Читать книгу Klaus Mann - Das literarische Werk - Клаус Манн - Страница 18

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»Ich kann das Kind nicht bekommen«, sagte Tilly, leise und mit bebender Bestimmtheit; woraufhin die Ärztin streng und etwas feierlich wurde: »Genug jetzt! Ich will davon nichts mehr hören! Sie sind völlig gesund.« – »Abgesehen von meinem Asthma«, warf Tilly böse ein. – »Das ist nervös«, stellte die Ärztin fest. »Nach der Niederkunft wird es bald verschwinden.« – »Ich kann das Kind nicht bekommen. Sie müssen mir helfen, Fräulein Doktor! Sie müssen!« – »Ich darf nicht, und Sie wissen, daß ich nicht darf. Ich würde es aber auch nicht tun, wenn ich dürfte. Sie bringen das Kind zur Welt, werden es lieb haben – und mir dankbar sein, daß ich Ihnen Ihre Bitte heute abschlagen muß.« Tilly stöhnte. In ihrem weißen Gesicht öffnete sich klagend der Mund – ein dunkles Loch in der hellen Fläche dieser verzweifelten Miene. Ihr liebenswürdiges Antlitz wirkte tragisch verändert und sah übrigens ein wenig idiotisch aus, durch seine Starrheit und weil der Mund so trostlos offen blieb. Die Ärztin erschrak. »Aber mein liebes Kind!« sagte sie ängstlich. »Machen Sie doch kein so jammervolles Gesicht! Wahrscheinlich sind die Dinge gar nicht so schlimm, wie Sie sich das jetzt einbilden … Wollen Sie mir nicht ein wenig erzählen? Über den Vater Ihres Babys, und warum Sie so traurig sind?« – »Nein«, sagte Tilly; es kam rauh und fast zornig heraus. Die Ärztin, etwas pikiert, zuckte die Achseln. »Ich dachte, es würde Ihnen vielleicht guttun. Aber ganz wie Sie wollen – natürlich, ganz wie Sie es wünschen, mein Kind.« – »Entschuldigen Sie!« sagte Tilly; sie war aufgestanden. »Entschuldigen Sie, bitte. – Ja, ich muß wohl jetzt gehen.«

Auf der Straße, in ihrem Zimmer, an der Schreibmaschine – der Refrain von Tillys Gedanken bleibt: ›Ich kann das Kind nicht bekommen. Alles spricht dagegen, es soll nicht sein. Sein Vater treibt sich irgendwo auf einer Landstraße herum, oder er sitzt in einem deutschen Gefängnis. Die Nacht, in der ich es empfangen habe, hat mit dem Besuch der Polizei geendigt.

Welch entsetzliches Zeichen! Auf mir liegt ein Fluch, auch der Kleine würde etwas von ihm abbekommen. Ich kann das Kind nicht bekommen – ach Ernst, warum bist du nicht da, um mir zu helfen!‹

Sollte sie mit der Mutter sprechen? Sie wagte es nicht. Alles mußte sie mit sich selber ausmachen, die Entschlüsse ganz alleine fassen. Manchmal dachte sie: ›Vielleicht darf ich es doch bekommen, das Kind. Ich könnte den Peter heiraten, er würde meinen, es ist von ihm, er würde es gernhaben, später könnte ich ihm vielleicht die Wahrheit gestehen – aber nein! Das ist ja purer Wahnsinn! Ihn so anzulügen! Woran denke ich denn! Ich verliere den Kopf.‹

Wenn nur Marion jetzt in Zürich wäre! Aber sie war beschäftigt, irgendwo unterwegs. – Und Frau Ottinger? Die war freundlich und gut. Zehnmal war Tilly entschlossen, der alten Dame alles zu erzählen; zehnmal brachte sie’s nicht über die Lippen. Nein, es ging nicht, es lag jenseits der Schicklichkeitsgrenze, so viel durfte man der braven Madame keinesfalls zumuten. Tilly lächelte matt, wenn Frau Ottinger sich besorgt wegen ihres schlechten Aussehens äußerte. »Ich fühle mich oft etwas müde«, gestand das Mädchen; Frau Ottinger riet ihr zu Lebertran. – Tilly war lange Zeit in tausend Ängsten gewesen, der Polizeibeamte, der sie damals im Hotel überrascht hatte, könnte sich mit Ottingers in Verbindung setzen. Nichts dergleichen geschah. Die Polizei hielt sich unheimlich still. Ernst verschwand – wahrscheinlich war er nachts zur französischen Grenze gebracht und dort seinem Schicksal überlassen worden; mit Tilly indessen schien man gnädig zu verfahren. Mindestens gönnte man ihr eine Bewährungsfrist – ›bis man mich zum nächsten Mal mit einem jungen Mann ohne Paß morgens in einer Kammer findet‹, dachte sie bitter. ›Dann freilich wäre Schluß, man setzte auch mich über die Grenze. – Oder schwebt schon jetzt gegen mich ein Verfahren? Vielleicht bereitet etwas Fatales sich vor, von dem ich nur noch keine Kenntnis habe …‹ Ihr war oft zumute, als würde sie beobachtet und belauert. Sie hatte sich kompromittiert, man kannte höheren Ortes ihren Lebenswandel, man war mißtrauisch gegen sie, wahrscheinlich schickte man Spione hinter ihr her. Tilly fürchtete sich. Oft, auf der Straße, fuhr sie plötzlich herum, weil sie die korrekt unnahbare Miene jenes Beamten neben sich zu erkennen meinte. – ›Ich werde verfolgungswahnsinnig‹, hielt sie sich vor. ›In was für einem Zustand bin ich? Pfui, man darf sich nicht so gehen lassen! – Eine schöne Frau Mama würde ich abgeben! Mir täte das Wesen leid, das mich als Mutter hätte und den verschollenen Ernst als Papa. – Ich kann das Kind nicht bekommen.‹

Schließlich sprach sie mit der alten Friseuse, von der sie sich das Haar richten ließ; sie war aus Genf, hatte in Paris und Nordafrika gearbeitet, ihr französischer Akzent wirkte vertrauenerweckend. »Es handelt sich um eine gute Freundin von mir«, behauptete Tilly – wozu die Haarkünstlerin nachsichtig lächelte. »Sie kann das Kind nicht bekommen. Kennen Sie einen zuverlässigen Arzt?« Die Coiffeuse kannte einen und erbot sich sogar, für »Tillys Freundin« alle nötigen Verabredungen mit ihm zu treffen. »Ich empfehle ihn immer in solchen Fällen«, schwatzte sie, während sie mit gewandten Fingern Tillys Frisur arrangierte. »Ein vorzüglicher Mann.« – Tilly wurde für den nächsten Sonnabend angemeldet.

Sie mußte in einem dumpfen Korridor warten, ehe eine dicke kleine Person in nicht ganz sauberer Schwesterntracht sie in den Empfangsraum geleitete. Dort war es nicht viel heller als im Vestibül. Von dem geräumigen Zimmer waren zwei Ecken durch grüne, fleckige Vorhänge abgetrennt. Die Nurse führte sie, unter leicht scherzhaften Reden, in eine der Nischen. Dort brannte eine matte, gelbliche Birne über dem Operationsstuhl, der mit klebrigem Wachstuch bespannt war.

»Setzen Sie sich hin, kleines Fräulein!« riet die Schwester, deren pfiffig-munteres Gesicht runde Apfelbäckchen von seltsam gesprenkeltem, stellenweise ins Violette spielendem Rot zeigte. »Machen Sie sich frei – nur das Hemd lassen Sie vorläufig an. Der Herr Doktor wird wohl bald hier sein. Heute, am Samstag, haben wir gerade flotten Betrieb. Die Damen, die am Montag wieder ins Geschäft müssen, lassen sich Samstag morgen behandeln und erholen sich übers Weekend.« Sie lachte, eigentlich ohne Grund. Es war, als spräche sie von einer neuen, amüsanten Form, das Wochenende zu verbringen. Wenn sie kicherte, leuchteten ihre Apfelbäckchen ebensosehr wie die kleinen Augen. Ihr Deutsch hatte einen stark wienerischen Akzent.

Aus der anderen Zimmerecke, die durch grünen Vorhang verborgen war, kam ein Stöhnen – woraufhin die Pflegerin, zugleich entsetzt und belustigt, die Hände überm Kopf zusammenschlug. »Jesses, Maria und Joseph, das Fräulein Liselott wacht schon auf! Die ist gerade erst verarztet worden. Ich sag’s Ihnen ja: heute haben wir Großbetrieb!« Sie schien in famoser Stimmung. Während Fräulein Liselott aus ihrer Nische Jammertöne hören ließ, plauschte sie weiter. »Die ist nämlich ein Stammgast bei uns, jedes halbe Jahr erscheint sie mindestens einmal. Ein hübsches Ding, kann man nicht anders sagen … Na, ich muß doch mal nach ihr sehen …« Ehe sie entschwand, fragte sie noch über die Schulter – wobei sie den grünen Vorhang, in dessen Öffnung sie stand, gefällig um sich drapierte: »Der Herr Bräutigam wird Sie wohl abholen? Er muß im Vorzimmer warten, dort haben wir sehr bequeme Stühle, auch Zeitschriften, er soll sich nicht bei uns langweilen.« – »Es wird mich niemand abholen«, sagte Tilly. – Darauf die Nurse, plötzlich etwas mißtrauisch: »Was für einen Beruf haben Sie eigentlich?« Tilly log müde: »Ich bin Klavierspielerin.« Es fiel ihr nichts anderes ein. Als junges Mädchen hatte sie nett Klavier gespielt. Die Schwester zeigte sich befriedigt und gleich wieder animiert. »Aha, Künstlerin, das habe ich mir doch gedacht, ja, ja, die Damen von der Musik sind oft a bisserl leichtsinnig. – Aber so ein kleines Malheur kann einer jeden passieren«, fügte sie tröstlich hinzu.

Das Stöhnen aus der anderen Kabine ward stärker. Tilly empfand Grauen; sie begann zu zittern, kämpfte gegen die Tränen. »Wird der Arzt nun bald kommen?« fragte sie mühsam. Da hörte sie aus dem Nebenzimmer eine tiefe, rauh belegte Stimme rufen: »Legen Sie die Äthermaske auf, Schwester! Ich bin fertig.« Die Nurse zuckte zusammen; bekam fahrige Gesten; holte die Maske herbei. »Jetzt halten S’ nur still, kleines Fräulein! Schenkel auseinander. Zählen S’ langsam bis fünfzig! Tief atmen! Langsam atmen! Nur brav stillhalten, der Herr Doktor kommt schon, es ist gleich vorbei … Eins – zwei – drei – fünf – neun – fünfzehn … Nur brav zählen, bittschön! Und stillhalten! Wird ja gleich vorüber sein … Haben ja schon Zartere überstanden als Sie, kleines Fräulein …«

Tilly atmete gierig den Äther. Nur das Bewußtsein verlieren, nur einschlafen, nichts mehr hören … nur die Stimme dieser Frau nicht mehr hören … Die erste Reaktion war Brechreiz. Dann spürte sie Todesangst, wollte hochfahren, die Schwester drückte sie nieder … »Nur stillhalten, kleines Fräulein … Nur keine Geschichten machen … Haben andere ja auch schon überstanden …« – ›Das Fräulein Liselott zum Beispiel‹, dachte Tilly, schon halb betäubt. ›Der Stammgast … die fesche Person, kann man nicht anders sagen … Warum zeigt sich der Doktor eigentlich nicht? Er will wohl nicht, daß ich sein Gesicht sehe; könnte ihn auf der Straße wiedererkennen; könnte mir’s ja einfallen lassen, ihm zuzugrinsen, ihn zu grüßen …‹

Da spürte sie schon seine Hände an ihrem Leib. Sie erschauerte unter der kalten Berührung der Instrumente. ›Das kitzelt!‹ war sie noch fähig zu denken. ›Huh – das kitzelt aber infam! Gleich werde ich entsetzlich lachen müssen … Aber nun tut es weh!‹ – »Noch nicht anfangen!« schrie sie und erschrak selber über den dumpfen Klang ihrer Stimme, die von sehr weit her zu kommen schien. »Noch nicht anfangen, bitte!! Ich bin ja noch wach!« – »Wollen Sie wohl den Mund halten!« herrschte die rauhe Stimme sie an.

