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Der Bolschewist

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Das Brüsseler Maison du Peuple war mehr eine Absteige als ein Hotel. In den Hinterzimmern wurden Wollballen aus Belgisch-Kongo gelagert. Dort hielt die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands nach dem Minsker Auftakt fünf Jahre zuvor, im Juli 1903, ihren ersten richtigen Parteitag ab. Sehr schnell bekamen die Delegierten mit, dass die Wollballen nicht nur Flöhe, sondern auch Wanzen ganz anderer Art anzogen: Geheimspitzel der Ochrana (russische Geheimpolizei) gingen in dem Hotel ein und aus, woraufhin die „Iskra-Männer“ den Kongress kurzerhand nach London verlegten, um die Schnüffler aus St. Petersburg abzuschütteln.

Der Hauptstreitpunkt der Tagung wurde zur Schicksalsfrage für das gesamte kommende Jahrzehnt, nämlich, ob die Partei eine radikal zentralisierte Organisation von Berufsrevolutionären oder einen mehr oder weniger lockeren Verband der russischen Arbeiter und der Intelligenz bilden sollte. Es war der Beginn der Spaltung in Revolutionäre und Gemäßigte, in Harte und Weiche, in Bolschewiki und Menschewiki, die sich bei allem Streit über das Vorgehen hinsichtlich des entscheidenden Ziels ihres gemeinsamen Kampfes nie uneinig waren: Es ging darum, die zaristische Gewaltherrschaft zu beseitigen.

Wann aus dem Sozialdemokraten Koba ein Bolschewist wurde, ist nicht rekonstruierbar. In der Batumer Haft, nicht zu reden von der sibirischen Verbannung, war Koba weitestgehend von allen Informationssträngen abgeschnitten. Die Artikel, die er nach seiner Rückkehr für den Kampf schrieb, lassen dennoch auf eine ungefähre Orientierung über die Vorgänge in Brüssel und London schließen.

Nicht weniger im Dunkeln liegt ein zweites Ereignis aus dieser Zeit, die Hochzeit mit der aus dem Geburtsort seiner Eltern stammenden Jekaterina Swanidse im Herbst 1904, der zweiten Keke in seinem Leben. Die junge, ausnehmend schöne Georgierin, die er möglicherweise schon seit seiner Kindheit kannte, brachte im folgenden Jahr den Sohn Jascha (Jakob) zur Welt.

In politischer Hinsicht blieb Koba abseits des großen Geschehens, und nicht nur er. Als sich am 9. Januar 1905 in St. Petersburg erstmals eine große Arbeiterdemonstration auf das Winterpalais des Zaren zu bewegte, spielte die russische Arbeiterpartei praktisch keine Rolle. Der Zug wurde von einem orthodoxen Priester angeführt, Ikonen und Zarenbilder wurden hoch gehalten. Einziges Ziel war es, eine Bittschrift zu überreichen. Erst als Nikolaus II. das Feuer auf die Menge eröffnen ließ, entfachte er damit quasi das Feuer der ersten russischen Revolution. In den Straßen von Warschau, Lodz und Odessa wurden sofort Barrikaden errichtet und erste „Räte“ bestimmt, woraufhin Nikolaus II. das Einberufen einer aus Wahlen hervorgegangenen Volksversammlung, der so genannten Duma zusicherte, allerdings mit zwei Einschränkungen: Sie sollte keinerlei gesetzgebende Kompetenz haben, und es sollte kein Arbeiter in ihr vertreten sein. Diese formierten sich deshalb und riefen im Oktober in Moskau den Generalstreik aus, der sich schlagartig auf das ganze Land ausdehnte. In St. Petersburg wurde der erste „Rat der Arbeiterdelegierten“, der Petersburger Sowjet, gebildet, und schon zwei Monate später probten die Massen in Moskau den bewaffneten Aufstand, den die zaristischen Truppen blutig niederschlugen. Zwar kam es zur Konstituierung der Ersten und auch einer Zweiten Duma, die aber am 3. Juni 1907 zwangsaufgelöst wurde. 55 Abgeordnete wanderten ins Gefängnis, alle waren Sozialdemokraten. Die danach zusammengetretene Dritte und Vierte Duma waren deshalb nur noch von geringer Bedeutung.

