Читать книгу Klaus Mann - Das literarische Werk - Клаус Манн - Страница 20
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ОглавлениеDie Freunde in Paris überlegten sich: Wo ist Kikjou? Niemand kannte seinen Aufenthalt. In Wahrheit wußte er selber kaum, wo er sich befand – so sehr war er der Welt abhanden gekommen.
Er wohnte irgendwo auf dem Lande. Gehörte dieses triste Dorf noch zu Frankreich? Oder war er weiter, bis nach Belgien, nach Holland gefahren? Er verließ sein Zimmer fast nie; es war kahl und eng, eine Zelle. Morgens ging er zur Kirche und beichtete. »Ich habe gesündigt – immer nur gesündigt … Ich muß furchtbar büßen …« Der fromme Vater wollte Einzelheiten. »Was hast du Böses getan, lieber Sohn?« – »Nur Böses, mein Vater, nur Böses! Ich habe nicht genug geliebt. Ich habe einen Menschen getötet – oder bin doch mitschuldig an seinem Tode. Den schwarzen Mächten habe ich ihn überlassen, weil es meine Neugier reizte und mich scheußlich lüstern machte, seine Verzauberung, seinen Verfall und Absturz zu beobachten. Es gibt keine Sünde, die ich nicht begangen hätte. Ich muß furchtbar büßen …« – »Das überlasse mir!« Der fromme Vater unterbrach ihn nicht ohne Strenge. Er fügte sanfter hinzu: »Du verwirrst dich! Was du sprichst, scheint phantastisch – auch klingt es nach Prahlerei. Es gibt eine Manier, sich selbst anzuklagen, welche an Prahlerei grenzt. Beichte deine Sünden der Reihe nach: dies kann ich dir nicht ersparen! Übertreibe sie nicht ins Maßlose – was nur eine andere Form ist, sie zu verkleinern und zu verwischen. Sei bescheidener! Der Teufel des Hochmutes sitzt dir im Leibe – wenngleich du erst wie ein Zerknirschter wirkst.« – »Ich will ins Kloster gehen«, brachte der Sünder hervor. »Ich will der Welt entsagen … mein Leben ganz dem Dienst des Herrn weihen …« Auf diese neue Unbescheidenheit hatte der Priester keine Antwort. Vielmehr bestimmte er trocken: »Komme morgen wieder! Heute bist du nicht in der Verfassung, eine ordentliche Beichte abzulegen. Gehe in dich! Bete! Sammle deine Gedanken! Komm morgen wieder!«
Draußen schien es schon beinah Winter geworden. Das öd gebreitete Land verhüllte sich düster. Ein schwarzgrauer Himmel senkte sich betrübt zu den nassen Feldern. Auf den Wiesen, Pfaden und Büschen schmolz ein dünner, mißfarbener Schnee.
Kikjou fror in seiner Kammer, er dachte: ›Die alte Patronne – diese verfluchte Hexe – sie könnte besser einheizen …‹ Aber dann beschloß er: ›Nein, ich beschwere mich nicht; es ist besser so. In einer Klosterzelle wird es auch nicht komfortabler sein. Mit nackten Füßen will ich über diesen eisigen Steinboden gehen – und wenn ich mir eine Erkältung hole, was tut’s? Ich muß büßen … Beten will ich und in mich gehen; der Priester hat recht: mir sitzt der Teufel des Hochmuts noch im Leibe. Herr Jesus, du kennst alle meine Sünden! Dein Gesicht ist menschlich – als des Menschen Sohn hast du unter uns gelebt und gelitten; du bist auch mit den Sünden der Menschen vertraut. Mein Herr Jesus – vor deinem Jammerbilde sink’ ich hin. Erbarme dich meiner! Habe Mitleid! Ayez pitié de moi, Seigneur! Christ – ayez pitié de nous!‹
Knie nieder, Kikjou – der Fußboden ist kalt, in deinem Herzen aber rasen Feuerbrände. Knie hin, Knabe, halte still, sei geduldig! Lege dein kindliches, viel zu hübsches Gesicht in die Hände – dies erst ist die Stunde deiner Konfession. Dein Erlöser selbst, starr gereckt in seiner Leidenspose, hört dir zu. Siehe – sein Haupt voll Blut und Wunden ist ein wenig seitlich geglitten; seine Lippen haben sich geöffnet – du weißt es: er leidet Durst – sein brechendes Auge aber prüft deine Gestalt, die sich vor ihn hingekauert hat. Wie aufmerksam schaut dein Erlöser unter dem schaurigen Putz der Dornenkrone! Vor ihm kannst du nichts verbergen – des Menschen Sohn ist sehr klug. Keine Ausflüchte mehr, Kikjou, keine pathetischen Verallgemeinerungen! Schon dem frommen Vater im Beichtstuhl ist es äußerst peinlich aufgefallen, daß du es vermiedest, detailliert zu bekennen; dein Erlöser aber würde dir solche Flausen keinesfalls durchgehen lassen. Des Menschen Sohn ist sehr anspruchsvoll – gib das Äußerste, Knabe, deine ganze Wahrheit, sonst wendet er den Blick von dir ab, und es wird ihm langweilig, dir zuzuhören. Er ist durch alles Leid der irdischen Sphäre gegangen, hat auch die Schauder der Unterwelt gekostet, und als er schließlich auffuhr gen Himmel, kam ein harter Glanz von seinem Angesicht – ein bewegtes Leuchten, wie von ungeheurer Flamme, so daß es denen, die schauten, nicht nur wohltat, sondern sie auch blendete. Die Blicke, mit denen er Abschied nahm, waren unfaßbar milde und unfaßbar streng.
Unfaßbar milde und unfaßbar streng mustert dich nun sein Blick – Knabe, der du zu beten versuchst! Strenge deine Erinnerung an! Sei nicht zimperlich, sei nicht träge! Denke an alles, was du falsch gemacht hast – es ist reichlich viel! Nimm dir Zeit! Übereile nichts! Sei umständlich! Sei exakt! Rühre dich nicht, wenngleich dir die Knie schon wehtun! Eine ganz enthüllte Seele will dein Erlöser sehen. Er kennt dich – ach, wie er dich kennt! Deine Verspieltheit; deine etwas feminine Tücke, die sich hinter frommen Redereien verbirgt; deine Eitelkeit; deinen Mangel an Energie; deine tierische Geilheit – wie war das mit dem jungen Engländer im »Boeuf sur le Toit«? Weh dir – und mit dem Araberjungen in Tunis – wehe, wehe! – und mit dem Piccolo in Lausanne, und mit dem kleinen weißen Hündchen bei deinem Onkel? O pfui über dich, du Stück Dreck und Laster, du Abhub, du hündisch-sündiges Gewächs! Gestehe! Bekenne! Parasit du – niemals hast du richtig arbeiten können; dein Vater in Rio – seinerseits freilich ein Menschenschinder, Wüstling ersten Ranges – hatte allen Anlaß, mißzufrieden mit dir zu sein. Tugendhaft warst du immer nur im falschen Moment, zum Beispiel, als du Martin alleine ließest mit der chose infernale; zunächst aber hattest du ihn zu seinen Exzessen eher ermutigt, auf deine hinterhältige Art. Als es zu spät war, irrtest du durch die Straßen: »Il n’est nulle part … il n’est nulle part …« Denn nun warst du es, der sich einsam fand.
Armer kleiner Kikjou, Sünder auf den Knien – siehe, unfaßbar milde streifen dich Blick und Lächeln dessen, der dein Erlöser ist. Nicht nur über alle deine Schlechtigkeiten, großen und geringen Infamien weiß er so genauen Bescheid. Er vergißt nicht, was du ausgestanden hast. Er kennt deine Einsamkeit, deine geistigen Qualen, deine Ratlosigkeit, deine Verwirrtheit, deine Zärtlichkeit, alle Anstrengungen, Aufschwünge, Enttäuschungen deines empfindlichen Herzens. Er ist den Menschen nicht fremd – und du bist nur einer von ihnen, nicht schlimmer als die anderen; wohl auch kaum viel besser – ein Mensch, armer kleiner Kikjou, ein Menschensohn, auch du – halte deine Stirne dem Erlöser hin! Er verzeiht dir vielleicht; denn über deine Wangen fließen menschliche Tränen. Auch du trägst dein Kreuz, kniendes Kind auf dem kalten Boden, und deine Schultern schmerzen unter seiner Last.
Wieviel Zeit vergeht, während du betest? Stunden, und es wird Nacht. Die Patronne tritt ein, sie bringt Schüsseln – das ist dein Abendessen – sieht es nicht ganz appetitlich aus? Aber du schaust kaum hin. Nicht essen und trinken jetzt! Es ist die Stunde der Konfession.
Vielleicht hast du später ein klein wenig geschlafen – sicher nicht mehr als zwei oder drei Stunden lang, dein Erlöser verzeiht es dir. Der Morgen aber findet dich wieder vor dem Kruzifix, wieder kniend, und das petit déjeuner rührst du nicht an. Auch da es Mittag wird, magst du dich nicht erheben. Früh kommt die Dämmerung in diesen Tagen zwischen Herbst und Winter. Deine Knie sind wund – spürst du es nicht? Hast du nicht Schmerzen in allen Gliedern? Auf einen Fremden, der nun plötzlich ins Zimmer träte, müßtest du nun fast beängstigend wirken; du zeigst die Miene eines höchst Verzückten.
Was erwartet dein verzücktes Herz? Es erwartet nichts mehr; denn es ist glücklich. So voll Helligkeit bist du in deinem Inneren, daß du den Lichtschein gar nicht gleich bemerkst, der jetzt weiß durch deine Zelle weht. Ein Geräusch läßt dich aufschauen. Du bist kaum erstaunt, da du den Engel gewahrst.
