Sowjetkongress und, noch gespannter, auf die Verfassunggebende Versammlung. Die Demokratische Konferenz und der Demokratische Rat, das so genannte Vorparlament, Mitte September und Anfang Oktober einberufen, waren als Vorstufen zu der Verfassunggebenden Versammlung konzipiert. Der Rat, in dem sich alle gesellschaftlichen Gruppierungen und Schichten repräsentiert fanden, sollte ein Gegengewicht zu der sich zusehends nach links verlagernden Machtzusammenballung sein. Die Bolschewisten, vertreten durch den gerade erst wieder freigelassenen Trotzki, führten sich in ihm schon auf wie die Herren im Haus. Zudem wurden jetzt überall aus dem Land Wahlergebnisse gemeldet, die einem politischen Erdrutsch gleichkamen.
Als zum Beispiel am 24. September die Moskauer Stadtbezirksräte neu bestimmt wurden, sackten die Sozialdemokraten von 56,2 auf 14,4 Prozent der Stimmen ab, die Menschewisten von 12,6 auf 4,1 Prozent, und die Bolschewisten schossen von 11,5 auf 50,9 Prozent empor. Einen Tag später sah sich Trotzki zum Vorsitzenden des Petrograder Sowjet ernannt, nachdem seine Partei dort die Mehrheit der Sitze errungen hatte. In dieser Situation meldete sich Lenin aus dem Exil und forderte in zwei Briefen vom 12. und 14. September die bedingungslose, brachiale Machtübernahme. Ein Ansinnen, mit dem er bei seinen eigenen Leuten auf Ablehnung stieß. Entgegen späterer Geschichtsschreibung waren die Bolschewisten in dieser Frage praktisch bis zum Schluss tief gespalten. Auf einer eilends einberufenen Sitzung des Zentralkomitees fand sich kein einziger, der sich mit Lenins Forderung einverstanden erklärt hätte. Sechs Mitglieder stimmten sogar dafür, die Briefe des ‚Meisters‘ schlicht und einfach zu verbrennen. Die Mehrheit favorisierte immer noch ein friedliches, legales und parlamentarisches Hinüberwachsen in die andere Welt. Lenin, dem dies nicht verborgen geblieben war, bombardierte die Seinen mit einer wahren Flut von Artikeln, Briefen und Schreiben, die alle in dem Aufschrei gipfelten, dass der jetzige historische Moment nie wiederkommen würde. Um zu demonstrieren, dass es ihm damit ernst war, trat er formell vom Parteivorsitz zurück, verließ sein finnisches Versteck und nahm in Wyborg Quartier, dort, wo im Februar alles angefangen hatte. Eine neuerliche Zentralkomitee-Sitzung am 10. Oktober brachte die Entscheidung. An ihr nahm ein seltsamer Gast teil, ein Mann mit Perücke, dicker Hornbrille und abrasiertem Bart: Wladimir Iljitsch Lenin, der furchtlose Revolutionseinpeitscher, der zum ersten Mal seit dem Juli wieder illegal auf russischem Boden war. Seine Anwesenheit und seine Ausführungen brachten den Umschwung: Zehn der zwölf Stimmberechtigten votierten für den bewaffneten Aufstand, der auf den 20. Oktober festgelegt wurde, den Tag, an dem der zweite gesamtrussische Sowjetkongress zusammentreten sollte. Außerdem fasste man einen Beschluss von ungeahnter Tragweite. Auf Vorschlag von Felix Dserschinski wurde die Einrichtung eines „politischen Büros“ beschlossen, das „in der nächsten Zeit“15 die Führung übernehmen sollte. Diese „nächste Zeit“ dauerte bis zum 31. Dezember des Jahres 1991, als aus dem „politischen Büro“ längst das allmächtige Politbüro geworden war.