Sie zwang sich zu schweigen. Gleichzeitig machte sie sich klar, daß sie zu sprechen gar nicht mehr imstande wäre. Dies war die Besinnungslosigkeit; der Abgrund – sie stürzte hinein. Indessen erwies sich das Dunkel, von dem sie empfangen ward, leider als bevölkert; mehrere verdächtige Gestalten traten daraus hervor und verursachten Schrecken. Stimmen vermischten sich miteinander; eine von ihnen war besonders verhaßt: sie gehörte der Rechtsanwältin Albertine Schröder, die im Bett telefonierte. »Ist hier der junge Herr Rabbiner Nathansbock? Hier ist die olle Schröder, von den SA-Leuten erst vergewaltigt, dann vermöbelt worden. Hören Sie, Nathansbock: ich habe eine süße kleine Frau für Sie, prima Ware, möchte geheiratet sein, bietet zehntausend Franken, machen wir das Geschäft?« Welcher Schrecken, da die Rechtsgelehrte nun das dicke, graue Plumeau von sich schleuderte, mit gewaltigem Satz aus dem Bett sprang und eine riesige Schere ergriff, die auf dem Nachttisch neben ihr gelegen hatte. Mörderisch stumm, drang sie mit der blitzenden Schärfe auf Tilly ein. »Da hast du deinen süßen Rabbiner! Deinen wonnigen kleinen Gatten! Du Hure! Da hast du, verfluchte Hure du!« Das eisige Metall fuhr knirschend in ihre Eingeweide. Der Schmerz war ungeheuer, Tilly fuhr in die Höhe.

Sie sah den Arzt, der sich bis jetzt so schlau vor ihr versteckt gehalten. Er stand über sie geneigt, so tief, daß ihm das Blut zu Kopfe stieg. Auf seiner geröteten Stirn trat eine dicke Ader bedrohlich stark hervor. Sein Gesicht, mit hoher Stirn, langer, gerader Nase und kleinem Schnurrbart, schien männlich edel geschnitten, aber verwüstet: das Gesicht eines Trinkers mit schwimmenden Augen und gedunsenen Lippen. Er war zornig, er raste, stampfte auf, brüllte die Schwester an: »Sie wacht ja auf! Schweinerei! Scheiße! Wo hast du denn die Äthermaske, dumme Gans? Sie blutet ja! Ich sage es immer, mit dir kann man nicht arbeiten! Verflucht noch mal! Gib die Maske!!«

Tilly, in einem Starrkrampf aus Entsetzen und Schmerz, konnte nur denken: ›Er nennt sie Du. Sie ist seine Geliebte.‹ – Sie sah das Gesicht der Schwester, das höchst sonderbar verändert war. Ihr scheinheiliges Häubchen hatte sie abgelegt und zeigte nun eine etwas zerzauste blonde Dauerwellenfrisur – ›unsere gemeinsame Freundin, die Coiffeuse, wird sie wohl hergestellt haben‹, beschloß Tilly unter Qualen. Auf der kleinen, runden Stirne der Nurse standen dicke Schweißperlen. Ihr purpurrotes, schamloses, nacktes, nasses Gesicht glich einer aufgeplatzten Tomate. Sie keifte: »Kann ich dafür, daß du am hellen Morgen schon besoffen bist? Es ist ja nicht mehr anzusehen, wie du’s treibst – ich gehe auf und davon – du wirst dich noch nach mir sehnen – auf den Knien rutschen wirst du noch vor mir! Da ist die Maske. Das dumme Ding schläft schon wieder ein, rege dich nur nicht auf.«

Tilly, wieder mit dem Äther vorm Gesicht, begriff: Dieses war die infernalische Szene, der man sich unvermutet gegenübersieht, wenn man die Tür zu einem Zimmer öffnet und findet ein Mörderpaar bei der Arbeit. Sie haben blutige Hände, sind erhitzt von der makabren Hantierung, rufen sich im Kauderwelsch der Kriminellen Flüche zu, haben aber das meiste doch wohl schon geleistet, das Opfer ist fast zerlegt, sie schneiden ihm die Finger mit den Ringen ab – ach, ich bin das Opfer, mein Kind ist es, das sie stehlen … Ernst, Ernst, wo bist du, die Polizei hat dich abgeführt, ich bin allein mit dem verworfenen Paar …

Das Schreckensbild verging in Qual und Nacht. Wie ein Labsal kam der Äther, den man erst so gefürchtet hatte. ›Weh mir, ich falle … Mit mir stürzt das Kind … Niemand da, um uns aufzufangen. Wie tief ist die Tiefe – bodenlos … Niemand hält mich, ich sinke, weh mir, ich sinke hin …‹

Mallorca – höchst liebliches Eiland, mild beglänzt und beschienen von einer gnädigen Sonne; reich gesegnet mit Palmen, Zypressen und allerlei Blütengebüsch; mit Strandpromenaden, Klöstern, Hotels, dekorativ gruppierten Felsen, Grotten, Wasserläufen, Terrassen; mit schönen Frauen, feurig imposanten Männern, liebenswerten Knaben; mit Kathedralen, Stierkampftheatern, Bordells, Cinémas, Flughäfen, Landungsbrücken, Museen; mit Bergen und Gärten, stillen Winkeln und belebten Plätzen; Mallorca, reizendste Gegend, seit eh und je bevorzugt von den Feinsten, auf deiner Erde lustwandelte Madame George Sand in schmuckem Herrenkostüm; vor dem farbenreichen Panorama, das du bietest, träumte am Pianoforte der lungenkranke Pole Chopin; Mallorca – friedlichste Insel, sorgenloses kleines Paradies, weit entfernt von Lärm und Gefahren der Welt; angenehm isoliert, doch nicht abgelegen; idealer Aufenthalt für die Empfindlichen – Landschaftsmaler oder Bankiers – hier laßt uns bleiben, laßt uns Hütten bauen, eine Villa mieten, mindestens ein Hotelzimmer für den Rest des Jahres! Nur nicht weg von hier, diese Sicherheit ist ja köstlich, wo sonst noch fände man sie? Überall geht es hart auf hart, nur hier herrscht Heiterkeit ohne Ende, kein schriller Laut stört die perfekte Idylle … Aber hat es nicht eben ein dunkel drohendes Geräusch gegeben? Sind nicht finstere Wolken über diesen Himmel gezogen, dessen Bläue sonst vorbildlich war? Mallorca, wehe – was ist mit dir vorgegangen? Welcher Donnerschlag hat deine holde Szenerie verändert? Aufschreie plötzlich, wo es nur Lieder und Gelächter gab! Die schwarzen Vögel, die sich vom Meere her nahen, bringen Unheil. In den Villen und am Strande muß man sich’s eingestehen wie in den engen Gassen von Palma: dies sind Bombenflugzeuge, fabriziert in Italien und gelenkt von italienischen Piloten. Woher kommt die schaurige Invasion? Die Hölle ist losgelassen; tausend Teufel präsentieren sich in den kleidsamen Uniformen römischer Faschisten oder in der korrekten Tracht preußischer Beamter und sächsischer Geheimagenten; das satanische Gesicht hat viele Formen, niemals aber könnte es ihm gelingen, seine Grausamkeit und seine dünkelhafte Dummheit zu verbergen. Nun beginnt der Teufel sein Werk: er schafft »Ruhe und Ordnung«. Massenverhaftungen setzen ein, ein preußischer Beamter oder ein römischer Offizier brauchen nur den fürchterlichen Wink zu geben, und ein Mallorquiner Bürger wird abgeführt. Die Kerker füllen sich; um Platz für neue Opfer zu schaffen – oder einfach, weil man es gern knallen hört – erschießt man grundlos Verhaftete. Manchmal nimmt man sich nicht die Mühe, die Unglücklichen erst im Gefängnis abzuliefern: man holt sie nachts aus den Betten, fordert sie, grimmig lächelnd, zu einer »Spazierfahrt« auf; ruft ihnen dann munter zu: ›Jetzt laufe! – Jetzt spring aber!‹ – denn man hat Humor – und dann kracht der Schuß. Am Morgen liegt die Leiche im Gras, am Waldessaum oder auch mitten in der Stadt, es kommt nicht darauf an – in einer kleinen Blutlache, mit dem Gesicht auf dem Pflaster. Der Bischof von Palma findet dies alles christlich, segnet die Mörder und betet öffentlich für ihr Seelenheil. Frauen werden vergewaltigt, Kinder mißhandelt, Männer zerfetzt. Das Meer, das unsere friedliche Insel vom Festland trennt, scheint blutig verfärbt. Drüben, in der großen Hafenstadt, stehen die Kirchen in Flammen. Dort wird erbittert gekämpft. Eine Clique von Generalen, ausgehalten von den reichen Leuten, ist gegen die Regierung aufgestanden und will alle Macht im Lande haben. Das Volk läßt es sich nicht gefallen; empört sich, wehrt sich, rächt sich; das Volk steht auf – in ungeordneten Massen zunächst, aber unbesiegbar durch seinen gerechten Zorn, seinen wütenden Willen zur Freiheit. Dieses Volk wird lang zu kämpfen haben, große Übermacht steht ihm gegenüber. Dieser Krieg dauert lange, ist ein großer Krieg und doch nur ein Teil von einem größeren. – Flieht, ihr Fremden aus den Badeorten; mit der Idylle ist Schluß! Flieht aus San Sebastian! Flieht von der Insel Mallorca! – Der große britische Autor, von Grauen geschüttelt, packt seine Koffer. Siegfried Bernheim muß den Kapitän eines ausländischen Kriegsschiffes mit hoher Summe bestechen, um nur mitgenommen zu werden. Die schöne Villa läßt er im Stich, samt dem echten Renoir und dem zweifelhaften Greco: die Faschisten würden ihn nicht verschonen; das deutsche Konsulat ist schon seit langem auf ihn aufmerksam, zwischen den Nazis und den spanischen Falangisten besteht intimer Kontakt – er wäre seines Lebens nicht sicher, bliebe er nur noch einen Tag. Zum ersten Mal in all den Jahren scheint Bernheim etwas aus der Fassung zu kommen. Schwankenden Ganges bewegt er sich über den Landungssteg, die Gassenjungen johlen hinter ihm drein. Auch Professor Samuel, an seiner Seite, zeigt ein fahles Gesicht. Mit ihm haben sich die witzigen jungen »Hüter der Ordnung« am Tage vorher noch einen ihrer famosen Scherze erlaubt. Ihm wurde mitgeteilt: »Jetzt mußt du sterben, alter Bolschewik! Dein Stündlein hat geschlagen, Judensau!« – woraufhin man ihn an die Wand stellte. Ein halbes Dutzend Kerle stand ihm in Reih und Glied gegenüber, die Gewehrläufe auf ihn gerichtet. Sie zählten: Eins – zwei – und drei! Dann brachen sie in tobendes Gelächter aus. Übrigens waren sie nicht ganz auf ihre Kosten gekommen, weshalb ihr Lachen nicht sehr heiter klang. Samuel hatte nicht gewinselt, nicht um Gnade gefleht, war nicht einmal in Ohnmacht gefallen. Aufrecht und mutig hielt er sein altes Haupt mit dem weißen Gesicht, dessen gescheiter, sinnlicher Mund freilich nicht mehr lächelte. Er war nicht so sehr entsetzt oder traurig darüber, daß er sterben sollte. ›Es ist idiotisch von den Burschen, mich umzubringen‹, dachte er nur verächtlich, ›aber die sind wohl derartig dumm, daß sie es aus irgendwelchen Gründen für ihre Pflicht halten. Außerdem macht es ihnen wahrscheinlich Vergnügen. Was mich betrifft, ich darf mich kaum beklagen. Mein Leben ist schön gewesen, nun geht es schnell zu Ende, ich habe weiter keine Unannehmlichkeiten mehr. Lieber hier geschwind umgebracht werden, als in ein deutsches Konzentrationslager – denn das ist wohl der Aufenthalt, der viele meiner Freunde erwartet. Hier werden sie auf italienische Schiffe verladen wie das Vieh; in Genua müssen sie umsteigen, und in München holen die Herren von der Gestapo sie am Bahnhof ab. Das ist nicht der Lebensabend, den ich mir wünsche. – Also, schießt schon zu, dumme Buben!‹ – Sie schossen indessen nicht; lachten vielmehr wie besessen, wenngleich auf nicht heitere Art. Er dachte: ›Auch gut. So geht dieser Betrieb also weiter. Vielleicht darf ich noch ein paar gute Bilder malen. Aus dieser Szene, zum Beispiel, mit den Burschen und den Gewehren, wäre allerlei herauszuholen.‹ – Bernheim, mittels seines Geldes und der hohen Beziehungen, setzte durch, daß Samuel mit ihm reisen durfte. – Die englischen Herrschaften, die soviel Whisky konsumiert und mit soviel Enthusiasmus Bridge gespielt hatten, wurden von gepanzerten Booten abgeholt, die zu His Majesty’s Navy gehörten. Von den deutschen Emigranten, die via Genua nach München geschafft werden sollten, brachten sich mehrere um. Keiner wurde vergessen, trotz aller Aufregung; die schwarzen Listen, welche die deutschen Behörden an die faschistisch-spanischen weiterleiteten, schienen umfassend zu sein; man arbeitete glänzend zusammen, die Regie klappte, alles ging wie am Schnürchen; die Apokalypse war prima organisiert, die Orgie der Sadisten trefflich vorbereitet, in Rom und Berlin hatte man wohl, vor Beginn des Schlachtens, jedes Detail des Programms mit Sorgfalt besprochen: Die roten Untermenschen sollen unsere Macht und kalte Klugheit spüren, die Juden und Pazifisten, auch die aufsässigen Arbeiter, die Literaten, und von den Priestern jene, die es mit dem Christentum ernst meinen – hin müssen sie alle werden, die Nilpferdpeitsche für sie, der Rizinus-Trank, die Handgranate in die Fresse, das Bajonett in den Bauch – Es lebe die Internationale des Faschismus!