Er steht hinter dir und bewegt unruhig die Flügel, wodurch das metallische Klirren verursacht wird. Es ist wie ein nervöser Tick; dabei aber sehr großartig. Der Engel muß die großen Flügel regen, als käme er sonst aus der Übung und würde das Fliegen verlernen – ganz ähnlich wie ein Rekordschwimmer oder Radfahrer, der auch aus der Form geriete, wenn er nicht immer trainierte.
Dies ist das Wunder – da du am wenigsten mit ihm gerechnet hattest, ist es plötzlich da. Du empfindest kaum, daß es ein Wunder ist. Ein Engel ist an dich herangetreten, daran kann kein Zweifel sein. Wenn es nicht das Flügelpaar an seinen Schultern bezeugte, so verriete es sein ungeheurer, lächelnder Blick und der sehr besondere Geruch, den er ausströmt – ein Geruch nach Mandelblüten und einem feinen Benzin. Ja, es muß eine Benzinsorte geben, von so erlesener Qualität wie das kräftig-zarte Parfüm dieses Engels. Seine glanzumflossene Figur läßt, auf geheimnisvolle Weise, an ein starkes, elegantes Fahrzeug denken – an ein schnittiges Automobil oder ein flottes Motorboot. Der befiederte Jüngling ist groß und schlank; sein Gesicht mit dem übermäßig leuchtenden Blick hat die überanstrengte Magerkeit, wie man sie bei Sportsleuten findet. – ›Wie geschwind er ist!‹ denkt Kikjou, und dies ist das erste, was er denken kann.
Der Engel bewegt sich – großer Vogel, der auffliegen möchte; dem der irdische Aufenthalt nicht behagt. – »Komm!« ruft der Engel mit einer tiefen, nicht sehr melodischen, etwas brummenden Stimme. »Komm, Knabe!« – Kikjou, in seinem Trancezustand vor dem Kruzifix, scheint diese Worte nicht recht ernst zu nehmen. Deshalb wiederholt sie der Himmlische Bote, wobei er stärker mit den Flügeln rasselt: »Komm, Knabe! Komm!« – »Wohin?« erkundigt sich Kikjou und wendet sich, um seinen Gast genauer zu betrachten. Der Engel hebt langsam, mit schöner, runder Geste den Arm; zwei lässig und majestätisch erhobene Finger weisen zum Fenster, hinter dem der Schnee fällt. »Komm, komm! So komm doch!« Es klingt mehr mahnend als lockend. Er schüttelt das Haar, und die Duftwolke wird intensiver, als niste das Parfüm von Mandelblüten und sehr feinem Benzin vor allem in seinen Locken.
Sein Haar ist fast wie eine Mähne – ›eine Löwenmähne‹, stellt Kikjou fest – sehr lockig und üppig, wohl auch widerspenstig; wenn nicht ein schmales Silberband es zusammenhielte, würde es wie ein barocker Glorienschein um dieses sportlich harte Jünglingsgesicht wehen und flattern. Das Silberband hält es halbwegs in Ordnung. Trotzdem bleibt es eine erschreckende chevelure – purpurne Fülle, durch die goldene Lichter zucken. Kikjou konstatiert eine gewisse Ähnlichkeit mit Marions Haar – das freilich nur eine dezente Purpurnuance zeigt, während das Gelock des Engels schamlos flammt: blutrotes Feuer über der harten Stirn.
Die exzentrische Pracht solcher Kopfbedeckung kontrastiert seltsam zu dem schmucklosen Anzug des Engels. Er trägt eine Art von eng anliegendem Overall aus festem, silbergrauem Gewebe, sehr einfach geschnitten, Hose und Jackett in einem Stück. Ähnlich findet man junge Leute gekleidet, die in einer Garage arbeiten. Da der Stoff von seinem erhobenen Arm etwas zurückfällt, wird, am Handgelenk, ein breiter, heller Lederriemen sichtbar – Schmuck oder Stütze für die magere, sehnige Hand, deren Finger zum Fenster deuten. – Kikjou würde gerne herausbekommen, wie an dem Overall die Flügel befestigt sind; der Engel aber zeigt ihm nicht seinen Rücken. – »Komm! Komm!« mahnt er wieder, und die trippelnden Schritte, die er tut, sind schon Vorbereitung zum Flug – er fliegt schon fast, er wird immer leichter, um ihn weht heftiger der weiße Glanz. – »Aber es schneit doch draußen!« Kikjou versucht es, wieder einmal, mit törichten kleinen Ausflüchten. Er schielt feige zum Fenster; denn er ahnt ja: dort hinaus geht die Fahrt … Wirklich ist die Luft vom weißen Schneefall erfüllt. Langsam schweben die kristallischen Flocken. Der Winter ist da, der Schnee – ach bitte, lieber Engel – nicht hinaus in die Kälte! Nicht in den bösen Winter hinaus!
Die sinnlose Bemerkung über das Schneien hätte Kikjou vermeiden sollen; denn nun ist die Geduld des Engels erschöpft. Er läßt seine Stimme hören, welche grauenhaft brummt: »Unsinn! Sei still! Das ist Unsinn!« Und ehe der zurechtgewiesene Knabe sich von seinem Schrecken erholen kann, hat der Engel sich sehr gräßlich verwandelt. Er flattert, er hebt sich, saust und kracht; er wird zum Bienenschwarm, wird zur eisigen Wolke, zur Flamme; er löst sich auf, sammelt sich wieder; scheint ein Raubvogel, der über Kikjou kreist; ein Flugzeug, surrend, mit starren Flügeln; ein Monstrum ohnegleichen ist der schlanke Jüngling geworden; auf den Knaben stürzt er sich, wie ein Habicht auf das zitternde Lamm – wie Zeus, in einen Vogel verwandelt, sich auf Ganymed stürzt, so umklammert das himmlische Ungetüm mit furchtbar bewegten, furchtbar harten Gliedern den Kikjou. Hinaus in den Schnee! Hinaus in die Nacht! – keine Barmherzigkeit kennt der Engel. Er selbst ist Schneesturm geworden, rasendes Element; seine Umarmung ist teuflisch, ist himmlisch, ist viel zu stark; überwältigend sind die Geräusche, die er hören läßt; Motorenlärm, holde Sphärenmusik, Raubvogelgeheul, Stöhnen der Liebenden, gellendes Hohngelächter, tiefe, klagende Menschenstimme – alles in Einem, betäubende Melodie.
Komm, komm, Kikjou – durchs Fenster hinaus, durch das Glas hindurch, in die Nacht, in den Schnee, ins Weiße, ins Ungeheure! Fliege hin, sause über die Länder, man hat dir ein Fahrzeug erster Klasse zur Verfügung gestellt, schauerlich und wohlig ruhst du in den Armen deines süßen, rasenden, monströsen Engels. Hören und Sehen vergehen dir, du klammerst dich an seinen stählernen Nacken, er redet dir freundlich zu – mit Vogelstimme, Menschenstimme, Engelstimme. »Keine Angst … keine Angst … Der Schnee hört auf … Wir sind gleich am Ziel, und du wirst erwartet … Ton grand frère t’attend … Le voilà … Tu le reconnais …? Le voilà … Le voilà …«
Kikjou, le petit frère de Marcel, schlägt die Augen auf. Neben ihm steht der Engel, kaum erschöpft von der Fahrt; wieder in seinem Overall, mit dem Silberbändchen in der Purpurmähne. Er legt den Zeigefinger an die lächelnden Lippen: Sei still jetzt, man sieht uns nicht, wir sind unsichtbar, du und ich – unsichtbar, Kikjou und sein geschwinder Engel …
Wo sind wir? – Wir sind in Spanien, am Rande der Stadt Madrid, in der Universität, der Ciudad Universitaria. Dies muß ein Hörsaal gewesen sein; auf dem Fußboden liegen zerfetzte Kolleghefte, leere Tintenfässer, zertretene Bleistifte und Federhalter. Vor den leeren Fensterhöhlen aber sind Barrikaden oder Schießscharten aufgebaut, aus Büchern und zerschlagenen Bänken. Es ist kalt – noch kälter als in Kikjous mönchischer Zelle; der steinerne Boden atmet eisige Feuchtigkeit. Draußen wird geschossen; das Geknatter der Maschinengewehre hört nicht auf. Ein Maschinengewehr steht auch hier, auf einem der improvisierten Hügel aus Papier und Holz. Im Augenblick ist niemand da, um es zu bedienen. Von den drei Personen im Raum scheint eine ganz entschieden außer Gefecht gesetzt; die beiden anderen sind um ihn bemüht – eine Frau und ein junger Mann.
Nun erst erkennt der unsichtbare Kikjou den Verwundeten: es ist Marcel, son grand frère, sein Gesicht ist von Blut und Tränen entstellt – übrigens auch vom stark gewordenen Bart verändert. Er hat die rechte Hand ans Herz gepreßt, unter einem graugrünen, dicken Hemd sickert Blut hervor, er ist in die Brust getroffen – ins Herz getroffen ist Marcel, er stirbt. – ›Wie weiß seine Lippen sind!‹ Kikjou möchte zu ihm hin, ihn anfassen, ihn liebkosen; aber er ist ja zur Unsichtbarkeit verurteilt wie zu einer Strafe; er ist der Gefangene des Engels, dessen Zorn man nicht reizen darf – sonst wird er ein Bienenschwarm und ein Sturmwind und ein rasendes Element.