Am 7. Oktober hatten die bolschewistischen Vertreter das Vorparlament verlassen. Am 13. Oktober setzte ein von allen Sowjets gebildeter Ausschuss das so genannte Militärrevolutionäre Komitee ein, dessen Vorsitz qua Amt dem Präsidenten des Petersburger Arbeiter- und Soldatenrates zustand. Damit war Trotzki der Mann der Stunde. Das Komitee, anfangs durchaus noch überparteilich zusammengesetzt, avancierte zur Kommandozentrale der Machtergreifung im Mantel scheindemokratischer Legalität. Von der Front sickerten Nachrichten durch, dass die Deutschen auf Petersburg marschierten. Der Fall der Hauptstadt wäre gleichbedeutend gewesen mit einem Rückfall in die Zeit vor Peter dem Großen, hin zu einem Russland ohne Tor zur Ostsee. Spätestens jetzt wurde klar, dass militärische und politische Gewalt binnen kurzem zusammenfallen würden. Als das Komitee begann, die Regimentskommandeure durch ihm genehme Offiziere abzulösen und diesen die Order gab, nur seinen Anweisungen zu folgen, war die Schlacht im Grunde genommen schon geschlagen, bevor auch nur ein einziger Schuss gefallen war. Truppen des Sowjets eroberten die Peter-Pauls-Festung, das strategische Herz der Stadt. In den frühen Morgenstunden des 24. Oktober kündigte Kerenski die Verhaftung des Militärkomitees an, rang sich aber nur zu einer erneuten Schließung der Prawda durch. Immer noch kam von der bolschewistischen Führung kein Signal, doch für Lenin gab es nun kein Halten mehr. Eigenmächtig, und zwar mit der Straßenbahn, begab er sich zum Petrograder Sowjet, dem Schauplatz der Weltrevolution. Wenig später ließ Trotzki den Nikolai-Bahnhof mit der Linie nach Moskau, den Warschauer Bahnhof, die Staatsbank, das Elektrizitätswerk, die Post sowie alle wichtigen Brücken und Plätze der Stadt besetzen. Auf der Newa richtete der Panzerkreuzer Aurora seine Kanonenrohre in Richtung Winterpalast, dem Sitz der provisorischen Regierung. Noch bevor aufständische Soldaten das Gebäude umstellten, gelang es Kerenski in einem von der amerikanischen Botschaft zur Verfügung gestellten Auto zu fliehen. Kurz nach Tagesanbruch des 26. Oktober drängten die Belagerer in das Palais und verhafteten die anwesenden Minister, ohne dass ihnen ernsthafter Widerstand entgegengesetzt wurde.
Die ruhmreiche Oktoberrevolution war nicht das Ergebnis eines Sturmangriffs, sondern glich eher einem mit Waffengewalt forcierten Wachwechsel. Mit diesem aber war Lenins grundsätzlicher Forderung nach Übernahme der politischen Gewalt vor der Einberufung des zweiten Allrussischen Sowjetkongresses fast noch rechtzeitig entsprochen worden, denn in ihm verfügten die Bolschewisten inzwischen zwar über die einfache, nicht aber über die absolute Mehrheit, sodass noch ein kleiner Rest Unsicherheit für den Erfolg des großen Husarenstreichs blieb. Und tatsächlich, als die Versammlung am Vorabend des Revolutionstages zusammentrat, wollten Menschewisten und Sozialrevolutionäre sich dem Druck der Waffen und der vollendeten Tatsachen nicht beugen und verließen unter Protest den Saal. Trotzki schleuderte ihnen die berühmten Worte hinterher: „Eure Rolle ist ausgespielt; schert euch hin, wo ihr von nun an hingehört – auf den Kehrichthaufen der Geschichte!“16 Die Geschichte des bolschewistischen Russland hatte begonnen.
Wenn man abschließend die Umbrüche von 1917 und in ihnen die Funktion der ‚Jünger‘ Lenins noch einmal in den Blick nimmt, dann fällt einer in dieser Schar durch seine auffallend abwartende, hinhaltende, wenn nicht sogar bremsende Einstellung zum großen Ganzen auf, und das ist Stalin. Was immer später auch an kiloschweren Heldenepen über seine todesmutigen Taten bei der Erstürmung zaristischer und parlamentarischer Bastionen in die Welt gesetzt wurde, entbehrt jeglicher Grundlage. Zwar trotzte er als Chefredakteur der Prawda geschickt der konterrevolutionären Gegengewalt, die Haltung indes, die er in den konkreten Zuspitzungen der Oktoberereignisse an den Tag legte, offenbarte die Grundzüge eines zutiefst opportunistischen Charakters. Überall glänzte er durch Abwesenheit. Nicht einmal an der Zentralkomitee-Sitzung am Morgen nach der erfolgreichen Besetzung des Winterpalais nahm er teil. Trotzki sprach offen von Hinterhältigkeit und Perfidie.17 Lenin jedenfalls war der Denker, Trotzki der Lenker und Stalin bestenfalls der Kulissenschieber. Als Lenin noch am 26. Oktober die Mitglieder der ersten Sowjetregierung bekannt gab, die sich fortan nicht mehr Minister, sondern Volkskommissare nannten, erhielt „Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili – Stalin“ das 15. und letzte Ressort, das für Nationalitätenfragen zuständig war. Die früher in Wien verfasste Arbeit sollte sich ausgezahlt haben – wenn denn irgendetwas daran überhaupt von ihm war. Trotz alledem: ein bemerkenswerter Aufstieg für einen Mann, der vor Jahresfrist noch in einem ostjakischen Jurtenzelt am Jenissei genächtigt hatte.