Es lebe die Internationale der Freiheit! Wer Widerstand leistet, bleibt nicht ganz allein. Die Regierungen mögen ihn im Stich lassen; die »großen Demokratien« mögen ihre feige Politik, die nur dem Angreifer zugute kommt, »Neutralität« oder »Nichteinmischung« nennen. Von überall her kommen die Freunde, die Freiwilligen; begeisterter Zulauf aus allen Ländern, allen Himmelsstrichen; Proletarier neben Intellektuellen, sie sprechen verschiedene Sprachen und verstehen sich doch – es formieren sich die Internationalen Brigaden.

»Nun weiß man doch, wohin man gehört!« sagt ein junger Mann wie Hans Schütte, der in Prag nicht hat bleiben dürfen, und dann nicht in Wien, und in Frankreich nicht, und nicht in der Schweiz, in Holland oder in Skandinavien. Trotzig hat er sich herumgetrieben, überall der ungebetene Gast, verfolgt von der Fremdenpolizei, ein Geächteter. Er sieht schon verdächtig aus und recht heruntergekommen. Ein harter, struppiger Bart ist ihm gewachsen, und seine runden, etwas vortretenden Augen, die einst gutmütig schauten, haben oft einen flackernd scheuen Blick, der nichts Gutes verheißt. Jetzt aber begreift er: Es gibt irgendwo was zu tun – etwas Großes. Das lohnt sich, da mache ich mit. In jenem Lande – wo ich noch nie gewesen bin und dessen Sprache ich nicht verstehe – sind die Leute nämlich auf eine glänzende Idee gekommen: auf die Idee, sich zu wehren.

›Dorthin gehöre ich! Dies ist die Gelegenheit, auf die ich so lange gewartet habe – dies die Stunde: ich erkenne sie, sie ist da!‹ So empfand Marcel Poiret. Er war müde der großen Worte, gierig danach, zu handeln; er lechzte nach der Tat, nach dem Opfer; nun war es soweit: man konnte sich anschließen, sich zusammentun, gemeinsam handeln mit den Kameraden. Sie haben nicht verstanden, sie sind stumpf und dumm geblieben, wenn man sich an sie wendete und sie ergreifen wollte durch das geschriebene Wort. Sie werden begreifen, man wird zu ihnen gehören, wenn man mit ihnen kämpft. ›Nun hatte es doch sein Gutes, daß der französische Staat, die brave Dritte Republik mich schießen gelehrt hat. – Ich gehe nach Spanien. Ich melde mich zur Internationalen Brigade.‹

Es werden ihm Abschiedsfeste gegeben; eines veranstaltet die Schwalbe in ihrem Lokal. Ganz vollzählig ist der kleine Kreis bei dieser Gelegenheit freilich nicht. Einige junge Leute, die man häufig hier sah, sind ihrerseits schon nach Spanien vorausgefahren. Auch Marion und Martin sind nicht erschienen. Martin geht fast gar nicht mehr aus – wie die Schwalbe betrübt berichtet – er verbringt die Tage im Bett, die Nächte am Fenster, und in den rosiggrauen Stunden der Dämmerung kann man ihn ziellos durch die Gassen des Quartier Latin oder drunten, an der Seine, promenieren sehen.

Und Marion! – Mit ihr ist Marcel heute den ganzen Tag gewesen, und morgen früh wird sie allein es sein, die ihn zum Zug begleitet. Sie ist sehr erschrocken, als er ihr’s gesagt hat: Ich gehe nach Spanien. Marion, die sonst nur tröstet und hilft, zur Besinnung oder zum Kampf ruft – Marion hat geweint. Ihr Mund hat kindlich gezittert, aus den schönen, schrägen Katzenaugen flossen Tränen: »Tu es nicht! Ich sehe dich niemals wieder! Bleibe hier, es gibt hier genug zu leisten! Bleibe meinetwegen! Ich bin deine Frau!« – Sie hat sogar dies gesagt: »Ich bin deine Frau!« – hat sich nicht geschämt, das riskante, in solchem Zusammenhang fast abgeschmackte Argument zu benutzen. Noch ärger aber war es, als sie plötzlich verlangte: »Wenn du gehen mußt – nimm mich mit! Ich will nicht alleine hier bleiben oder in Mährisch-Ostrau Gedichte aufsagen – und anderswo wird die Entscheidungsschlacht geschlagen, und du bist dabei! Nimm mich mit! Ich kann auch schießen lernen, ich bin sehr begabt fürs Schießen, im Lunapark habe ich immer den ersten Preis gewonnen; oder ich kann Krankenschwester werden, oder den Soldaten nachts Geschichten erzählen, wenn sie wach bleiben müssen – und ich kann bei dir sein; denn ich bin deine Frau!« Marcel streichelte sie erst und bat: »Das ist nicht dein Ernst, Marion! Das kannst du nicht wirklich wollen!« Als sie eigensinnig blieb, mußte er streng und beinah drohend werden. »Es gibt Wege, Marion, die man allein zu gehen hat! Du kannst nicht mit mir kommen. Ich will nicht, daß irgend jemand mit mir kommt.« – Da verstummte sie und hielt das Gesicht lange gesenkt, wie beschämt. Erst viel später war es, daß sie leise sagte: »Wahrscheinlich hast du recht. Es gibt Wege – die muß man alleine gehen.« Und – wieder nach einer Pause; aufseufzend, von ihm weggewendet: »Ach Marcel – mein Marcel … Was ist uns bestimmt? Wohin führt das alles, und wo kommen wir an! – Wie seltsam sind die Dinge, die uns vorbehalten sind …« – Als sie nachts neben ihm lag, sah sie wieder, vor den fassungslos geöffneten Augen, den feuerspeienden Berg, den Vulkan. Rauchmassen, lodernder Brand, und die Felsbrocken, die tödlich treffen. Wehe – was ist uns bestimmt?

Marion, Martin und Kikjou fehlten auf dem Fest der Schwalbe; hingegen gab es mehrere neue Gesichter, wie auch altvertraute: Helmut Kündinger war da – fast arriviert nun; ein angesehener Journalist, von würdevoll selbstbewußtem Betragen – Dr. Mathes samt seiner schönen Frau, die, mit leuchtendem Haar und blanker Stirn, einem militanten Erzengel glich; Nathan-Morelli, dessen Gesichtsfarbe unheimlich gelblich war und der leidend wirkte – was ihn übrigens keineswegs dazu veranlaßte, etwas weniger Zigaretten zu rauchen; Fräulein Sirowitsch, seine Lebensgefährtin, Leiterin der großen Presseagentur – ihrerseits stattlich erblühend, ganz entschieden üppiger und attraktiver geworden, seit wir ihr, im fernen Jahre 1933, erstmals begegnen durften; Dora Proskauer – die schräge Nackenlinie belastet von den Sorgen um ihre jüdischen Schützlinge, von denen sich einige ängstlich um sie gruppierten; Theo Hummler – eben aus Straßburg, Prag oder Stockholm zurückkehrend, eingeweiht in mancherlei politische Machenschaften und geheime Aktionen, leicht zerstreut und sehr in Anspruch genommen, aber doch jovial, munter trotz allem, ein lustiger Geselle, guter Trinkkumpan, obwohl so wichtig beschäftigt; Germaine Rubinstein, die ernsten Augen voll Heimweh nach dem unbekannten Rußland; die gefeierte Ilse Ill, fast nur noch Französisch sprechend, höchst extravagant und schaurig hergerichtet, mit grünem Haar und violetten Wangen. Sie erzählte allen, die es hören wollten: »Ich bin wirklich froh darüber, daß ich Erfolg habe – wirklich froh. Denn es ist doch ein gutes Zeichen, wenn ein begabter Mensch sich durchsetzt, ganz ohne Protektion. Mit dem Talent, und mit gar nichts anderem, habe ich es geschafft.«

Übrigens war sie eher noch mißtrauischer, fast verfolgungswahnsinnig geworden, seitdem sie reüssiert hatte. Es geschah, daß sie irgendeinen von den alten deutschen Bekannten mit heftigen Vorwürfen plötzlich überschüttete. »Du grüßt mich nicht mehr – oder nur noch kühl – weil ich Erfolg habe: das ist der ganze Grund. Du verachtest mich wohl, weil ich Geld verdiene? Pfui, wie kann man nur so borniert und eifersüchtig sein! Dabei verdanke ich doch alles einzig und allein meinem großen Talent!« – Sie erbot sich, Marcel zu Ehren ein Lied zu singen, und trug gleich eine gräßlich unanständige Ballade vor – »pour faire plaisir à notre ami Poiret!«

David Deutsch aber – das schwarze Haar über dem wachsbleichen Gesicht wie in ständigem Entsetzen starr aufgerichtet – sprach mit schiefen Bücklingen: »Ich bin etwas neidisch, Marcel! Wie gerne möchte ich mitkommen. Meine soziologischen Arbeiten freuen mich fast nicht mehr, seitdem in Spanien der Entscheidungskampf begonnen hat: denn es ist ein Entscheidungskampf, das spüren wir alle. Ich fürchte nur, man könnte mich kaum gebrauchen; ich wäre kein guter Soldat …« Dazu ein kummervoller Blick auf seine empfindlichen, bleichen Hände. – »Aber vielleicht komme ich nach!« fügte er hinzu und hob, mit einem kleinen Ruck, stolzer das schmale Haupt.