Marcel sagt: »Merde alors!« und versucht zu lächeln – liebenswürdig bis zum Schluß, verführerisch noch am Ende. Aber sein Mund, der soviel Worte gesprochen hat, kann nur noch zucken. Seine Lippen, von denen Blasphemien kamen und Liebesworte, Flüche und Zärtlichkeiten und immer wieder Worte – nun werden sie lahm und steif. Die Hände machen ein paar kleine Bewegungen; hilflose, flatternde Gesten – was sollen sie bedeuten? Wohin weisen sie? Welchen Sinn hat diese Pantomime des Sterbenden? Und in welche Fernen schweift nun der Blick seiner wunderbar aufgerissenen, kindlichen, unergründlichen Augen – dieser trauernden, wilden Sterne unter den kühnen Bögen der Brauen? Erkennen sie den Engel, der ihm gegenübersteht und nun seinerseits Zeichen macht – tröstliche, sanfte Winke mit den zwei erhobenen Fingern der rechten Hand? Erkennen sie Kikjou? Oder sehen sie gar nichts mehr? Denn nun werden sie glasig. – In einem Hörsaal der zerschossenen Universität von Madrid stirbt Marcel Poiret, ein Soldat. Er wollte das Opfer bringen; er hat sich geopfert. Er wollte Blut vergießen; aus einer kleinen Wunde über dem Herzen sickert sein Blut. Er war müde der Worte, gierig nach Taten und Leiden; er hat gehandelt, hat gekämpft, hat gelitten – er schweigt. Viele haben in diesem zerschossenen Gemäuer gekämpft und gelitten wie er; viele sind hier gestorben: hier und überall in diesem kämpfenden Lande. Er ist einer von Tausenden, von Zehntausenden – Marcel Poiret, ein Soldat – er gehört zum Ganzen, zum Kollektiv: dies hat er sich immer gewünscht, es ist seine Sehnsucht gewesen, erst im Tode soll sie sich erfüllen.
Kikjou, der Gefangene seines Engels, darf nicht hin, die Augen seines Freundes, seines großen Bruders zu schließen. Es ist eine spanische Arbeiterfrau, die dem Fremden diesen letzten Dienst erweist, und es ist ein deutscher Soldat, der dabeisteht und weint. Kikjou, in seiner Verzauberung, kann nicht weinen. Die spanische Frau hat ein großes, ernstes Gesicht mit tief eingegrabenen, schweren, etwas hängenden Zügen; der ganze Schmerz ihres Landes scheint versammelt auf ihrer Stirn. Man nennt sie die Pasionaria; sie hat harte, abgearbeitete Finger – aber mit welcher Zartheit berühren sie nun die Augenlider des toten Soldaten!
Der deutsche Kamerad holt ein großes, bunt kariertes Taschentuch hervor, um sich die Augen zu trocknen. Er schnauft heftig; dann schimpft er: »Verfluchte Scheißbande! Das ist wahrscheinlich wieder so ein verdammter Nazi gewesen, der diese Kugel geschickt hat – oder ein Italiener im schwarzen Hemd oder so ein blöder Araber, der gar nicht weiß, auf wen er eigentlich schießt! Und immer die Besten müssen es sein, die sie treffen – immer die feinsten Kerle! War so ein feiner Kerl, dieser Marcel – un bon copain, wie er es genannt hätte … Verflucht noch mal! Immer die Besten!« – Die Pasionaria versteht kein Wort; aber sie nickt. Sie nickt dem toten Franzosen zu und dem lebenden, weinenden, schimpfenden Deutschen – den zwei Kameraden. Der Deutsche hat kurz geschorene, dunkle Haare auf einem runden Schädel und etwas kugelig hervortretende, kluge, sympathische Augen. Es ist Hans Schütte: ein tapferer, zuverlässiger Bursche, sehr beliebt bei den Spaniern und bei den Kameraden von der Internationalen Brigade. Man hat ihn zum »Politkommissar« gemacht – eine verantwortungsvolle, wichtige Stellung; als eine Art von Verbindungsmann zwischen den Offizieren und den Soldaten muß er die Befehle erläutern und erklären, warum sie so und nicht anders sind; er muß sich um die einzelnen kümmern und sich ihre Sorgen erzählen lassen und ihnen gut zureden, wenn ihnen etwas nicht paßt; er hat viel zu tun und ist immer in der vordersten Linie. Auch dem Marcel Poiret ist ein solcher Posten angeboten worden, für den man gern »gebildete Leute« verwendet. Marcel aber hat abgelehnt. Er wollte einer sein unter vielen, zum Ganzen gehören, zum Kollektiv; nicht mehr auffallen, nicht mehr herausfallen; leiden und kämpfen mit den anderen; mit den anderen sterben.
Die Pasionaria ist fortgegangen; der Politkommissar Hans Schütte bleibt noch ein paar Minuten lang stehen bei seinem toten copain, dessen Sprache er kaum verstanden hat und mit dem er sich doch so gut verständigen konnte. ›Große Scheiße!‹ denkt der Deutsche – und Kikjou, an seinen Engel geschmiegt, begreift die Gedanken des Fremden. ›Große Scheiße! So ein feiner Kerl … Hat sich das nun gelohnt, daß er hier draufgegangen ist wie ein Hund? Hätte vielleicht noch gute Sachen schreiben können; hatte sicher eine Menge Grips im Kopf. Ich habe ja nichts von dem kapiert, was er mit seinen französischen Freunden geschwätzt hat; aber seinen Augen war doch anzusehen, daß er die richtigen Dinge gesagt hat, und schöne Dinge … Himmel Herrgott noch mal – hatte der Kerl großartige Augen. Nun ist er hin. Ist ein Sinn dabei …? Natürlich ist ein Sinn dabei. Der hat schon gewußt, warum er hergekommen ist und hier mit uns gekämpft hat und sich hat totschießen lassen von den verfluchten Faschisten. In Paris hat er wahrscheinlich so für sich gelebt – so ein begabter Einzelner, was kann der schon machen? Und als es dann hier losging, hat er sich gedacht: da muß ich dabei sein, das ist die große Gelegenheit, da muß ich alles aufs Spiel setzen – genau so, wie ich mir’s auch gedacht habe. Und wir haben ja hier was geleistet – wir, alle zusammen! Wir haben Madrid gehalten: tolle Sache das, wenn man es recht bedenkt, gegen so eine verfluchte Übermacht! Wir haben die Nazis und die Faschisten und die Franco-Leute und ihre Fremdenlegionäre zurückgeworfen, und hier sitzen wir in der Universitätsstadt und sind nicht rauszukriegen, Teufel noch mal. Da war der also dabei, dieser Schriftsteller: einer von uns. Das hat doch wohl seinen schönen, richtigen, geraden Sinn gehabt – klar, Mensch! Er wollte nicht mehr allein sein, sondern lieber mit den anderen zusammen sterben … Ja, so ist das wohl … Jetzt versteh ich eigentlich gar nicht mehr, warum ich nie in die Partei eintreten mochte … Das ist auch nur so ein Eigensinn gewesen – als ob ich besser als die anderen wäre! Unterordnen muß man sich können! Organisieren muß man sich können! Das lernt man hier, das habe ich hier gelernt. Die anderen sind ja auch organisiert, die Faschisten marschieren in Reih und Glied, in Kolonnen fallen sie über uns her, und wir sollen uns einzeln wehren? So’n Quatsch. Ich habe das jetzt satt – so als interessanter Einzelgänger herum zu laufen. Ich trete in die Partei ein. Hoffentlich nehmen sie mich. Na, die nehmen mich schon …‹ Hans Schütte geht – zu den anderen. ›Verdammt nochmal – wenn es heute nur ein paar Zigaretten gäbe!‹ denkt er, während er den öden Hörsaal verläßt. Dort bleibt der Tote allein, mit Kikjou und mit dem Engel.
Etwas von dem weißen Licht des paradiesischen Boten fällt auf Marcels Stirn und Haar. Stirn und Haar glänzen auf; noch einmal schimmert es zwischen den schönen Bögen der Brauen; noch einmal scheinen diese Lippen sprechen oder lächeln, verführen oder klagen zu wollen. Da entfernt sich das Licht. Der Engel ist aufgestiegen: emporgeschnellt ist er wie ein Geschoß. Unbarmherzig führt er mit sich den Knaben – den Beter, den Sünder, den Verzauberten: Kikjou, le petit frère de Marcel; einsamer nun denn je – einsam, einsam, mit seinen Gebeten, seinen Verzückungen, seinen Zweifeln.