Die Ereignisse des Jahres 1905 sind in der offiziellen Parteigeschichte zur Generalprobe der eigentlichen, großen Oktoberrevolution verklärt worden. Was aber durchgehend unerwähnt bleibt, ist die Tatsache, dass diese Generalprobe praktisch ohne die Akteure von 1917 stattfand, und das gilt auch für den jungen Bolschewisten aus Tiflis.

Der kämpfte an mehreren Fronten gleichzeitig, wenn auch nie mit offenem Visier. Der Innenminister des Zaren hatte eine Sondereinheit, die „Schwarzen Hundert“, in die kaukasische Metropole entsandt, und Koba schrieb Flugblatt auf Flugblatt, um die Schicksalsgemeinschaft aus georgischen, russischen, armenischen, persischen und türkischen Arbeitern zu beschwören, die in der Erdölindustrie am Schwarzen Meer ausgebeutet wurden. Doch gewichtiger für ihn selbst war eigentlich eine zweite Frontlinie, nämlich die Auseinandersetzung zwischen Bolschewisten und Menschewisten in der eigenen Partei.

Tatsächlich hatten sich die Menschewisten binnen kürzester Zeit zur führenden politischen Bewegung seines Heimatlandes entwickelt. Bei den ersten Duma-Wahlen gewannen sie fünf der acht Georgien zustehenden Sitze, bei der zweiten alle zehn. Demgegenüber gehörte Koba in Georgien zu einer kleinen, radikalen Minderheit, und nur dem Umstand, dass eine für den Dezember 1905 anberaumte Konferenz der Sozialdemokraten ausschließlich Bolschewisten vorbehalten war, verdankte er die Möglichkeit, erstmals nach Nordeuropa zu gelangen. Das Treffen fand in Tammerfors statt, dem heutigen Tampere, das zwar nicht außerhalb des Zarenreiches lag, aber als finnische Stadt beträchtliche Autonomie genoss und den Delegierten mehr Sicherheit versprach. Hier begegnete er zum ersten Mal im Leben dem Mann, der als einziger unumschränkte Autorität in der Partei genoss: dem zehn Jahre älteren Wladimir Iljitsch Uljanow, der unter dem Namen „Lenin“ in die Weltgeschichte eingehen sollte.

Die erste Begegnung, später auf zahllosen Gemälden in heroischer Pose verfälscht dargestellt, verlief für Koba wohl eher enttäuschend. Er berichtete intern, „einen ziemlich durchschnittlich aussehenden Mann“, und keinen „Bergadler“ oder gar „Riesen“1 erblickt zu haben, und Lenin nahm von dem kleinen pockennarbigen Mann praktisch überhaupt keine Notiz. Regelrecht vor den Kopf geschlagen dürfte der Georgier aber gewesen sein, als er mit dem Haupttagungspunkt konfrontiert wurde, den Lenin auf die Konferenzordnung gesetzt hatte: die Wiedervereinigung und Verschmelzung von Bolschewisten und Menschewisten. Mit den Kompromisslern in Sachen revolutionärer Strategie und Taktik wollte er keinen gemeinsamen Schritt gehen. Lenin hingegen schätzte die Situation so ein, dass jetzt, wo sich die Menschen in Moskau erhoben und der Zarenthron in St. Petersburg wankte, keine Zersplitterung der Kräfte geboten war. In den Sitzungspausen zog er an der Spitze der Delegierten in den Wald, um sich mit ihnen im Revolverschießen zu üben. Außerdem befahl er allen, zum persönlichen Schutz Decknamen anzunehmen. Koba erhielt mit „Iwanowitsch“ einen Allerweltsnamen, vergleichbar den deutschen Namen „Müller“, „Meier“ oder „Schulze“.