»Vielleicht komme ich nach!« Auch Dr. Mathes sagte es, das schöne Meisje, Theo Hummler, selbst die Schwalbe ließen dergleichen hören. – »Vielleicht komme ich nach!« – Sogar Martin verhieß es; Marcel hatte ihn nach Schluß der Schwalben-Gesellschaft aufgesucht. Von Martins üppigen und fahl gewordenen Lippen indessen klang es nicht so ganz überzeugend. Er bekam lügnerische Augen und behauptete mit koketter Pedanterie: »Ich nehme jetzt fast gar nichts mehr – weißt du. Nur noch ab und zu eine Kleinigkeit – man kann sagen: ich bin vollständig frei. In ein paar Wochen werde ich ganz gesund – und dann fahre ich wohl nach Spanien …« Während Marcel noch bei ihm saß, rief Pépé, der Drogenhändler, an, und Martin mußte sich ausführlich bei ihm entschuldigen wegen der hohen Schulden. »Ich erwarte eine größere Überweisung von meinen Eltern, aus Deutschland!« rief er beschwörend durchs Telefon. »Sei doch noch ein bißchen geduldig, mein süßer Pépé! Und vor allem, vergiß nicht: morgen muß ich ein neues Päckchen haben!« – Neben seinem Bett lagen allerlei rot verfärbte Lappen und Wattebäusche. »Die sind vollgesogen mit meinem Blut«, erklärte Martin geheimnisvoll, als verrate er etwas Reizendes, Pikantes. »Bei den intravenösen Injektionen gibt es Blutverluste – weißt du …« Dabei waren seine Augen verhangen, lüstern und trostlos traurig. Ehe Marcel ihn zum Abschied küßte, fragte Martin ihn noch: »Hast du eine Ahnung, wo Kikjou steckt? Ich glaube, er ist immer noch in Lausanne; aber ich habe schon seit langem keinen Brief bekommen. Er beschäftigt mich nicht mehr so sehr – Gott sei Dank. Aber wenn du seine Adresse zufällig wüßtest, könntest du sie mir doch geben …« Marcel sagte, er habe keine Ahnung, wo Kikjou sei.

Er ging zu ihm, noch in dieser Nacht, es war seine letzte Visite, ehe Marion ihn zum Bahnhof brachte. Kikjou wohnte in einem kleinen Hotel nah der Madeleine. Dort versteckte er sich vor Martin. Er wollte Martin nicht sehen – um keinen Preis, unter keinen Umständen; er hatte Angst vor ihm und vor der chose infernale. In seinem Zimmer hing das Kruzifix; auch die Bücher, auf dem Tisch gehäuft, waren wohl fromme Werke. In dieser Nacht aber unterließ es Marcel, sich mit Kikjou über Gott und die allein seligmachende Kirche zu streiten. Er sagte nur: »In Spanien kämpfen die Priester auf der anderen Seite – auf der Seite des Feindes. Sie haben das Volk in der Finsternis halten, unterjochen und ausnutzen wollen. Das Volk haßt sie.« Dabei ruhte der Blick der tragisch aufgerissenen Sternenaugen auf dem Bild des Gekreuzigten. – »Es gibt schlechte Priester«, gab Kikjou zu. Marcel, anstatt darauf einzugehen, erwiderte: »Lebe wohl!« – Sie umarmten sich, Marcel et son petit frère, Marcel und Kikjou, einander so ähnlich, voneinander so verschieden, wie Brüder es sind; beide begnadet mit Reiz, beide verführend mit weitgeöffneten, schillernd vielfarbigen Augen unter den hohen, kühn geschwungenen Bögen der Brauen. »Mon petit singe!« sagte Marcel, und Kikjou nahm seine Wange nicht von Marcels Gesicht. Sie wußten, es war ein Abschied für lange Zeit, der Abschied für immer vielleicht. – »Ich werde für dich beten«, versprach Kikjou, und Marcel widersprach nicht, lachte nicht, schimpfte nicht, sondern nickte ernst: »Das kann nichts schaden. Bete für mich. Bete für mich, mon petit singe, mon petit frère.« – Es war nicht davon die Rede, daß Kikjou nachkommen wollte; beinah alle, von denen Marcel Abschied nahm, stellten dergleichen in Aussicht; nicht aber Kikjou. Nur daß er beten würde, versprach er. – »Und sei wieder gut zu Martin!« bat Marcel, ehe er ging. »Er braucht dich. Er ist sehr traurig.« – Kikjou darauf, das perlmutterne Affengesichtchen unbewegt: »Er braucht mich nicht, obwohl er traurig scheint. Er hat sich anders entschieden. Nun muß er seinen Weg allein zu Ende gehen.« – Marcel dachte plötzlich an die blutgetränkten Lappen und Wattebäusche neben Martins Bett. ›Auch er verströmt sein Blut – auch er. Sinnlos fließt es hin; eine verschwendete Kostbarkeit; das vergeudete Opfer …‹

Nun gab es nicht viel mehr zu tun, und die Nacht war schon fast zu Ende. Ihren Rest verbrachte Marcel in seiner Wohnung mit dem Ordnen von Papieren und Bildern. Gegen sieben Uhr holte Marion ihn ab.

Von seiner Mutter, Madame Poiret, hatte er nicht Abschied genommen.

›Es wird nie mehr ganz gut mit mir werden‹, glaubte Tilly. ›Der mörderische Doktor und seine Geliebte haben mich mit ihren unsauberen Instrumenten verdorben. Ich bin ganz kaputt. Richtig verpatzt haben sie mich – das kommt nie mehr in Ordnung. Es tut scheußlich weh …‹

Die Schmerzen im Unterleib wurden beim Gehen am schlimmsten; aber auch beim Sitzen an der Schreibmaschine waren sie oft von solcher Heftigkeit, daß Tilly aufstöhnen mußte. Herr Ottinger, obwohl etwas schwerhörig, vernahm leise Laute, die ihm beunruhigend schienen. »Was ist Ihnen, liebes Kind?« fragte er, das sanfte, bärtige Gesicht zärtlich zum Manuskript der »Lebensbeichte eines Eidgenossen« geneigt. Tilly konnte sich zusammennehmen. »Gar nichts«, konnte sie sagen. »Wirklich – ich habe nur ein bißchen Kopfweh, Herr Ottinger.« – »So, so«, machte er, und seine freundlichen alten Augen schauten schon wieder an ihr vorbei, durch sie hindurch, in eine Vergangenheit, die zugleich heiterer und würdevoller schien als eine Gegenwart, die Fröhlichkeit und elegante Form verloren hat.

Tilly wußte ungefähr, was ihr fehlte: in medizinischen Nachschlagewerken hatte sie’s festgestellt. Was nützten ihr die lateinischen Worte und die einprägsamen, etwas unappetitlichen Bilder? – ›Ich bin verpatzt worden‹, war alles, was sie begriff. ›Man hat mich kaputt gemacht. Ich werde nicht mehr gesund.‹ – Dann begriff sie auch noch: ›Im Grunde will ich gar nicht gesund werden.‹

Die Schmerzen im Unterleib waren wohl nur Symptom und Ausdruck eines größeren, tieferen Leidens. Seitdem das Kind, welches Tilly nicht hatte bekommen wollen, entfernt war, fühlte sie sich noch viel betrübter als vorher, da sie’s »unterm Herzen« trug. Sie fühlte sich so betrübt, daß sie beschloß: ›Jetzt hat es aber wirklich keinen Sinn mehr! Ich muß sterben. – Den Ernst sehe ich niemals wieder, auch den Konni nicht. Beide sind vielleicht schon totgeschlagen worden. Ziemlich viel hatte ich mir von der Bekanntschaft mit H.S. versprochen – diesem unbekannten, mir doch so vertrauten H.S. Aus irgendwelchen Gründen scheint das Schicksal nicht zu wünschen, daß wir uns begegnen … Ich sterbe, etwas anderes bleibt gar nicht übrig. Ich habe nichts mehr, was mich halten könnte – nicht einmal ein kleines Kind; denn das durfte ich nicht bekommen. Ich weiß aber, wie ich mir Veronal verschaffen kann. Ich verschaffe mir Veronal … Der Mutter sage ich, daß ich auf zwei Tage nach Basel muß zu Bekannten. Ich gehe in das Hotel, wo ich damals mit dem Ernst gewesen bin. In das Hotel, wo die Polizei uns überrascht hat – dorthin gehe ich …‹

Tilly bestand darauf, daß sie das gleiche Zimmer bekomme wie damals. Die Wirtin wunderte sich: Aber es hat doch zwei Betten und ist um einen Franken fünfzig teurer als die kleinen einbettigen! – Tilly blieb dabei: Ich will Numero 7.

Mit Rührung erkannte sie das klapprige Waschgestell wieder und die Flecken an der Wand, von denen Ernst so sachverständig gesagt hatte: Hier hat man Wanzen zerdrückt.

Damals hatte sie nichts bei sich gehabt, keinen Pyjama und keine Zahnbürste. Heute trug sie ein kokettes, übrigens recht billiges Handtäschchen aus rotem Lackleder, in dem alles Notwendige untergebracht war. Durch das sorgfältige Packen hatte sie die Mutter irreführen wollen. Es war ihr aber auch daran gelegen, gerade an diesem Abend und in diesem Zimmer soigniert und adrett zu sein.

Sie verteilte die Flacons, Tuben, Bürsten und Metallgegenstände in hübschem Arrangement auf dem Nachttisch. Neben die Toilettensachen legte sie die beiden Röhrchen mit Veronal, als ob sie nur einen harmlosen Bestandteil der damenhaften kleinen Ausrüstung bedeuteten.