Hinauf in die Nacht, in den Äther, in die Sphäre, die ihm den Atem verschlägt … Darf Kikjou nun zurückkehren in seine Zelle, zu seinem Kruzifix, seinem schmalen Bett, seinem petit déjeuner, das unberührt auf dem Tischchen steht? – Einige Aufenthalte werden ihm noch zugemutet. Der Engel – dieses eigenwillige, ungeheuer geschwinde, majestätisch klirrende Vehikel – setzt ihn noch zweimal ab: Erst in einem engen Raum, wo es nach Schminke, Puder, staubigen Kostümen riecht. Es ist eine Theater- oder Kabarettgarderobe. Vor einem Spiegel sitzt eine Frau und frisiert sich: Marion – Kikjou erkennt sie, schon von hinten, an der Purpurmähne, die an seines Führers schaurig-schöne chevelure erinnert. Kikjou – unsichtbar und stumm – muß erleben, daß sein grausamer Engel mit tiefer, etwas brummender, beinah höhnischer Stimme ruft: »Marcel ist tot! Ins Herz getroffen! Tot!« – daß Marion auffährt, ihr entsetzensvolles Gesicht nach der Stimme wendet, niemanden findet, schreit, zur Türe stürzt, zum Spiegel zurückkehrt, ihr Gesicht in die Arme wirft und endlich weint. – Marcel ist tot. Ins Herz getroffen. Tot. Nun weiß es Marion. Sie zweifelt nicht: Diese Stimme hat die Wahrheit gesprochen; nur die Wahrheit kann so furchtbaren Klang haben. – Martin ist tot. Die kleine Tilly ist tot. Marcel ist tot: ins Herz getroffen. – Ins Herz getroffen schluchzt Marion vor dem Spiegel. ›Verlassen mich alle? Bleibe ich ganz allein? Warum muß gerade ich leben? Warum gerade ich? Warum muß ich die Überlebende sein?‹ – Und Kikjou darf sie nicht trösten, darf sich nicht von ihr trösten lassen; muß hilflos stehen, sprachlos, atemlos, blicklos, unsichtbar; muß wieder auf und davon, mörderisch gepackt von seinem heiligen Monstrum, geschüttelt und gerüttelt von seinem monstre sacré; in die Lüfte geworfen wie ein leichter Ball; emporgerissen, in die Nacht entführt – und nun ist es eine unbekannte Dame, in deren Salon er niedersteigen soll. Die Dame ist Madame Poiret, Marcels Mutter – die Verhaßte, »das alte Scheusal«, »die reaktionäre Hexe«, wie der Sohn von ihr zu sprechen pflegte. Er hat nicht Abschied von ihr genommen; durch Fremde hat sie erfahren müssen, daß ihr Sohn nach Spanien gefahren ist; daß er kämpft – Seite an Seite mit den Gottlosen, gegen die allein seligmachende Kirche. Ist dies schmerzlich gewesen für Madame Poiret? Niemand weiß es; niemand wird es je wissen. Sie sitzt starr und steif in ihrer halbdunklen Stube, zwischen Plüschportieren und verstaubten Palmen, vielen Nippes-Sachen, zahllosen Photographien. Über ihr hängt das Porträt des Monsieur Poiret, der einem Schlaganfall erlegen ist – sei es im Restaurant Larue, nach einem Diner mit Geschäftsfreunden, sei es im Bordell, Rue Chabanais, nach gar zu anstrengenden Amüsements – Madame weiß es wohl selber nicht mehr recht genau. Er ist tot; er hatte einen würdigen Spitzbart und im Knopfloch die Rosette der Légion d’honneur – alles dies sehr deutlich zu sehen auf dem Porträt, das über der Einsamen hängt. Sie sitzt unbeweglich, ohne Handarbeit, ohne Buch, und auf die Patience, vor ihr auf dem Tischchen, hat sie schon lang nicht geschaut. Eine alte Frau, voller Bosheit und Vorurteilen; aber durch die Einsamkeit gestraft: schrecklich gestraft durch ihr ganzes glückloses Leben.
»Marcel ist tot!« ruft der Engel, und Madame zuckt enerviert mit dem Kopf: Was ist denn das für ein Lärm? Ich habe mich wohl geirrt! Bin ich fiebrig, daß ich Stimmen höre? Ich muß Kamillentee trinken, Aspirin nehmen und zu Bette gehen … Der Engel aber wiederholt mit grausamer Hartnäckigkeit: »Marcel ist tot! Ins Herz getroffen! Tot! Tot! Tot!«
Nun darf Madame nicht mehr zweifeln: ihr Sohn ist tot, sie hat es endlich begriffen. Unter fremden Himmeln ist er hingerichtet worden und hat vorher nicht einmal Abschied von ihr genommen. Nicht umsonst hat Madame Poiret, eine gute Französin, seit eh und je eine so starke Aversion gegen das Ausland gehabt. Alles Internationale war ihr stets verhaßt. Hieß die Mörderbande, zu der ihr Sohn sich gemeldet hatte, nicht Internationale Brigade? Sie haben Kirchen verbrannt, Priester gefoltert, Gott gelästert. Die Strafe folgt auf dem Fuße. Eine Kugel kommt geflogen, der Heilige Geist selber hat sie geschickt. Ins Herz getroffen. Tot.
Ins Herz getroffen, tot. – ›Es ist mein Sohn, den sie getroffen haben!! Es gibt viele Söhne; dieser aber war mein. Ich habe ihn in Schmerzen geboren; als Kind hatte er Scharlach, ich habe ihn gepflegt. Er hat mich nie geliebt, ich habe ihn nie gekannt, er hat abscheuliche Dinge geschrieben, ich habe sie nie verstanden; Blasphemien kamen von seinen Lippen, die haben mich mehr gekränkt als alle schauerlichen Beleidigungen, die er sich ausdachte gegen mich – seine Mutter. Ich bin seine Mutter, er ist mein Sohn, ich habe nur ihn, sonst niemanden auf der Welt; ich hatte nur ihn, er ist tot, ins Herz getroffen, tot.‹
Welch ein Schauspiel für die beiden Unsichtbaren, für Kikjou und seinen Engel! Madame Poiret reckt klagend die Arme – es mutet seltsam an, wenn eine distinguierte, böse ältere Dame sich zu so ausschweifenden Gesten genötigt sieht. ›Mein Sohn! Mein Sohn! Er ist tot! Ich habe ihn geboren – er lebt nicht mehr! Er ist Fleisch von meinem Fleische, und lebt nicht mehr. Wie darf ich noch leben?‹ Eine halb groteske Mater Dolorosa – sonderbar geputzt in ihrem schwarzen Spitzenüberwurf – bricht sie vor dem Kamin zusammen, in dem nur ein künstliches Feuer brennt. ›Ich habe ihn geliebt!‹ jammert ihr Herz. ›Hat er mich denn wirklich gar nicht ausstehen können? Ach, im Grunde hing er wohl an mir! Nur seine deutschen, amerikanischen und jüdischen Freunde haben ihn mir vorübergehend entfremdet. Mein Leben war glücklos: Monsieur Poiret hat mich schlecht behandelt und ist im Bordell gestorben, jetzt kann ich es ja zugeben. Weil ich glücklos war, bin ich hart geworden. Marcel, Marcel – im Grunde mußtest du doch wissen, wie lieb ich dich hatte – nur dich, nur dich; denn du warst mein Sohn.‹
Bleibe allein mit deinem Schmerz, alte Frau! Die Krusten um dein Herz schmelzen, die harte Rinde weicht auf, du wirst weinen dürfen, der Schmerz macht dich besser, bleibe allein mit ihm! Drücke das kleine Kinderbild deines Sohnes an die Lippen – die einzige Photographie, die du von ihm besitzest. So hat Frau von Kammer geweint, als ein anderer Bote – um welchen freilich keine Flammenglorie wehte – ihr stockend ausrichtete: Tilly lebt nicht mehr. So hat Frau Korella geweint, im Krankenhaus, an Martins Sterbebett, und später, auf dem Friedhof, als die Schwalbe etwas taktlos wurde. So weinen die Mütter, so weinen die Menschen – Herr Jesus Christ, unser Erlöser, habe Erbarmen mit ihnen!
»Herr Jesus Christ, Erlöser, habe Erbarmen mit uns!« Kikjou betet, heimgekehrt von seiner entsetzlichen Fahrt. Der Engel hat ihn abgesetzt, hat ihn abgeworfen, ohne ein Wort des Abschiedes zu finden; ein Geruch nach Mandelblüten und überirdisch feinem Benzin ist zurückgeblieben in der mönchischen Zelle.
Unfaßbar milde und unfaßbar streng empfängt der Blick des Heilands diesen Sterblichen. Geduldig hat es auf ihn gewartet, das Haupt voll Blut und Wunden, das dornengeschmückte. Es neigt sich der Schulter zu, wie beim aufmerksamen Lauschen. Die Lippen stehen ein wenig offen – durstige, trockene, blutig aufgesprungene Lippen: sie werden den Essigschwamm kosten. – ›Ich habe gelitten wie diese‹, sagt der Heiland dem jungen Sterblichen. ›Ich kenne die Schmerzen, deren Zeuge du gewesen bist. Auch du sollst leiden. Gehe hin. Nimm es auf dich. Es ist bitter, ein Mensch zu sein. Ich war des Menschen Sohn, und ich habe noch den bitteren Geschmack davon auf der Zunge und den ausgedörrten Lippen. Weißt du aber nicht, wie sich das Bittere verwandelt? Leidend und liebend verwandelt sich der Mensch. Mein Vater im Himmel verzeiht uns, wenn wir geliebt und gelitten haben. Gehe hin, Knabe! Nimm es auf dich! Sei ein Mensch!‹
Professor Benjamin Abel hatte, einige Wochen nach der Katastrophe mit Herrn Wollfritz im »Huize Mozart«, Amsterdam verlassen. Er war später noch einmal nach Holland gekommen, um Vorträge an der Universität Leiden zu halten. Bei dieser Gelegenheit sah er Stinchen wieder, die irgendwie von seiner Anwesenheit Kenntnis bekam und herbeireiste – »weil ich Sie doch nicht vergessen kann, Mijnheer«, wie sie errötend gestand. Sicherlich wußte die maskuline, eifersüchtige Mama nichts von diesen zärtlichen Ausflügen, die sich im Lauf der nächsten Wochen mehrfach wiederholten. – Auch Fritz Hollmann tauchte wieder auf – ein tapferer Kerl, schlug sich tüchtig durchs Leben – übrigens nicht mehr allein; eine nett aussehende »Genossin« war an seiner Seite, Hollmann stellte sie vor: »Meine Braut!« Der Professor war etwas neidisch. »Ach, diese Jugend! Ihr wißt ja gar nicht, wie gut ihr es habt!« meinte er säuerlich; freute sich aber, ganz im verborgenen, doch schon auf Stinchens nächste Visite.