Die Einigungsbefürworter bildeten auf dem Kongress die erdrückende Mehrheit, und sofort wurden Verhandlungen mit den Menschewisten aufgenommen. Aber Koba konnte am Ende doch noch einen Erfolg für sich verbuchen. In dem Bestreben, den Mann ohne Ausbildung und Beruf mit all seinen konspirativen Eigenschaften und Talenten möglichst parteidienlich einzusetzen, ernannte Lenin ihn zum Leiter eines streng geheimen Parteitrupps, dessen Funktion selbst intern mit der Titulierung als „Technische Abteilung“ äußerst verhüllend und verharmlosend umschrieben war. Die eigentliche Aufgabe dieses Spezialverbandes bestand darin, durch so genannte Expropriationen den finanziellen Fortbestand der Partei zu sichern. Dieses ideologisch hoch aufgehängte, den Anschein legitimer Enteignungen suggerierende Fremdwort bedeutete in der Praxis nichts anderes als Diebstahl, Überfall, Raub und Mord. Deshalb war es auch wenig überraschend, dass die Auseinandersetzung um die Rechtmäßigkeit der Expropriationen zum Schlüsselkonflikt mit den Menschewisten und deren Reintegration wurde.

Auf dem folgenden, von Menschewisten und Bolschewisten bereits gemeinsam durchgeführten Parteitag im April 1906 in Stockholm wurde jede kriminelle Aktion, ja sogar der Partisanenkampf überhaupt, verurteilt. Lenin allerdings, der nie Skrupel bei der illegalen Geldbeschaffung hatte und auch die Spenden reicher Gönner ohne Beleg und Meldung einsteckte, bildete sofort wieder ein geheimes Zentrum für militärische und finanzielle Fragen. Der Streit zwischen Bolschewisten und Menschewisten schwelte weiter, wobei die rein zahlenmäßige Übermacht den Letzteren gehörte. Ein besonders krasses Beispiel in dieser Hinsicht bildete der Kaukasus, der zum Stockholmer Kongress elf Vertreter entsenden durfte, von denen nach dem regionalen Stärkeverhältnis zehn Menschewisten waren und nur einer Bolschewik: Koba-Iwanowitsch-Dschugaschwili. Es war seine erste Reise ins Ausland. Voller Ingrimm und Wut schrieb er nach seiner Rückkehr die Aufzeichnungen eines Delegierten, die in dem hämischen Scherz gipfeln, „die Menschewiki seien die Partei der Juden, die Bolschewiki seien die echten Russen; es wäre also an der Zeit, ein Pogrom in der Partei zu veranstalten“.2

Kurz darauf ereignete sich in Tiflis ein merkwürdiger, nie vollständig geklärter Vorfall. Tief in einem Brunnenschacht versteckt, entdeckte die örtliche Geheimpolizei eine Druckerpresse, auf der eine wahre Flut georgischer, armenischer und russischer Flugblätter nationalistischer und sozialdemokratischer Stoßrichtung produziert worden war. Der zur Auffindung führende Hinweis konnte nur aus Parteikreisen gekommen sein, und der Verdacht fiel auf Koba. Einige erweiterten den Vorwurf sogar und wollten in ihm einen Spitzel, einen regelrechten Agenten des zaristischen Geheimdienstes erkannt haben, wofür es bis heute keinen sicheren Beleg gibt. Wohl aber scheint festzustehen, dass er die Ochrana hier benutzt hatte, um die Menschewisten in den eigenen Reihen zu denunzieren und auszuschalten – doch in dieser Hinsicht war die Aktion nicht mehr als ein Schlag ins Wasser.