Sie zog den schwarzseidenen Hausanzug mit den langen, weiten Hosen an; während sie das Jäckchen zuknöpfte, fiel ihr ein, daß dies kleidsame Stück ein Geschenk von Peter war. ›Guter Peter!‹ dachte sie träumerisch, und sie begann, sich für die Nacht zurechtzumachen. Statt sich aber das Gesicht, nachdem sie es vom Puder sorgfältig gesäubert hatte, mit fetter Crème einzureiben, wie sie es gewöhnt war, puderte sie sich frisch und schminkte sich Lippen und Augenbrauen. Sie legte sogar ein wenig Rouge auf die obere Wangenpartie, was sie nur vor großen, festlichen Ausgängen zu tun pflegte.

Sie betrachtete sich lange im Spiegel. Ganz sachlich, ohne Stolz und ohne Betrübtheit, stellte sie fest, daß sie außerordentlich hübsch aussah. Die dunklen Schatten um die langen, schräggestellten Augen gaben dem sinnlich-schwermütigen Blick einen noch stärkeren Ausdruck. Die sehr weiße und ebenmäßig gebildete Stirne schimmerte, vom glatten Scheitel des rötlichen Haars ernst und artig gerahmt. Das dunkle Lippenrot, zu dem die Coiffeuse ihr neulich so dringlich-schwatzhaft geraten hatte, machte ihren weichen, »schlampigen« Mund erst recht verführerisch. ›Ich hätte diese Farbe schon früher benützen sollen‹, dachte sie, und dann mußte sie über sich selber lächeln.

Lächelnd ging sie die paar Schritte vom Spiegel zum Tisch, auf den sie Briefpapier gelegt hatte. Beim Gehen spürte sie wieder Schmerzen. Während sie sich am Tisch niederließ, stöhnte sie. Sie saß ein paar Minuten lang gekrümmt; die Knie hochgezogen, das Gesicht in die Hände gepreßt. ›Wenn nur nicht auch noch ein Asthmaanfall zu allem übrigen kommt!‹ dachte sie. ›O mein Gott – nur kein Asthma! Das wäre das Schlimmste, es würde alles verderben …! Ich glaube aber, das Asthma bleibt mir erspart. Ich atme leichter und freier als seit langem.‹ Dies stellte sie mit Dankbarkeit und nicht ganz ohne Verwunderung bei sich fest. Dann begann sie zu schreiben.

Sie hatte vergessen, ihren kleinen Füllfederhalter mitzunehmen. Der Federhalter, den die Wirtin ihr gebracht hatte, war dünn, mit Tintenflecken bedeckt und sehr abgegriffen. Er sah abgenagt aus – fand Tilly, die sich ziemlich vor ihm ekelte – als hätten viele Kinder ihn benutzt oder Erwachsene, denen das Schreiben schwerfällt. Alle hatten ihn zum Munde geführt und sorgenvoll an dem langen, dünnen Holz gekaut. Die Stahlfeder war alt und verrostet. Es gab ein häßlich kratzendes Geräusch, wenn man sie übers Papier führte.

Zuerst schrieb Tilly ein paar Zeilen für die Wirtin. »Falls Sie mich tot vorfinden, benachrichtigen Sie bitte den Herrn Peter Hürlimann.« Sie gab seine Adresse und Telefonnummer an. ›Hürlimann soll es der Mutter sagen!‹ – das hatte sie schon vor langem beschlossen. ›Es ist die letzte kleine Gefälligkeit, die der gute Junge mir tut.‹ – Den Brief an die Wirtin schloß sie: »Entschuldigen Sie, liebe Frau Bärli« – zu ihrer Überraschung fiel ihr plötzlich dieser Name ein – »daß ich Ihnen soviel Umstände mache, und daß ich mir gerade Ihr Gasthaus ausgesucht habe für die Sache, die ich tun muß. Hoffentlich haben Sie nicht zuviel Scherereien.« Das Wort »Gasthaus« strich sie aus und schrieb »Hotel« darüber. ›Das ist höflicher‹, dachte sie.

Dann schrieb sie an den Peter Hürlimann und bedankte sich für alles bei ihm, was er für sie getan hatte; ganz besonders auch für die letzte kleine Gefälligkeit, die es nun noch zu erledigen galt: den schlimmen Gang zur Mama. »Aber sie wird es mit Fassung aufnehmen«, schrieb Tilly. »Sie bewahrt ihre Haltung in allen Situationen. – Und Du darfst auch nicht zu traurig sein, lieber alter Peter! Wenn Du mich gerne hast, solltest Du mir die Ruhe gönnen. Ich bin furchtbar müde, und alles tut mir so weh. Verlange keine Erklärungen von mir, lieber alter Peter! Du mußt mir schon glauben und mußt spüren, daß ich recht habe, und daß es so am besten für mich ist. Denke nicht zuviel an mich, aber doch manchmal. Manchmal sollst Du schon an mich denken. Deine alte Freundin Tilly.«

Wie ein fleißiges Schulmädchen saß sie an dem kleinen wackeligen Tisch und ließ die kratzende Feder emsig übers Papier wandern. Ihre Zungenspitze spielte im Mundwinkel; die geschminkten Brauen waren hochgezogen, die Stirne hatte sie in ernsthafte Falten gelegt. Das lange Sitzen strengte sie an. Die Schmerzen im Unterleib wurden stärker. Wahrscheinlich hatte sie jetzt auch Fieber. Sie stöhnte. Stöhnend schrieb sie ihre letzten Grüße.

Als sie ihre letzten Grüße, ihren Dank und ihre Bitte um Verzeihung an die alten Ottingers schrieb, mußte sie weinen. Es war zum ersten Mal, daß ihr die Tränen kamen, seit sie jenen definitiven Entschluß gefaßt hatte, der das Herz einerseits leicht machte, andererseits erstarren ließ. »Sie sind sehr, sehr gut zu mir gewesen.« Die rostige Feder wurde immer widerspenstiger; Tilly mußte jeden Buchstaben einzeln malen. »Ich bin Ihnen dankbar, von ganzem Herzen. Hoffentlich finden Sie gleich ein anderes Mädchen, das viel schneller tippen kann als ich und nicht immer so blöde Fehler macht. Ich glaube, Herrn Ottingers Erinnerungen sind ein wundervolles Buch; vor allem das Kapitel über die Schweizer Berge hat mir so gut gefallen, es steckt soviel Gefühl darin, ich wollte es dem lieben Herrn Ottinger immer schon gelegentlich sagen.« Jetzt waren ihre Augen so naß, daß alles vor ihnen verschwamm. Sie suchte nach einem Taschentuch in allen kleinen Taschen ihres Pyjamas. Sie fand keines und erhob sich stöhnend, um es sich aus dem Handkoffer zu holen.

›Nun muß ich noch an Mama und an Marion schreiben‹, dachte sie, während sie sich gründlich schneuzte und die Augen wischte. ›Aber ich mache es kurz. Denn ich kann nicht mehr. Ich kann bald wirklich nicht mehr.‹

Als sie wieder am Tischchen saß, ließ sie die Hände noch eine Weile im Schoße liegen. Sie hatte nicht die Kraft, gleich wieder nach dem mageren, abgekauten Federhalter zu greifen. ›Ein Glück, daß ich die Adressen von meinen zwei Liebhabern, von Konni und Ernst nicht weiß; sonst müßte ich denen auch noch schreiben‹, dachte sie, wie eine kleine Sekretärin, die sich freut, daß ihr Chef eine Adresse verloren hat und sie also um lästige Arbeit herumkommt. Dann aber erschrak sie gleich über den Zynismus ihrer Überlegung. ›Wie kann nur ein fast erwachsenes Mädel so faul sein!‹ Sie benützte in ihren Gedanken die Worte, die früher eine Handarbeitslehrerin so oft mit gerechter Empörung zu ihr gesagt hatte.

›Ich habe in meinem Leben nur zwei gern gehabt, und nur mit zweien geschlafen, und von beiden weiß ich nicht, wo sie sind, vielleicht sind beide schon tot, und ich weiß es nicht. Den Konni haben sie vielleicht in Deutschland umgebracht, oder sie haben ihn so lang gequält und geschunden, daß er gar kein richtiger Mensch mehr ist, sondern schon ganz kaputt, und ich würde ihn kaum noch erkennen. Würde ich ihn denn überhaupt noch erkennen, wenn er jetzt hier ins Zimmer träte und sähe noch fast aus wie früher, nur ein bißchen älter natürlich? Ich habe sein Gesicht ganz vergessen. An seine Stimme erinnere ich mich noch und auch an die Art, wie er ging. Aber sein Gesicht habe ich vergessen. Alle Züge verwischen sich mir, wenn ich dran denken will. Ach, Konni, Konni – und wir hätten glücklich sein können! Wir haben doch so fein zueinander gepaßt!

Aber wie der Ernst aussieht, das weiß ich noch ganz genau, ich spüre noch die Berührung von seinem Körper mit meinem, und wie seine Hände waren, spüre ich noch, ich spüre noch alles. Als ich hier mit dir im Bett lag, Ernst, da wußte ich wohl noch gar nicht, daß ich dich lieben würde, wenn du nicht mehr da bist, sondern ganz verschwunden … Daß ich dich lieben werde … Daß ich dich liebe.

Ich hätte das Kind gern von dir bekommen, lieber Ernst, das glaubst du mir doch, wenn ich es dir ganz aufrichtig sage in dieser Stunde, die schließlich eine ziemlich ernste Stunde für mich ist. Aber was sollten wir mit einem Kind? Und was soll denn unser Kind auf der Erde? Schau, so was darf man doch einem Kind nicht antun – es mit solchen Eltern auf die Welt zu bringen! Was für ein hilfloses kleines Geschöpf ist so ein Baby – und wären wir ihm denn eine Hilfe gewesen? Bist du denn ein Papa, wie er sein soll? Ich will dich ja nicht kränken, lieber Ernst, und deiner männlichen Ehre nicht zu nahe treten. Du kannst ja auch nichts dafür, daß du wie ein Verbrecher durch die Länder gejagt wirst, weil du keinen Paß hast. Wenn du mir nur mal geschrieben hättest, dann wäre alles anders gewesen, und ich hätte vielleicht sogar den Mut gehabt, das Kleine zu kriegen. Aber nun muß ich denken, du bist vielleicht einfach tot. – Und – das liegt doch auf der Hand – ich bin auch keine Mama, wie sie sein sollte, sicher nicht. Ich habe nicht die Kraft und den Willen, mein eigenes Leben auszuhalten. Wie sollte ich es da verantworten, ein anderes Leben in die Welt zu setzen und aufzuziehen und immer zu beschützen?‹

Als sie nun die müden Augen ein wenig schloß, stand gleich vor ihr sein Gesicht, das Gesicht des Geliebten, das in diesem Zimmer, auf diesem Bett eine kurze Nacht lang ihr so nah gewesen war. Ganz deutlich sah sie seine sehr hellen Augen – sogar die blonden Augenwimpern konnte sie unterscheiden – und die breiten, hochsitzenden Wangenknochen, über denen sich die etwas unreine, angestrengte, fleckige Haut spannte; und die kurzgeschorenen Haare an den Schläfen – auch am Hinterkopf war das Haar kurzgeschoren, wie Tilly sich wohl erinnerte; das war der preußische Haarschnitt; aber den Nacken sah Tilly jetzt nicht, ihr bot sich nur die nackte, weiße, ernste Fläche seines Angesichts. Auch Hals, Schultern und ein Teil der Brust waren noch erkennbar, und sie überlegte sich, was für eine merkwürdige Art von Uniform es sein mochte, die ihr Ernst da trug – war es ein Sträflingskittel oder ein Soldatenrock? Übrigens stand ihm der hohe, steife Kragen der grauen Jacke nicht schlecht; entschieden besser jedenfalls, als ihm damals das zu lang getragene dicke rote Hemd gestanden hatte.