Als Hollmann mit seinem Mädchen gegangen war, trat Benjamin vor den Spiegel. ›Ich sehe immer noch passabel aus‹, meinte er feststellen zu dürfen. Die Gestalt, die er kritisch musterte, war nicht groß und ein wenig gedrungen, aber aufrecht und fest. Das Gesicht, über einem zu kurzen Hals, wirkte zugleich sinnend und energisch. Seine große, rundliche Fläche ward beherrscht von den Augen, die den Blick einer verhaltenen und gründlichen, fast pedantischen Leidenschaft hatten. Der Mund war merkwürdig klein – fast frauenhaft zart gebildet; ›übrigens bekomme ich ein Doppelkinn‹, dachte der Alternde ziemlich bitter. ›Ein Doppelkinn und eine Glatze – komisch, daß Stinchen mich mag …‹
Die letzten Jahre waren, alles in allem, nicht leicht gewesen; wenig oder nichts sprach dafür, daß die folgenden besser sein würden. Es hatte furchtbare Heimwehkrisen für Benjamin Abel gegeben; qualvoll heimwehkrank war er oft gewesen und hatte gemeint, es nicht mehr aushalten zu können in den fremden Städten. Das war wohl nun überwunden. Er wünschte sich nicht mehr nach Deutschland zurück; seine Beziehungen zur Heimat hatten sich gelöst. Die Mutter in Worms war gestorben. Die alten Freunde ließen nichts mehr von sich hören. Auch von Annette Lehmann kamen keine Briefe mehr. Sie hatte einen Staatsanwalt in Köln geheiratet – »ein prächtiger Kerl!« wie sie in ihrem letzten Schreiben versicherte. »Du würdest ihn sicher mögen. Friedrich ist ein weitherziger, grundgescheiter Mensch; ein überzeugter Nationalsozialist, aber gar nicht fanatisch …« Auf diesen Brief hatte Benjamin keine Antwort; die Korrespondenz hörte auf. – ›Leb wohl, meine Liebe! Zehn Jahre unseres Lebens sind wir beieinander gewesen, vergiß das doch bitte nie! Vergiß, zum Beispiel, bitte nie die so sehr gemütlichen Kammermusikabende in Marienburg! Was wäre denn nun, wenn ich dich geheiratet hätte, damals, als wir beide jung gewesen sind? Sähe dann alles besser aus oder noch komplizierter? – Ach, zu wem spreche ich und wen rufe ich an? Lebt die Annette noch, an die ich mich erinnere? Eine andere, fremde spaziert nun durch die Straßen von Köln, am Arme ihres prächtigen Staatsanwaltes – durch diese Straßen, die unbetretbar für mich geworden sind; ein Abgrund liegt zwischen mir und ihnen – ein Abgrund zwischen mir und Annette – ein Abgrund …‹
Professor Abel – alternd, heimatlos und sehr allein – fand seinen Trost in der Arbeit. Denn arbeiten konnte er wieder. Die Lähmung war gewichen. Er fühlte sich unverbraucht und frisch, bei aller Betrübtheit. ›Schon aus Trotz will ich tätig sein‹, beschloß er grimmig. ›Schon aus Wut und Haß bin ich widerstandsfähig. Glauben diese Barbaren drinnen im Reich, deutscher Geist höre auf zu wirken, weil sie ihn, durch Dekret, verbieten oder verstümmeln? Denen wird man es zeigen! Professor Besenkolb und alle seinesgleichen – zerspringen sollen sie, und schämen sollen sie sich, wenn sie mein neues großes Buch zu Gesicht bekommen!‹
Benjamin – von Natur bescheiden – war selbstbewußter geworden. Er wollte sich behaupten; war entschlossen, nicht unterzugehen. Zweifel am eigenen Wert wäre ein Luxus gewesen, den er sich, bei so harten Lebensumständen, durchaus nicht leisten konnte. Vielmehr zwang er sich, den Kopf hoch zu tragen und Stolzes zu denken. ›Ich bin keiner, der bettelt. Was ich zu bieten habe, ist kostbar. Die Welt soll mich dafür bezahlen.‹ – Die Welt fügte sich seinem Anspruch; sie zahlte – nicht eben üppig, nicht gerade verschwenderisch; aber doch so, daß er halbwegs anständig leben konnte, obwohl die Universität Bonn längst kein Geld mehr schickte. Abel hatte Vorträge in Wien gehalten und eine Gastprofessur in der österreichischen Provinz absolviert. Er war nach England eingeladen worden; er schrieb für die anspruchsvollsten Revuen in der Schweiz und Frankreich. Schließlich kam ein Ruf nach Amerika: es war eine kleine Universität im Mittelwesten der USA, die sich, mit maßvollem, aber akzeptablem Angebot um ihn bemühte. Das war im Frühling 1937. Benjamin hielt sich in Skandinavien auf. Er sprach in dänischen, norwegischen und schwedischen Universitäten über »das große deutsche Jahrhundert« – wobei es ohne polemisch-aktuelle Anspielungen auf eine entartete Gegenwart nicht abgehen konnte. Schon hatten die Vertretungen des Dritten Reiches gegen die »schamlos deutschfeindliche Agitation« dieses aggressiven Gelehrten feierlich-gekränkt protestiert – woraufhin dem temperamentvollen Sprecher von amtlich-skandinavischer Seite nahegelegt wurde, er möge vorsichtiger sein.
Vorfälle solcher Art bestimmten Abel dazu, die ehrenvolle Depesche aus den USA positiv zu beantworten. Hierzu war er nicht gleich entschlossen gewesen. Nun aber dachte er – trotzig und unternehmungslustig, wie die harte Zeit ihn hatte werden lassen. – ›Ich habe Europa satt. Überall Einschränkungen, feige Rücksichtnahme auf die deutsche Tyrannis – und unsereiner ist nur knapp geduldet. Dort drüben wird man doch den Mund wieder auftun dürfen …‹
Er hatte noch einige Monate bis zum Termin der Abreise. Das war gut; denn das Buch mußte fertig werden, mit dem er sich nun seit zwei Jahren beschäftigte: »Das Jahr 1848 und die deutsche Literatur«. Für dieses Thema hatte er sich entschieden, gerade als er in Wien war, um Material für seine Schrift über die österreichischen Dichter zu sammeln. Wien war eine Enttäuschung für ihn gewesen – eine Stadt, die von ihrer Vergangenheit lebte und deren Gegenwart wenig Begeisterndes hatte. Die Luft unter der klerikalen Diktatur war dumpf und muffig; der Kampf gegen den andrängenden Nationalsozialismus wurde falsch und ängstlich geführt. Professor Abel ließ seine liebevollen Notizen über Hofmannsthal und Schnitzler in einer Mappe verschwinden, die er bis auf weiteres nicht mehr zu öffnen gedachte. Das Jahr ’48 – seine geistigen Ursprünge und seine Konsequenzen – war erregender und dem Heute näher als die farbenvolle Untergangsstimmung des Wiener Fin de siècle. Es gelang Abel, trotz allen Ablenkungen und mancherlei Pflichten, die neue Arbeit langsam, aber stetig vorwärtszubringen. Nun hatte er ruhige Wochen vor sich. Er etablierte sich in einer mittleren skandinavischen Stadt. Hier wollte er das umfängliche Unternehmen vollenden.
Freilich blieb man niemals völlig ungestört. Nur ein vollkommener Egoist hätte sich gänzlich abschließen, durchaus auf die eigene Arbeit zurückziehen können. Was Abel betraf, so brachte er es nicht mehr übers Herz, Briefe, die so dringlichen Inhaltes waren, unbeantwortet zu lassen; Besucher, die mit so fürchterlich akuten Sorgen kamen, abzuweisen. Ihm selber ging es relativ gut – dies wußte er und war sogar ein wenig stolz darauf. Andere hatten nichts zu essen, wurden überall ausgewiesen und als elende Vagabunden durch die Länder gejagt. Früher aber waren sie achtbar gewesen, manche von ihnen sogar angesehen. Diesen oder jenen hatte Abel in Deutschland gekannt; andere wieder waren durch Freunde empfohlen. Doch meldeten sich auch solche, die sich auf niemanden berufen konnten; ihre offenkundige Armut allein wies sie aus – und ihre Behauptung, daß sie im Dritten Reich, aus politischen oder anderen Gründen, verfolgt würden. Das konnte man nun glauben oder nicht. Benjamin war nicht skeptisch. Es war besser – so schien ihm – dreien geholfen zu haben, die Schwindler sind, als einen Anständigen zu enttäuschen.
Sogar solchen gegenüber, die sich gleich zu Anfang schlecht benahmen, blieb er geduldig, ohne übrigens je die Miene des Edlen, eines salbungsvollen Menschenfreundes aufzusetzen. Ein junger Mann erschien, der behauptete, er sei einmal Schupo in Berlin gewesen. Dergleichen war ihm jetzt nicht mehr anzusehen; im Gegenteil, ein pflichtbewußter Berliner Polizeibeamter würde ihn wohl auf offener Straße festgenommen, mindestens aber sehr mißtrauisch beobachtet haben, einfach seines suspekten Äußeren wegen. Der graue Anzug, den er trug, war dünn und abgeschabt, an mehreren Stellen geflickt, an anderen durchlöchert; er glänzte speckig, und die Farbe spielte ins häßlich Grüne. Auch mit den Schuhen war kaum viel Staat zu machen. Am besten schien noch das dicke, rote Wollhemd. Es war aus solidem Material; doch wirkte es, als hätte der junge Mann es schon seit Jahren am Leib. Der Verdacht drängte sich auf, daß es unfrisch roch. Auch sein Gesicht zeigte unfrische Farben – eine bleiche, verwüstete Miene, mit fleckig angegriffener Haut auf den slawisch breiten Wangenknochen. Die hellen, engen Augen schauten trüb zwischen arg entzündeten Lidern. Rasiert hatte er sich wohl seit Wochen nicht; der harte Bart schimmerte rötlich, während das verwilderte Haupthaar einen reinen, fast goldenen Glanz zeigte.