Georgien war und blieb eine Hochburg der Gemäßigten, was sich schon bei der Einberufung zum nächsten Parteitag in London zeigen sollte, für den der ins Zwielicht geratene pockennarbige kleine Mann nicht einmal mehr delegiert wurde. Als er eine Beglaubigung vorlegte, die ihm dies doch noch ermöglichen sollte, erklärten die Menschewisten sie rundheraus für gefälscht. Trotzdem setzte er sich in den Zug und fuhr los. Anfang Mai 1907 erreichte er Berlin, die explodierende Metropole an der Spree. Es war seine erste Begegnung mit Deutschland und den Deutschen. Mit einer Mischung aus Verachtung und Bewunderung beobachtete er das hektische Treiben auf den Straßen und Plätzen. Es war das Bild eines sich aggressiv entfaltenden Kapitalismus. Die Einschätzung des späteren Stalin, dass der Kommunismus zu den Deutschen passe „wie der Sattel für die Kuh“ und dass dieses „merkwürdige Volk“ all jenen, die ihm eine zündende Parole vorschrien, „wie Schafe“3 folgten, könnte hier ihren Ursprung gehabt haben.

Koba traf in Berlin Lenin, den man zwar noch nicht als seinen Gönner bezeichnen konnte, der ihm kraft seiner Autorität aber doch dazu verhalf, wenigstens als stimmrechtsloser Gast am Londoner Parteitag teilzunehmen. Auf diesem Parteitag wurde erneut genau das aufs Schärfste verurteilt, was der messianische Revolutionär und sein Mann fürs Grobe schon vorab am grünen Strand der Spree in angemaßter Machtkompetenz legitimiert hatten: bewaffnete Raubüberfälle ‚zum Wohle‘ der Partei.

Mit dem Segen ‚von ganz oben‘ nach Tiflis zurückgekehrt, machte Koba sich an die Umsetzung des ihm Aufgetragenen. Am 13. Juni verließ eine streng von Kosaken bewachte Kutsche die Tifliser Filiale der Staatsbank am Eriwan-Platz. Sie führte 25.000 Rubel Münzgeld mit sich, eine nach damaliger Kaufkraft schlichtweg unvorstellbare Summe. Ein Trupp bewaffneter Männer sprang hinzu und warf sieben Bomben auf den Wagen. Unbeteiligte Passanten starben, die Pferde gingen in wildem Galopp durch. Das Strickmuster glich den vorherigen Aktionen; wieder hütete sich Koba, in vorderster Linie dabei zu sein, wieder konnte ihm von niemandem – nicht einmal von der Ochrana – etwas nachgewiesen werden und wieder wusste jeder in der Partei, wer hinter der ganzen Sache steckte. Mochten sich die Täter auch in dem Glauben wiegen, das Vermächtnis des Anarchisten Michail Bakunin auszuführen, nach dem der einzig wahre Revolutionär in Russland der Räuber sei, nur, diesmal war alles anders, diesmal waren unschuldige Menschen zu Tode gekommen.

Die Stimmung in der Partei schlug um, sogar unter den Bolschewisten. Als „Narr“ und „Zersetzer“ wurde Koba angegriffen, und kurz darauf wurde er – zum zweiten Mal – aus der örtlichen Parteiorganisation ausgeschlossen. Die Partei, die nach wie vor das Wort „sozialdemokratisch“ im Namen führte, wollte sich nicht des Bandenterrorismus zeihen lassen. Zum Parteiausschluss kam tiefes persönliches Unglück hinzu. Im November 1907 starb seine junge Frau Jekaterina Swanidse. Noch während des Begräbnisses vertraute der 27-jährige Witwer sich mit den folgenden Worten einem Freund an:

„Dieses Geschöpf hat mein steinernes Herz erweichen können. Nun ist sie tot, und mit ihr sind meine letzten warmen Gefühle für alle menschlichen Wesen gestorben.“4

Stalin

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