An die Mutter schrieb Tilly nur ein paar Zeilen: »Versuche mir zu verzeihen … ich konnte nicht anders …« Es war ein konventionelles Selbstmörder-Abschiedsbriefchen. Als Tilly es durchlas, schämte sie sich ein wenig, so etwa, wie man sich etwas geniert, wenn man einem guten Freund Neujahrs- oder Geburtstagsgrüße geschrieben hat und dann konstatieren muß, daß sie zu korrekt und inhaltslos ausgefallen sind. Tilly setzte noch mit großen Lettern unter den Text: »Ich habe Dich immer lieb gehabt, Mama.« Und dann, als zweites Postscriptum, in kleinerem Format: »Grüße bitte meine Schwester Susanne von mir.«

Der Brief an Marion wurde der längste; die arme stöhnende, ab und zu weinende, von Unterleibsschmerzen und Todesgier arg geplagte, auch noch unter der kratzenden Stahlfeder leidende Tilly schrieb fast eine ganze Stunde an ihm.

In Sätzen, die sich häufig verwirrten und nicht immer logisch nebeneinander standen, versuchte sie, der großen Schwester zu erklären, wie alles zusammenhing und was sie zu dem erleichternd-schauerlichen Entschluß gebracht hatte, den auszuführen sie nun im Begriffe war. Dabei ließ sie sich auf mancherlei Einzelheiten ein, deren Bedeutung nicht ganz plausibel wurde, die ihr aber jetzt von besonderer Wichtigkeit zu sein schienen. Zum Beispiel erwähnte sie ausführlich ihre Besuche bei der gräßlichen Anwältin, die im Bett liegend telefoniert hatte und in deren Augen ein infamer, kalter Glanz gewesen war – »ein teuflischer Glanz«, malte Tilly mit der rostigen Feder.

Dann schrieb sie von der einen Liebesnacht mit Ernst, und wie der Kriminalbeamte frühmorgens an die Tür geklopft hatte, und wie peinlich es gewesen war, als Ernst sich so ungeschickt schlafend stellte. »Aber das Kind konnte ich nicht bekommen, da gibst Du mir doch recht, Marion, ich durfte das Kind doch nicht haben, was hätte ich denn mit ihm anfangen sollen!«

Sie versuchte zu schildern, wie fürchterlich die Prozedur beim Arzt gewesen war: »Ich glaube, die Instrumente sind nicht sauber gewesen, dieser Doktor war ein ekelhafter Kerl, und jetzt tut es mir immer so weh, es ist wirklich kaum auszuhalten.

Mir ist einfach alles schiefgegangen. Ich habe den Konni sehr gern gehabt, und ich hätte sicher gut mit ihm leben können. Aber dann ist in Deutschland die Riesensauerei passiert, und ich habe den Konni verloren, daran ist die große Sauerei schuld. Ich habe auch den Ernst sehr gern gehabt – laß es Dir sagen, Marion: ich habe ihn noch sehr gern, jetzt, während ich dieses schreibe – und ihn habe ich auch verloren, es hängt auch mit der Sauerei zusammen, wahrscheinlich hängt mein ganzes Pech und all unser Jammer mit ihr zusammen. Vielleicht habe ich auch sehr Heimweh, aber ich glaube eigentlich nicht, daß ich so besonders stark Heimweh habe, mir liegt gar nicht soviel an Berlin und am Schwarzwald und an den deutschen Ostseebädern und an den alten Burgen am Rhein und an all dem Zeug – mir liegt wirklich gar nicht so kolossal viel daran.

Natürlich bleibt es schrecklich, wenn das Land, in dem man geboren ist und dessen Sprache man redet und an das man hunderttausend Erinnerungen hat – wenn das plötzlich zu stinken beginnt wie ein Misthaufen und auch gar nicht mehr aufhören will, so zu stinken, als fühlte es sich recht wohl in seinem eigenen Dreck.

Für Dich ist das etwas ganz anderes, Marion, Du bist ein starker Charakter, und Du kannst kämpfen, Du kannst herrlich kämpfen, es ist eine Freude, Dich kämpfen zu sehen.

Aber ich kann nicht kämpfen.

Ich kann kein Kind haben, und kämpfen kann ich eigentlich auch nicht.

Ich interessiere mich ja im Grunde gar nicht für Politik.

Einen einzelnen Menschen hätte ich glücklich machen können, und dann wäre ich wohl auch glücklich gewesen. Aber damit ist es nun nichts. Die Zeit ist nicht dazu geeignet, in ihr glücklich zu sein. Das begreife ich mehr und mehr. Es ist also nichts mit dem großen Glück, von dem wir als Kinder geträumt haben, und mit dem kleinen Glück ist es auch nichts. Nur ein großer Haufen Schmerz war für uns vorbereitet. Aber mal muß alles seine Grenze haben. Ich bin an der Grenze. Ich kann nicht mehr. Ach Marion: ich muß es Dir doch gestehen – ich freue mich sogar etwas darauf, zu sterben. Natürlich habe ich auch Angst, aber es ist eine ziemlich schöne Angst, weißt Du, ein bißchen wie die Angst vorm ersten Kuß, nur viel heftiger, aber auch viel schöner.«

Der Brief war schon sechs eng beschriebene Seiten lang. Tilly mußte ein Ende finden. Sie kaute ein wenig an dem dünnen, befleckten Federhalter, wie so viele vor ihr an ihm gekaut hatten. Dann schrieb sie noch:

»Du mußt nicht traurig sein, daß ich weggehe, Marion. Es ist nicht so besonders schade um mich. Ich sage das ganz ohne Bitterkeit. Viel wichtiger ist, daß Du lebst und so bleibst, wie Du bist. Glaube bitte nicht, daß ich das aus Bitterkeit sage! Ich bin zwar sehr traurig und furchtbar müde, und alles tut mir weh; aber ich bin gar nicht bitter. Du wirst tausend Sachen erleben, die ich nicht mehr erleben kann – oder mag. Du wirst auch sicher mal nach Deutschland zurückkommen, das wird sehr schön und aufregend sein, eine Art von großem Fest, aber auch viel Arbeit; denn Du wirst viel zu tun haben. Du hast viel auf dieser Erde zu tun, Marion. Ich habe nichts mehr auf dieser Erde zu tun – beinah nichts mehr. Deine Schwester Tilly.«

Als Nachschrift fügte sie hinzu: »Vielleicht hätte ich diesen braven Schweizer, den Peter Hürlimann, heiraten sollen. Das wäre noch ein Versuch gewesen, mich am Leben zu halten. Aber es wäre kein guter Versuch gewesen. Ich hätte ihm das nicht antun können – mit ihm zu leben, ohne ihn zu lieben. Er ist ein guter Mensch.«

Nun war auch dieser Brief fertig – der letzte. Sie steckte ihn ins Couvert. Sie schichtete die Briefe sorgsam zu einem Häufchen. Der Zettel an die Wirtin lag obenauf. Dann stand sie auf und klingelte. Zu der Wirtin, die gleich erschien – als hätte sie vor der Türe gewartet – sagte sie: »Bringen Sie mir doch bitte eine Tasse Tee, Frau Bärli.« Sie war stolz darauf, daß sie den Namen der Frau jetzt wußte. Die Wirtin erwiderte ernst: »Sicher, Fräulein.« Das »ch« in »sicher« sprach sie mit einem rauhen, langgezogenen Kehllaut.

Die Wirtin ging. Tilly setzte sich aufs Bett und wartete. Sie dachte: ›Wie müde ich bin, ehe ich noch das Veronal genommen habe‹, und sie schloß die Augen. Ihr fiel ein kleines Gebet ein, das sie als Kind, mit Marion zusammen, vor dem Zubettgehen hatte aufsagen müssen. »Müde bin ich – geh zur Ruh – schließe beide Augen zu. – Vater, laß die Augen dein – über meinem Bette sein.« Dann wußte sie nicht mehr weiter. Sie war sich auch nicht ganz sicher, ob die Zeilen mit den »Augen dein« und dem »Bette« nicht eigentlich etwas anders gelautet hatten.

Plötzlich erinnerte sie sich mit fast erschreckender Deutlichkeit eines Hauses, in dem sie als Kind jahrelang einen Tag der Woche – den Sonntag – verbracht hatte. Das Haus gehörte einer Großtante, einer Schwester von Papas Vater. Sonntagmittag versammelte sich dort ein großer Teil der Familie; man blieb bis zum Tee, an hohen Feiertagen bis zum Abendessen. Es gab gut zu essen; die Großtante mußte ziemlich reich gewesen sein. Ihr Haus war schön und geräumig. Es lag in einem weiten Garten, der umso kostbarer war, als er sich inmitten der Stadt befand. In dem Garten, so schien es Tilly jetzt, hatten immer die Vögel gesungen, und zwar auf eine sehr besondere, zugleich gedämpfte und eindringliche Art. Es war ein reizender und etwas verwunschener Garten. Nie wieder in ihrem Leben hatte Tilly einen Garten gesehen, in dem die Blumenbeete so starke, liebliche Farben hatten und wo die Brunnen so hübsch und einschläfernd rauschten. Es gab zwei Brunnen im Garten der feinen alten Großtante: eine Fontäne, die ihren schlanken Strahl in ein rundes Marmorbecken fallen ließ, und einen Brunnen, der als kleine Grotte zurechtgemacht war; hier floß das Wasser aus dem drohend aufgesperrten Maul eines riesengroßen, fetten, giftgrünen Frosches, vor dem Tilly Angst hatte. – Ganz im Hintergrund des Gartens stand ein Gerätehäuschen, angefüllt mit interessantem Gerümpel. Zwischen den alten Schubkarren, Gießkannen und Leitern versteckten die beiden kleinen Schwestern, Marion und Tilly, sich manchmal vor den Erwachsenen. Es war lustig, die großen Leute im Garten draußen schreien zu hören, während man sich in der warmen, dumpfig eingeschlossenen Luft des Schuppens aneinanderpreßte und ein Kichern unterdrückte, das einen hätte verraten können.

Vom Garten führten ein paar Stufen zur Terrasse hinauf, wo Tee getrunken und im Sommer manchmal gegessen wurde. Hier waren die Wände mit Malereien geschmückt, die nicht nur verblaßt, sondern im Begriffe schienen, völlig zu zerbröckeln. Von einem Sankt Sebastian, der die Jünglingsanmut seines Leibes in stolzer Pose den Pfeilen der Peiniger bot, war nichts übrig geblieben als ein bleicher Schatten, so als ob der Heilige allmählich seine Unsterblichkeit einbüßte und in schöner Haltung, milde und nur ein klein wenig gekränkt lächelnd, verweste.

Wie tief hatte sich dies alles eingeprägt in Tillys Gedächtnis! Mit welch schauerlich-süßer Genauigkeit stieg es nun auf, während sie in diesem kalten, trostlosen Hotelzimmer fröstelnd auf ihren Tee wartete. Sie wartete auf den Tee, in dem sie die zwanzig Veronaltabletten auflösen wollte.