Der Bursche hatte lang nichts gegessen, er bekam Kaffee und belegte Brote, Abel ließ sich von ihm erzählen. »Ich heiße Ernst«, begann er seinen Bericht – als ob dies am wichtigsten wäre. Was folgte, war etwas wirr und recht traurig. Die triste Chronik wurde oft unterbrochen durch allgemeine Betrachtungen schwermütiger und bitterer Natur, die sich meistens in den Worten: »Es ist alles eine große Scheiße!« resümierten. Die ersten Jahre des Exils hatte Ernst – wenn man ihm glauben durfte – in Prag zugebracht, mit einem Kameraden zusammen, einem feinen Kerl, der jetzt verschollen war. »So einen finde ich nie mehr. Den haben sie inzwischen sicher auch irgendwo umgebracht.« Seither hatte er nirgends länger bleiben dürfen als nur einige Wochen. »In der Schweiz«, sagte der Bursche – und plötzlich hatte er ein sanftes, beinah seliges Lächeln – »da ist es mir gut gegangen. In Zürich – da war es schön … Aber die Fremdenpolizei … Es ist eine große Scheiße … Aus dem Bett hat man mich rausgeholt, ohne Rücksicht auf die Dame, die bei mir war …« Dies hatte keineswegs zynischen Klang, auch prahlerisch war es nicht gemeint. Im Gegenteil verstand Abel, daß jenes dankbar ergriffene Lächeln, das eben noch die abgemagerte Miene des Vagabunden verklärt hatte, mit der erwähnten »Dame« in Zusammenhang stand.
Er erzählte noch lange von seinen Abenteuern auf den Landstraßen und in den Herbergen vieler Länder; von den Zusammenstößen mit der Polizei in Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Schweden, Norwegen und Finnland. Manches klang unwahrscheinlich, einiges war wohl gelogen, am Ende stimmte vielleicht nicht einmal die Geschichte mit dem freundlichen Mädchen in Zürich. Abel indessen war geneigt, alles zu glauben oder doch für möglich zu halten. »Es muß etwas für Sie geschehen, junger Mann«, meinte er väterlich. Er hatte Beziehungen zu einem Comité für Flüchtlingshilfe in dieser Stadt. Eigentlich war es für Juden da, nahm sich aber auch anderer Emigranten an, wenn sie ihre Not und die Ursachen ihrer Emigration nachweisen konnten. »Zwar kenne ich den Leiter der Organisation noch nicht persönlich« – Abel sprach mehr zu sich selber als zu seinem Besucher. »Aber sicher wird er mich empfangen. Der könnte Ihnen wohl behilflich sein … Ich will mir nur einige Notizen über Ihre Vergangenheit machen.«
Während der Professor am Schreibtisch saß, unternahm Ernst einen sehr ungeschickten, dilettantischen Versuch, die goldene Taschenuhr zu stehlen, die auf dem Kaminsims lag. Abel bemerkte es gleich; er war mehr gelangweilt und etwas angewidert als empört oder erstaunt. »Lassen Sie doch den Unsinn!« sagte er müde, ohne den Kopf ganz von seinen Papieren zu wenden. Daraufhin fing der junge Mann zu weinen an. Er weinte heftig, ohne übrigens das Gesicht mit der Hand zu bedecken. Sein Mund, zwischen dem roten Bart, verzerrte sich wie bei einem kleinen Kind, und aus den hellen, schmalen Augen flossen die dicken Tränen. Die Uhr legte er behutsam wieder auf den Kaminsims; es war eine hübsche Uhr, mattgolden, mit einem altmodisch verschnörkelten Monogramm verziert; Abel hatte sie von seinem Vater geerbt, ein Familienstück, er hätte sie ungern verloren. Eigentlich war er selbst etwas erstaunt darüber, daß er fast keinen Unwillen gegen den Burschen empfand, der da stand und flennte. Um nur irgend etwas zu sagen, erkundigte er sich – nicht sehr lebhaft interessiert, wie ein Arzt, der eine pflichtgemäße Frage stellt: »Sind Sie Kleptomane?« – »Keine Spur!« beteuerte der Bursche, der vielleicht gerade die Vorstellung, er könnte ein Dieb aus krankhafter Veranlagung sein, als besonders verletzend empfand. »Sicher nicht! So was Gemeines bin ich nie gewesen! Aber man kommt ja vollständig herunter! Der Mensch verdirbt und verfault ja bei so einem Leben. Mit dem Gesetz ist man sowieso ständig in Konflikt, weil man sich doch illegal im Lande aufhält. Da meint man schließlich, es kommt gar nicht mehr darauf an …« Dies schien dem Professor einzuleuchten. Er nickte ernsthaft; dann riet er dem jungen Mann: »Trocknen Sie doch mal Ihr Gesicht ab! Es ist naß von Tränen.« Der erfolglose, reuige Dieb schüttelte tragisch den Kopf, als wollte er sagen: ›Es geschieht mir gerade recht, daß ich hier vor Ihnen stehen muß mit einem Gesicht, über das Tränen laufen – wie ein Schulbub, den man ausgeschimpft hat. Nein, ich trockne meine Backen nicht. Ich fühle mich erbärmlich und will auch erbärmlich aussehen!‹ – »Seit so langer Zeit sind Sie der erste Mensch, Herr Professor, der nett zu mir gewesen ist«, behauptete er – um zerknirscht hinzuzufügen: »Und da muß ich so was machen!« – »Sprechen wir nicht mehr davon!« schlug Benjamin vor. Um seinen kummervollen Gast auf andere Gedanken zu bringen, bot er ihm noch Kaffee und Butterbrot an. Ernst zeigte immer noch Appetit, obwohl er doch schon vorher viel gegessen und außerdem inzwischen seelisch einiges durchgemacht hatte. »Kein Mensch braucht einen!« erklärte er, während er kaute. »Man verliert alle Selbstachtung, wenn man das Gefühl hat, überflüssig auf der Welt zu sein. Ohne Selbstachtung kann man nicht leben.« Auch dies war richtig; Abel mußte wieder bestätigend nicken. »Haben Sie denn keine politischen Ideale?« wollte er wissen. – »Ich hatte mal welche.« Der heruntergekommene Schupo zuckte bitter mit den Achseln. »Aber so was wird einem ja ausgetrieben in dieser beschissenen Welt. Wie soll man denn noch an die Demokratie glauben, wenn sogenannte demokratische Staaten sich so gegen unsereinen benehmen? Behandelt wird man, als wäre man ein räudiger Hund – und soll Idealist bleiben!« Er lachte höhnisch, wobei schadhafte Zähne sichtbar wurden. Sein Gesicht war immer noch naß von den salzigen Tropfen, die abzuwischen er sich aus lauter Trotz und Gram geweigert hatte. – »Na, wir wollen mal sehen, was wir für Sie tun können!« meinte abschließend Abel. Ehe der Besucher ging, wiederholte er noch, es sei alles eine ungeheuer große Scheiße; dann bat er nochmals um Verzeihung wegen der Sache mit Benjamins goldener Uhr. Abel sagte: »Das habe ich schon vergessen.« Der andere konnte es gar nicht fassen und hätte beinah wieder zu weinen begonnen – aber aus Dankbarkeit, vielleicht auch aus Erstaunen; denn er hatte nicht mehr an die Güte geglaubt.
Abel setzte sich, durch die Vermittlung eines Bekannten, mit dem Leiter des Jüdischen Hilfscomités in Verbindung. Der erklärte sich sofort bereit, ihn zu sehen. »Kommen Sie bitte am nächsten Donnerstag gegen vier Uhr!« schlug er brieflich vor. »Ich werde Sie sofort persönlich empfangen. Es wird mir eine Ehre sein, Herr Professor, Ihre Bekanntschaft zu machen.« – Benjamin ging hin; die Visite wurde ein kompletter Mißerfolg.
Der Vorplatz, in dem dreißig oder vierzig Menschen warten mußten, sah trostlos aus. Es gab keine Stühle, nur eine schmale Holzbank an der getünchten Wand; auf der saßen, eng aneinandergedrängt, jammervolle Figuren: alte Weiber oder ausgemergelte Männer – die Gesichter unbeweglich in die Hände gestützt oder die Köpfe nervös hin und her wendend, als lauschten sie in die Ferne, aus der irgendeine angenehme Botschaft überraschend kommen könnte. Indessen war nichts zu hören als die mürrische Stimme eines Mannes, der hinter einem Schalterfenster stand und von dort aus speckig abgegriffene Pappschilder mit Nummern verteilte. Auch Abel sollte eine bekommen; erklärte aber: »Ich habe eine persönliche Verabredung mit Ihrem Chef. Ich nehme an, er wünscht mich gleich zu sehen.« Der Beamte erwiderte nur: »Warten Sie!« Machte jedoch keineswegs Miene, Namen oder Wunsch des Professors an irgendeine andere Instanz weiterzuleiten.
Benjamin hatte Muße, sich seine Umgebung genauer zu betrachten. Neben dem Schalter hing ein großes Schild, auf dem stand in fetten Lettern zu lesen: »Absolute Ruhe! Vermeidet politische Gespräche! Sie könnten belauscht werden und Anlaß zu Gerüchten geben, die uns schaden!« Übrigens sahen die Unglücklichen, die sich hier drängten, durchaus nicht aus, als hätten sie Lust, über die Weltlage zu debattieren. Ihre eigenen Sorgen waren gar zu groß; für die allgemeinen blieb ihnen kaum Interesse. Sie unterhielten sich, trotz der warnenden Tafel – freilich mit angstvoll gedämpften Stimmen und nur über ihre tristen Privataffären. Benjamin unterschied mehrere deutsche Dialekte; auch östliche Idiome kamen vor: Polnisch, Ungarisch, Tschechisch, Rumänisch. – »Nach England ist überhaupt nicht mehr reinzukommen!« behauptete pessimistisch ein junger Mann. Ein anderer sagte: »Ich warte schon seit zweieinhalb Jahren auf mein französisches Visum.« Der Verdacht lag nahe, daß er während all dieser Zeit nichts getan hatte, als eben auf das französische Visum zu warten. Trotzdem blieb er hoffnungsvoll. »Aber nächste Woche bekomme ich es – der Konsul hat mir’s versprochen!« Ein dritter klagte: »Mich wollen sie nach Deutschland zurückschicken! Dabei habe ich, ehe ich wegfuhr, auf der Berliner Polizei einen Schein unterschreiben müssen, daß ich niemals wiederkommen will. Wenn ich nun wieder anrücke – die sperren mich doch glatt ein! So was kann man doch nicht von mir verlangen! Die sperren mich doch ganz bestimmt ein!« – In einer anderen Gruppe sprach man von Palästina. »Mein Vetter ist Kellner in Tel Aviv; verdient ganz anständig, ist recht zufrieden …« – »Aber in Südamerika soll es besser sein!« wußte ein ganz Gescheiter. »Meine Schwester hat einen Hutsalon in Buenos Aires …«
Andere versammelten sich um eine weibliche Person von dürftigem Aussehen, die heftig weinte. Sie hielt ein kleines Kind, das sie nun dramatisch in die Höhe reckte. »Nein, ich gehe nicht zum deutschen Konsul!« rief sie flehend. »Dort werde ich eingesperrt und mein Kleines auch! Mein Bräutigam – ich meine: der Vater meines Kindes – hat mir fest versprochen, daß ich das holländische Visum bekomme, ohne daß ich vorher beim deutschen Konsul war!« Mitleidige und tröstliche Stimmen ließen sich hören; vor allem die Frauen nahmen sich der hysterisch Schluchzenden an. Man redete ihr vernünftig zu: »Aber seien Sie doch nicht so ungeschickt! Nicht so ängstlich! Man beißt Sie doch nicht auf dem deutschen Konsulat! Sie müssen sich Ihren Paß verlängern lassen!« – Die Ärmsten: es tat ihnen wohl, ihrerseits einmal mitleidig sein und sich im Vorteil fühlen zu dürfen gegenüber einer, die nicht mehr aus noch ein zu wissen schien. Denn die Weinende blieb dabei: »Ich kann nicht und ich will nicht! Mit meinem Kind zu den Nazis?!« fragte sie pathetisch – um dann selbst zu erwidern: »Nie und nimmer!« Schließlich berief sie sich nochmals auf das Versprechen ihres Bräutigams – vielmehr: »des Vaters meines Kindes«, wie sie pedantisch hinzufügte.
Ihre Klagen machten viel Lärm – was zur Folge hatte, daß ein Herr mit zorngeröteter Miene eintrat und seinerseits brüllte: »Was ist hier los?! Ich verbitte mir das!« Sofort verstummten alle; der Herr jedoch schimpfte weiter; nun war es ein bleicher Unterbeamter, der den großen Zorn des Vorgesetzten über sich ergehen lassen mußte. – »Habe ich Ihnen nicht zehnmal gesagt, die Leute sollen im oberen Wartesaal bleiben, wenn sie ihre Nummern haben? Immer wieder dieser Radau direkt vor meinem Bureau! Wozu haben wir denn das zweite Stockwerk? – Das ist eine Unordnung! Eine Sauerei! Gar nicht auszuhalten!« Der Herr hielt sich die Fäuste an die Schläfen; er schien fürchterlich enerviert. Die Wartenden drängten sich schon zur Treppe; der Unterbeamte – selbst ganz gebückt vor Schrecken – trieb sie wie eine Herde. »Marsch, marsch! Hinauf! Was steht ihr denn noch herum! Marsch, marsch, marsch!« Er trat auch an Abel heran, der zögernd zurückblieb. – »Worauf warten Sie denn? Sie hören doch, was befohlen worden ist. Hier ist die Treppe – marsch, marsch, marsch – hinauf!«
Abel meinte zu träumen. ›Wo bin ich denn?‹ – besann er sich entsetzt. ›In einem Kasernenhof? Dort kann es so schlimm nicht sein … In einem Konzentrationslager …? Mein Gott: die Unglücklichen fliehen Deutschland – um hier dies zu finden …‹ – Er sagte, mit etwas bebenden Lippen: »Wenn ich recht verstanden habe, so sollen nur die Herrschaften, die im Besitz von Nummern sind, ins obere Stockwerk gehen. Ich habe keine.« – »So lassen Sie sich gefälligst eine geben!« fuhr der Mann ihn an. »Jeder braucht eine Nummer.« – »Ich nicht«, versetzte Benjamin, möglichst gelassen. »Ich habe eine persönliche Verabredung mit Ihrem Chef.« – Hier war es der wütende Herr, der sich einmischte. »Was ist denn hier los?!« Nur die Stimme eines preußischen Unteroffiziers kann solchen Klang haben. »Weigern Sie sich etwa, nach oben zu gehen – he?!« – Abel sagte: »Ich möchte lieber hier warten. Ich habe eine persönliche Verabredung mit Herrn Nathan.« – »Eine persönliche Verabredung mit Herrn Nathan! Ist ja ausgezeichnet!« Der Herr schien vor lauter Ingrimm beinah wohlgelaunt zu werden. Er lachte krächzend, schlug auch die Hände, in einem Anfall von wilder Amüsiertheit, über dem Kopf zusammen. »Sie möchten lieber hier warten! Ist ja famos! – Da könnte jeder kommen!« brüllte er, plötzlich wieder entsetzlich ernst. »Bei uns gibt’s keine Ausnahmen, keine Extrawürste! Alles geht hübsch in Ordnung! Jeder bekommt seine Nummer! Alle werden nach der Reihe vorgelassen! – Gehen Sie hinauf!« forderte er gedämpfter, aber erst recht unheilverkündend. »Oder scheren Sie sich fort!« Dies war als sein letztes Wort gemeint; er stand drohend da, schien auch dazu bereit, mit den Fäusten auf den anderen loszugehen. Abel brachte nur noch hervor: »Eine Schande! Eine unsagbare Schande!« – und war schon am Ausgang. Der Zornige höhnte hinter ihm her: »Auf Wiedersehen!«
In einem langen Brief an Herrn Nathan formulierte Benjamin seine Entrüstung und seinen Schmerz. »Nicht mich hat man gekränkt oder beleidigt«, schrieb er mit einer Hand, die noch zitterte. »Menschen eines solchen Niveaus sind dazu nicht imstande, und übrigens wußte der unerzogene Herr ja nicht einmal, wer ich bin. Vermuten Sie also, geehrter Herr, bitte nicht, es sei gekränkte Eitelkeit, die mich rasend macht. Ich schaudre bei dem Gedanken, daß solche, die in freien Ländern Zuflucht suchen vor der Schmach der Nazibarbarei, hier nicht nur der Not begegnen, sondern neuer Erniedrigung … Gibt es den Begriff der Menschenwürde nicht mehr?«
Am nächsten Morgen meldete sich telefonisch Herr Nathan. Die Stimme, mit der er um Verzeihung bat, klang dumpf. »Mein lieber Herr Professor – wie unglücklich bin ich, daß gerade Ihnen dies geschehen mußte! Erlauben Sie mir, gleich zu Ihnen zu kommen. Mir liegt daran, Ihnen einiges zu erklären …«
Benjamin empfing ihn ein paar Stunden später. Herr Nathan mochte sechzig Jahre alt sein; sein sorgenvolles Gesicht war sehr grau und müde. Unter den Augen gab es dicke Säcke – wie bei einem, der viel geweint hat oder gar zu oft bemüht gewesen ist, Weinende zu trösten. Nathan begann das Gespräch: »Ihr Brief war nicht gerecht, Herr Professor!« Da Abel schwieg, fügte der Alte hinzu: »Ich begreife, daß Sie ihn so schreiben mußten. Aber – glauben Sie mir! – ganz gerecht ist er nicht. Der Mann, der Sie angeschrien hat – mein Freund Petersen – ist ein unermüdlicher Arbeiter. Jeden Tag, den Gott werden läßt, plagt er sich acht Stunden oder noch länger für unsere Flüchtlinge, ohne irgendeine Bezahlung dafür zu nehmen; ohne irgendeinen Vorteil davon zu haben – einfach aus Anständigkeit; weil er es für seine Menschenpflicht hält.« – »Das konnte ich nicht wissen«, bemerkte Benjamin leise, schon etwas beschämt. »Sein Ton war trotzdem abscheulich.« – Nathan räumte ihm ein: »Man sollte niemals die Nerven verlieren. – Wir sind aber alle nur Menschen«, stellte er kummervoll fest. Abel sagte, nicht ohne Schärfe: »Gerade deshalb muß man die Menschenwürde des anderen achten.« Der Leiter des Comités nickte müde. »Gewiß, gewiß …« Er schwieg eine Weile; strich sich den grauen Schnurrbart und blickte, trübe sinnend, über die dicken Säcke hinweg, die wie Gewichte unter seinen Augen hingen. – »Man macht es uns aber nicht leicht«, meinte er endlich, wie als Abschluß eines langen Selbstgespräches, das gewiß nicht heiter gewesen war. »Die Menschenwürde des anderen zu achten – nein, leicht macht man es uns gewiß nicht …«
Dann erzählte er: zu diesem Zweck war er hergekommen. Es wurde deutlich: ihm war nicht nur daran gelegen, das unbeherrschte Verhalten seines Mitarbeiters zu entschuldigen und den Professor solcherart zu versöhnen; er wollte sein Herz ausschütten – sein schweres, betrübtes Herz. »Manchmal könnte man ganz hoffnungslos werden«, sagte der alte Mann. »Mit soviel Enthusiasmus bin ich an diese Arbeit gegangen – und wieviel Enttäuschungen habe ich erleben müssen. – Freilich ist mir auch viel Schönes vorgekommen.« Hierbei lächelte er, zum ersten Mal; es war ein etwas mühsames Lächeln, aber kein künstliches, kein konventionelles. So lächelt einer, dessen Gesicht meistens ernst ist und sich nur selten, nur ausnahmsweise erhellen darf, bei der Erinnerung an ein paar gute Augenblicke.