Stand das schöne alte Haus der Großtante noch? Die alte Dame war wohl schon lange tot …

Von der Diele führte eine Freitreppe mit reich geschnitztem braunem Mahagonigeländer zum ersten Stockwerk hinauf. Etwa auf der Mitte der Treppe gab es einen kleinen Erker oder Balkon, von dem aus man auf die Diele mit ihren Teppichen, Gobelins und bunten Majolikakrügen schauen konnte, wie in eine dämmrige, mit freundlichen Figuren reich belebte Landschaft. Der kleine Treppenbalkon hatte ein schmiedeeisernes, mit barocken Arabesken üppig verziertes Gitter. Hinter dem Gitter saß Tilly gerne stundenlang an den Sonntagnachmittagen, um durch die krausen und phantastischen Windungen des Metalls hindurch auf die Diele zu schauen. Lange wagte sie es nicht, sich umzudrehen; denn hinter ihr stand auf seinem Postament der große, bunte, ausgestopfte Pfau. Noch schöner als die grüngoldenen Kreisaugen auf seinem langen Gefieder war die sattblaue, ins Goldene spielende Farbe seines seidig schimmernden Bauches. In Gegenwart eines Erwachsenen traute die kleine Tilly sich manchmal, diese leuchtende Pracht zu berühren. Alleine brachte sie es nicht über sich. Ihre Lust, das stolze, bunte, schweigende Tier zu liebkosen, war ungeheuer. Aber wußte man, wie das strahlende Geschöpf es aufnehmen würde? Vielleicht wäre seine Antwort ein gräßlicher, rauher Schrei, und es würde rauschend mit den Flügeln schlagen und die kleinen, schwarzen Augen böse funkeln lassen und mit dem spitzen, harten Schnabel hacken. Die kleine Tilly riskierte es lieber nicht.

Alle Gerüche in dem schönen alten Haus waren ihr gegenwärtig, wie sie nun auf ihren Todestee wartete: der Geruch der Garderobe, wo man die Mäntel abgab; der Geruch im Speisesaal, der viel zu weiträumig und pompös erschien für den runden Familientisch in der Mitte; in der dämmrigen Bibliothek, wo der Großonkel gearbeitet hatte (er war gestorben zu einer Zeit, von der Tilly nichts wußte); im großen Musiksaal, wo es gar nichts gab außer zwei Flügeln auf einem Podium und, die Wände entlang, schmale Bänke, mit blauseidenen Kissen belegt. Früher aber hatten hier die großen Feste stattgefunden, von denen die Großtante zuweilen so träumerisch berichtete, als spräche sie von märchenhaften Turnieren, deren wahren Hergang kein Lebender mehr nachprüfen konnte. Sehr eindrucksvoll und unvergeßlich war auch der Geruch in einem weiten, unbenutzten Kellerraum, der einmal als Billardzimmer gedient hatte. Die grüne Bespannung des langen Tisches war jetzt von Motten zerfressen. In den Wandschränken verwahrte die Großtante Teegebäck und Schokoladeplätzchen. Tilly liebte es, mit der alten Dame die gewundene, geheimnisvolle Treppe hinunterzusteigen, die vom Speisesaal ins Billardzimmer führte. Das kleine Mädchen war ganz versessen darauf, den Gang aus der Sphäre des Lichts in die Grabkammer der fleckigen Billardkugeln und süßen Kuchen zu tun; teils aus Naschhaftigkeit, teils aber auch, weil das Aroma der kühlen, kellerig dumpfen Luft in diesem Raum unwiderstehlichen Reiz für sie hatte.

Während die sich innig Erinnernde im geheimnisvollsten, tiefstgelegenen Raum des versunkenen Hauses weilte, klopfte es an der Tür. Tilly sagte: »Herein.« Frau Bärli präsentierte den Todestee. Tilly lächelte ihr zu: »Danke schön, Frau Bärli. Vielen Dank. – Übrigens, ich möchte morgen früh nicht gestört werden. Lassen Sie mich ausschlafen. Ich habe einen anstrengenden Tag gehabt.« – »Sicher«, sprach mit rauhem Kehllaut die Wirtin. Sie nickte ernst und zog sich langsam zurück. Tilly schloß die Augen, um nicht die Türe sich hinter ihr schließen zu sehen: hinter dem letzten Menschen, mit dem sie auf dieser Erde gesprochen hatte. Hinter dem letzten Menschen.

Als sie allein war, stieg gleich der Garten der versunkenen Kindheit wieder auf, als hätte er nur geduldig darauf gewartet, tröstlich wieder da zu sein: der verwunschene Garten mit den bunten Beeten, den Brunnen, dem Gesang der Vögel …

Tilly brauchte nicht mehr aufzustehen, um sich ihren kleinen Trank zu mischen. Die Veronaltabletten lagen ja gleich neben ihr, wie ein harmloses Toilettengerät, bei den Flacons und Tuben.

Sie ließ langsam die zwanzig Tabletten, eine nach der anderen, in die dampfende, goldbraune Flüssigkeit fallen. Dann zerstieß sie das Veronal mit dem Teelöffel. Die Flüssigkeit in der Tasse färbte sich weißlich; sie sah nun aus wie ein seltsam flockiges Süppchen.

Während Tilly die Tasse zum Munde führte, bewegte sie die dunkel geschminkten Lippen. »Müde bin ich – geh zur Ruh – schließe beide Augen …«

Ihre Lippen berührten den ziemlich dicken Rand der weißen Tasse. Das Süppchen hatte einen scharfen, bitteren Geschmack. Nicht aufgelöste Teile der Tabletten schwammen im lauwarmen Naß. Tilly schüttete den Trank schnell hinunter. Auf dem Grund der Tasse hatte sich eine breiige Substanz festgesetzt. Obwohl Tilly Brechreiz spürte, kratzte sie auch diesen Veronalrest noch mit dem Teelöffel zusammen und verschluckte ihn.

Nun war es getan.

»Vater, laß die Augen dein – gnädig, gnädig über meinem armen Lager sein …«

Am nächsten Tage gab es in dem Gasthaus, wo Tilly ihr Kind empfangen und den Todestee getrunken hatte, großen Betrieb. Ein Kegelklub beging sein zwanzigjähriges Jubiläum, der Bierkonsum war bedeutend, Frau Bärli hatte alle Hände voll zu tun, sie vergaß die Schläferin in Zimmer 7, die übrigens darum gebeten hatte, nicht geweckt zu werden. Erst am späten Abend fiel ihr ein, daß dieser Gast nicht mehr zum Vorschein gekommen war. Sie fand die Tür verschlossen; klopfte; rief, klopfte stärker; ließ endlich durch den Hausknecht aufmachen. Tilly gab kein Lebenszeichen mehr. Auf dem Schreibtisch lagen, säuberlich aufeinandergeschichtet, die Briefe. Frau Bärli weinte – mehr aus Schreck und Nervosität, als weil es ihr besonders nah gegangen wäre.

Als Peter Hürlimann erschien, war der Arzt schon da gewesen. Auch die Polizei hatte schon alles besichtigt; Peter kam spät, er war in einem Konzert gewesen, nachher in einem Café. Er war weiß im Gesicht, seine Lippen bebten, er sagte immer wieder: »Aber das kann doch nicht sein!« – »Doch«, sagte Frau Bärli, »der Arzt hat ihren Tod festgestellt. Erst vor ein paar Stunden ist sie gestorben – meint der Arzt – aber vorher muß sie schon lang bewußtlos gewesen sein. Hoffentlich hat sie nicht viel zu leiden gehabt, ich glaube es eigentlich nicht, sie sieht ja so schön und friedlich aus, wie ein Engelchen, finden Sie nicht, Herr Hürlimann, ganz wie ein Engelchen, das muß ein leichter, sanfter Tod gewesen sein, vielleicht hätte man die Ärmste doch noch retten können, wenn nur heute nicht gerade diese Wirtschaft mit dem Kegelklub gewesen wäre.«

Fassungslos stand Peter vor ihrem wächsernen Liebreiz. Wie süß und grausig sie sich schon verwandelt hatte! Wie makellos und völlig fremd sie war! »Sie ist ja ganz klein geworden«, brachte er hervor. Und immer wieder, als wäre dieses das Schlimmste und alles käme drauf an: »Ganz klein ist sie ja geworden …« Dann stampfte er auf – aus einem dumpfen, machtlosen Zorn, einem sinnlosen Aufbegehren oder nur, um des Weinens Herr zu werden. Hierüber erschrak Frau Bärli. »Das arme junge Blut …« sagte sie und beobachtete ängstlich den gedrungenen Burschen mit dem struppigen Haar. Sein gutmütiges, breites Gesicht verzerrte sich. Endlich liefen ihm die Tränen über die runden Backen.

Peter mußte zu Frau von Kammer, mit Tillys Brief. Sie erschien selber an der Wohnungstür, in einem schwarzen Négligé, das zu ihrer starren, würdevollen Miene dramatisch witwenhaft wirkte. »Herr Hürlimann?« Sie war die Dame von Welt: kühl und formvollendet. »Meine Tochter ist noch in Basel.« – »Ach nein«, sagte Peter. »Ach nein. Nicht in Basel.« Da stand er – nicht beschwingt, ach, nicht der Bote mit den Flügelschuhen, ein plumper Herold der Trauer, die braven Augen verweint, und die Zunge, die das Schreckliche sprechen sollte, schien ihm im Munde zu schwellen. In der Faust aber, die er mühsam hob, hielt er Tillys Brief. Da begriff Frau von Kammer, wußte alles; schrie auf, taumelte und langte nach dem Papier wie nach einem Halt. »Was ist geschehen?« brachte sie hervor; aber dies war wieder nur floskelhaft nach ihrer konventionellen Art. Sie empfand, bei allem Jammer: eine solche Frage war nun am Platze. Ach, sie wußte ja, was geschehen war.

Den Brief in der Hand, stand sie dem Unglücksboten gegenüber – nun wieder starr, den Mund geöffnet zu einem Jammerlaut, der stumm blieb. Der klagend aufgerissene Mund – schwarze Öffnung in der weißen Starrheit der entstellten Miene – gab dem Antlitz der Mutter das Aussehen einer tragischen Maske. Peter erinnerte sich, daß Tilly, wenn sie sehr traurig und sehr betroffen war, auf ganz ähnliche Art den Mund geöffnet hatte. Vom Schmerze geschlagen wie von einer Faust, glich Frau von Kammer zum ersten Mal ihrer Tochter.

»Kommen Sie!« bat sie heiser – denn sie und der Unglücksbote standen immer noch vor der offenen Türe der Wohnung. Und sie zerrte den jungen Mann, der Tilly geliebt hatte, mit einer Gebärde, die durch ihre Heftigkeit fast unzüchtig wirkte, in den dämmrigen Flur.

Tilly ist tot, niemand kann ihr mehr helfen, niemand hat ihr helfen können, als sie noch umherging oder an der Schreibmaschine saß und Schmerzen litt und sich Sorgen machte, wegen der Polizei, wegen des verschollenen Geliebten, wegen des Kindes, das sie nicht bekommen wollte. Tilly ist wächsern verklärt, schaurig verzaubert, und übrigens unheimlich klein geworden – eine kleine Leiche, wie eine Kinderleiche sieht sie aus. Unnahbar und hold, den Lebenden ganz entfremdet, schläft ihr kindliches, streng gewordenes Antlitz zwischen den weißen Rosen. Die Augen, die soviel Tränen vergießen mußten, geruhen nicht mehr hinzuschauen, da nun die anderen weinen. Denn jetzt wird reichlich geweint.

Schluchzend sitzen die alten Ottingers in ihrer stattlichen guten Stube; sie haben das kleine Fräulein von Kammer gern gehabt wie ein Töchterchen. Herrn Ottingers Werk, die »Lebensbeichte eines Eidgenossen«, ist fast abgeschlossen – »und das letzte Kapitel kann ich ihr nicht mehr diktieren!« jammert der alte Herr. – Peter Hürlimann weint, vor Kummer, aber auch aus Reue. ›Ich hätte sie heiraten sollen! Warum habe ich es nicht getan?! Aus lauter dummer Vorsicht und Ängstlichkeit! Weil ich erst mein festes Einkommen haben wollte! Ach, ich Narr! Sie wäre zu retten gewesen. Ich hätte eine gute Schweizerin aus ihr gemacht; sie hatte das Zeug, eine brave Bürgerin unseres Landes zu werden.‹ – Peter Hürlimann ist kein maßloser Patriot oder hat sich doch Gefühle solcher Art niemals eingestanden. Nun aber, da Tilly tot ist, empfindet er: ›Ich hätte eine gute Schweizerin aus ihr machen können.‹ Denn er liebt sein Land, er ist stolz auf die Heimat. Es ist ein freies, gutes, redliches Land, Tilly hätte hier glücklich sein können, sie hat ja kein eigenes Land mehr gehabt – ach, es muß weh tun, ohne Heimat zu leben, auf die Dauer hält es wohl niemand aus. – So denkt Peter, schmerzlich bewegten Herzens, und er schwört sich: ›Ich würde mein Land tapfer verteidigen, wenn es zum Äußersten kommt. Solange aber Friede ist, will ich schöne Musik machen, zu Ehren der Schweiz; gediegene und doch kühne Musik, die der kleinen Schweiz große Ehre machen soll in der Welt. Und auch zur Erinnerung an Tilly soll sie klingen, die schöne Musik, die ich machen will. Das wird niemand wissen; aber ich weiß es: daß alles, was ich von jetzt ab mache, im Gedanken an sie geschrieben ist, und zu ihrem Gedenken.‹

Wenn jemand genug hat und Abschied nimmt, weinen die, so zurückbleiben. Warum weinen sie denn? Wird dieser Mensch, der weggegangen ist, ihnen wirklich so fehlen? – Sie werden ihn bald vergessen: dies ahnen sie wohl, und deshalb vergießen sie Tränen. Auch sind sie traurig, weil sie noch ein wenig weiterleben müssen. Wenn von uns einer erlöst und frei geworden ist, wird es den Zurückbleibenden, den Noch-zum-Leben-Verdammten ein paar Minuten lang schreckhaft klar, was unser Dasein auf diesem Stern bedeutet. Es ist Fluch und Jammer von Anbeginn. Aus Blut und Tränen sind die Spuren, die wir hinter uns lassen; von Blut und Tränen ist das Gesicht des Menschen besudelt: das jammervolle Antlitz der Sterblichen ist an Augen und Lippen, auf Stirne und Wangen mit Blut und Tränen beschmiert. Denn wir werden in Schmerzen geboren, und wir gehen hin unter Qualen. Dazwischen aber ist große Traurigkeit und ein langes Entbehren. Auf unseren Mienen stehen die Zeichen des Fluches. Mit Blut und Tränen suchen wir sie abzuwaschen; aber das Zeichen bleibt. – Wir meinen, fliehen zu können, indem wir sterben. Vielleicht ist auch dies noch ein Irrtum, und wir sind fester gebunden, als unsere Unwissenheit es annehmen möchte. Sind uns neue Zustände der Verdammnis vorbehalten, wenn wir uns von diesem frei gemacht haben? Findet unsere Gier nach dem Nichts sich enttäuscht, noch im Tode? Erwarten uns andere Formen der Existenz? Setzt der Fluch sich fort? Geht es weiter? – Wir wissen es nicht, tun auch besser daran, nicht zu dringlich zu fragen. Tilly weiß es. Die wächsern Verklärte hat keine Zweifel mehr. Hingegen schluchzen einige andere, die zurückgeblieben sind; sie legen das Gesicht in die Hände, lassen Tränen durch die Finger rinnen oder in ein kleines Taschentuch. Sie bekommen rote, etwas schmerzende Augen; ihr Mund verzerrt sich wie bei kleinen Kindern; vielleicht werfen sie auch die Arme in die Höhe, gleich Schauspielern auf einer Bühne, bewegen tragisch die Häupter und rufen Worte mit ihren dummen, schweren, irdischen Stimmen: »Warum hast du uns das getan, liebe Schwester? Weshalb mußte dies sein, süße Braut? Wehe, wehe – warum bist du fortgegangen? Du hast dich aus dem Staube gemacht, das war unfair; denn wir sind noch hier. Als hätten wir nicht schon genügend Anlaß zum Weinen gehabt, gibst du uns noch einen neuen – du Schlimme! Du Leichtsinnige! Du Leichtfüßige! Springst uns, mir nichts dir nichts, auf und davon! Hinterläßt ein paar Briefe – meinst wohl, damit sei alles getan – und wir haben das Nachsehen; wir starren hinter dir drein … O Pfui und Wehe! Wir haben dich doch geliebt, und nun spielst du uns solche Streiche! Wir schleppen uns dahin, und du flatterst: welche Ungerechtigkeit! Du wurdest klein und hold, eine wächserne Puppe; wir aber sind dick und schwer und voll Flüssigkeit, gar nicht vornehm; müssen trinken und essen, schlafen und sprechen, weinen und bluten, Blut und Tränen vergießen – und du bist ausgetrocknet, eine reizende Mumie. O Pfui und Wehe über dich, unsere kleine Gespielin, kleine Leidensgefährtin, kleine Gefährtin der Freuden – wie konntest du unsere Gemeinschaft nur so verraten! Wir gehörten zueinander, und nun hast du dich so fürchterlich distanziert!«

Ein Bursche namens Ernst, Vagabund und Berliner Schupomann außer Dienst, der eine Nacht mit Tilly geschlafen hatte und dann von der Polizei abgeholt worden war, weinte nicht oder doch nicht über den Tod seiner Geliebten; denn er wußte nicht, daß sie gestorben war. Er trieb sich irgendwo auf den Landstraßen von Finnland umher und bekam keine Post. Im Laufe der letzten Monate war er aus sechs Ländern ausgewiesen worden und hatte sechs Grenzen ohne gültige Ausweispapiere zu nächtlicher Stunde überschritten. Das Problem, wo er etwas zu essen und ein Bett für die nächste Nacht finden könne, beschäftigte ihn weit mehr als der Gedanke an das kleine Mädchen mit den schrägen Augen und dem schlampigen Mund, der er ein Kind gemacht hatte – was er übrigens auch nicht wußte. Wenn Ernst also weinte, dann geschah es aus Hunger oder Müdigkeit oder aus allgemeinem Ekel vor der Welt, nicht aus Gram über Tilly.

Hingegen saßen, die Köpfe nah beieinander über Kinderbildern der Toten, Frau von Kammer und Marion; ihre Tränen benetzten die alten, steifen Photographien. »Sieh dir diese Aufnahme an!« rief die Mutter. »Wie sie da lacht! Und diese Grübchen in ihren Backen! Sie ist reizend gewesen – von euch allen die Hübscheste: findest du nicht?« – »Ja, Mama«, sagte Marion, »von uns allen die Hübscheste!« – »Aber auf diesem Bild muß sie mindestens schon zwölf Jahre alt sein.« Welche Zärtlichkeit, wieviel wehmutsvolles Entzücken in Frau von Kammers Stimme, die sonst so scharf und trocken geklungen hat. »Wie schmal ihr Gesicht damals war!« Und die Mutter erinnerte sich: »Sie hatte eine schwere Grippe hinter sich. Ihr hattet alle die Grippe, aber bei ihr trat sie am schwersten auf. Das Fieber war schrecklich hoch, ich dachte, sie müßte sterben … Mein Gott, ich weiß noch, wie ich sie nachts in mein Bett holte, weil sie in ihrem eigenen nicht schlafen konnte …« – »Ja, Mama«, sagte Marion wieder, und ihre Finger klammerten sich plötzlich um die Photographie, als ob sie sie in Stücke reißen wollten. »Was machst du?« fragte die Mutter. »Du zerreißt ja das Bild!« Da ließ Marion den Kopf nach vorne sinken, fassungslos – und während die Bilder aus ihren Händen zur Erde glitten, stöhnte sie auf: »O Mutter, Mutter – ich kann nicht mehr – ich will nicht mehr – ich mag nicht mehr leben …«

Die Mutter nahm zwischen ihre Hände Marions tränennasses Gesicht. »Sprich nicht so! Sei still! Weine! Sage nicht solche Dinge – bitte nicht! Denke nicht solche Sachen! Sei still!« – Welche Veränderung war vorgegangen mit Frau von Kammer, der geborenen von Seydewitz? Wohin waren ihre Haltung, die adlige Reserviertheit, die starre Form? Der Schmerz hatte ihr Antlitz weich gemacht und es menschlich belebt; auch jünger schien es geworden. Wann waren Mutter und Tochter sich je so nahe gewesen? – Noch niemals. Großes Leid mußte kommen und eine Erschütterung, von der das Herz sich nicht mehr erholt, damit sie einander schluchzend in die Arme sanken.

Schluchzend und eng beisammen saßen sie, als Susanne eintrat – das jüngste Fräulein von Kammer; sie war aus dem smarten Mädcheninstitut herbeigereist, um der Bestattung ihrer Schwester Tilly beizuwohnen. Da stand sie nun, eine veritable von Seydewitz: hoch aufgeschossen, sportlich trainiert, immer noch etwas zu mager. Das braun gebrannte, straffe Gesicht wäre hübsch gewesen ohne den mürrischen Ausdruck und jene ein wenig bitteren Falten, von denen die Mundwinkel abwärts gezogen wurden. Das dünne, aschblonde Haar trug sie, wie als kleines Mädchen, zu steifen Zöpfen frisiert, von denen man den Eindruck bekam, daß sie hart und kühl anzufühlen sein müßten, wie Metall. Sie schaute streng aus wasserblauen Augen; ihr Blick drückte Tadel aus, über das unpassende Halbdunkel in der Stube, und weil die beiden Damen auf dem Kanapee in so inniger Pose beieinander saßen. »Was treibt ihr denn da?« fragte die junge Susanne scharf – als hätte sie Mutter und Schwester bei etwas Unanständigem ertappt. »Es ist ja stockfinster. Ihr könnt gar nichts mehr sehen.«

Marion und die Mutter wandten langsam die Köpfe, ohne sich aus ihrer Umarmung zu lösen. Hinter ihnen stand die junge Susanne – drohend aufgerichtet in der offenen Tür, blank und hart beschienen vom Licht, kühl und ehrgeizig, nicht sehr intelligent, eine Fremde, das Kind einer fremden Zeit.

Klaus Mann - Das literarische Werk

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