Was die Enttäuschungen betraf, so waren sie mannigfacher Natur. Vielen von denen, die um Hilfe baten, war kaum zu helfen. Den Unglücklichen fehlten Kraft und Lebenswillen, manchen auch die Intelligenz, einigen sogar die Anständigkeit. Herr Nathan hatte sich für Menschen eingesetzt, von denen später erwiesen ward, daß sie Nazispitzel und Agenten waren: »Einige von diesen Schuften sind sogar Juden gewesen!« konstatierte er mit Ekel und Bitterkeit. Andere wieder waren zu keiner Arbeit mehr fähig; sie klagten nur noch, jammerten den ganzen Tag über ihr hartes Los. »Damit ist kein Geld zu verdienen«, sagte Nathan, der sich dies alles mit ansehen mußte. Er war auch dabei gewesen, als eine junge Frau, deren Gatte in einem deutschen Konzentrationslager saß, sich im Vorzimmer des Comités erschoß. »Solche Szenen vergißt man nicht!« sagte er leise. »Vielen hat das Furchtbare, was sie in Deutschland mitmachen oder mit ansehen mußten, das moralische Rückgrat zerbrochen. Sie sind wie gelähmt; wie Krüppel sind sie geworden, können sich gar nicht rühren. Da sitzen sie nun, und man soll etwas für sie tun. Sie selber aber sind wie gelähmt; reden nichts als Unsinn. Manche sind auch noch mißtrauisch und renitent; kein Wunder, bei all den Erfahrungen, die sie gemacht haben; uns aber erschwert es die Arbeit. Man ist oft so müde. Wüßten Sie nur von all den Schwierigkeiten, all den Schikanen, mit denen wir täglich zu kämpfen haben! Manchmal verliert man die Nerven. Aber wir wollen das Beste! Wir tun, was wir irgend können – glauben Sie mir!« Er sagte es beinah flehend – was nicht nötig gewesen wäre; Abel glaubte ihm. Er zweifelte nicht daran: Nathan war ein guter und gescheiter Mensch; gab sich Mühe; rieb sich auf für eine Sache, die nicht Gewinn brachte, und viel Ehre schien kaum zu erwarten. »Auch das Geld wird knapp«, ließ er wissen. »Zu Anfang wurde reichlich gespendet. Aber die Tragödie dauert zu lange, das allgemeine Interesse läßt nach. Auch scheint das Ganze zu hoffnungslos – ein Faß ohne Boden, wenn ich mich so ausdrücken darf. Es werden immer mehr Flüchtlinge, täglich kommen neue an, unsere Fonds sind beinah erschöpft, unsere Geldgeber lassen sich kaum noch sprechen …«
Die beiden Männer saßen sich gegenüber; eine Weile sagte keiner etwas. Schließlich war es Nathan, der wieder zu sprechen begann. »Es ist schade um die Menschen.« Seine Stimme bebte vor Gram. Der Literaturhistoriker bemerkte: »Das hat Strindberg gesagt.« Nathan nickte. »Vor vielen Jahren … Aber es ist immer noch wahr. Schade um die Menschen – jammerschade um sie …«
Später kam er auch auf Erfahrungen zu reden, die freundlicher waren. »Ganz vergeblich ist die große Arbeit nicht! Manchmal wird einem bestätigt: es hat Sinn gehabt. Irgendein junger Mensch schreibt uns – aus Argentinien oder Palästina oder Neuseeland – und er berichtet: Es geht ihm gut dort, er hat zu tun. Wir haben ihn hingebracht. Wir haben ihn hier etwas lernen lassen und haben ihm zu dieser Stellung in einem fernen Lande verholfen. Nun denkt er dort drüben an uns … Das macht Freude!« Herr Nathan sah plötzlich beinah vergnügt aus und rieb sich die Hände, wie einer, der ein gutes Geschäft gemacht hat – ein redliches, feines Geschäft. »Manche von unseren Schützlingen haben auch in Europa irgendwo Stellung gefunden«, sagte er noch. »Einige sogar hier im Lande. Die besuchen mich dann ab und zu. Nicht alle, natürlich: manche legen Wert darauf, mich nie wieder zu sehen und das Comité zu vergessen – was ich begreiflich finde. Andere aber lassen sich zuweilen sehen. Männer, denen ich im Jahre 1933 helfen konnte, haben inzwischen hier geheiratet; dann bringen sie wohl auch ihre Frau mit, manche sogar ein Kind – ein Emigrantenkind; aber es kann schon ein bißchen in der Sprache unseres Landes plappern. – Das macht Spaß!« sagte Herr Nathan wieder, und noch einmal ging das ungeübte, schwere, innige Lächeln über sein sorgenvolles altes Gesicht.
Schließlich fiel Benjamin ein: »Ich wollte mit Ihnen ja einen bestimmten Fall besprechen. Es handelt sich da um einen jungen Mann, der früher bei der Berliner Polizei angestellt war. Ein sehr anständiger Bursche, wie mir scheint – vielleicht durch Leiden etwas aus der Form gekommen …«
Herr Nathan lauschte – gleich interessiert; schon bereit, zu helfen; sich alle Möglichkeiten zu überlegen; von Herzen willens, diesen Menschenbruder, wenn es irgend angehen sollte, zu retten.
Im Spätsommer des Jahres 1937 beschloß Marion, im Herbst nach Amerika zu fahren. Ein wichtiger New Yorker Agent war in Prag und Zürich Zeuge ihrer Erfolge gewesen; von ihm kam das Angebot: sie sollte eine Vortragstournee durch die Vereinigten Staaten machen. Erst hatte sie gezögert; nun aber nahm sie an. Sie meinte, Europa nicht mehr ertragen zu können. Es waren zuviel der Verluste, zuviel der Erinnerungen, überall. Sie empfand schon seit langem: ›Es ist zuviel – ganz entschieden zuviel. Entweder auch ich sterbe, oder ich muß etwas Neues anfangen.‹
Sie studierte einen Teil ihres Programms auf englisch; andere Partien sollte sie im deutschen Original mit englischen Erläuterungen bringen. Übrigens hatte ihr der Agent versprochen, daß in den Kreisen, vor denen sie auftreten würde – Klubs, Universitäten, literarische Gesellschaften – mindestens ein Teil des Publikums Deutsch verstehe.
Das Visum hatte sie bekommen. Sie behielt ja den guten französischen Paß; sie war die Witwe des citoyen Marcel Poiret. Das Schiffsbillet war besorgt. Die Abschiede konnten beginnen. Marion, wehmütig und empfindsam gestimmt, hatte nur das eine Wort im Herzen: Abschied … Abschied von den Gräbern; Abschied von den noch Lebenden. Ich bin die Überlebende. Ich bin die Abreisende. Ich bin die, welche etwas Neues beginnt. Ich reise nach Amerika und mache mich in Klubs wie auch in Universitäten bemerkbar. Dieses ist Abschied – eine Realität; die Realität unseres Lebens. Das ganze Leben ist Abschied. Abschied auf Bahnsteigen, auf Flugplätzen, Landungsstegen; Abschied in Schlafzimmern, Cafés, Hotelhallen, auf der Straße, an einer Haustür. Adieu, schreib mir mal, mach’s gut, vergiß mich nicht – ach, vergeßt mich nicht, und adieu!
Adieu, liebste Mama, du bist älter und schöner geworden, der Schmerz um Tilly hat dich sowohl älter als auch schöner gemacht. Wir weinen noch ein wenig, weil Tilly auf und davon ist, spurlos verschwunden, hinweggehuscht – wir aber müssen weiterleben; müssen hier sitzen und uns nochmals umarmen: Adieu, liebste Mama! Grüße die dumme kleine Susanne – ist sie immer noch so gräßlich reaktionär? Ein komisches Kind! Wie lange muß sie eigentlich noch in diesem teuren Internat bleiben? – Na, adieu also, ich rufe dich aus Paris wohl noch an, ehe ich fahre …
Und dann, in Paris. – Adieu, liebste Schwalbe – Kopf hoch, altes Ding! Aber wer wird denn weinen … Wir schaffen es schon! Sind doch zwei tüchtige alte Kerle – du und ich: wind- und wetterfest, möchte ich sagen, wir erleben auch noch bessere Tage – laß dich küssen – laß dich sehr küssen, alte Schwalben-Mutter!
Adieu, liebes Meisje – bist du immer noch glücklich? Ja, du siehst immer noch glücklich aus; schön und glücklich, wie ein militanter Erzengel. Erstaunlich, daß es so was gibt; großartig, daß es so was gibt. – Braver alter Dr. Mathes – adieu.
Ilse Ill war beim Abschied säuerlich; denn sie hatte so gut wie überhaupt keinen Erfolg mehr. Weder grünes Haar noch violette Wangen halfen ihr auf die Dauer; auch ihre Affäre mit einem veritablen Negerkönig hatte nicht das erwartete Aufsehen gemacht – kein Wunder, daß sie sich verbittert zeigte. »Ich möchte wohl auch nach Amerika!« schmollte sie. »Wenn ich Talent habe, bin ich doch nicht häßlich.«
Was den Bankier Bernheim betraf, so schien er ein wenig abgekämpft, wenngleich immer noch würdig. »Liebes Kammermädchen«, sagte der reiche Mann schlicht, »mir tut es leid, daß du fährst.« Dann stellte sich heraus: Er war es müde, immer nur Geschäfte zu machen. Das schlimme Abenteuer von Mallorca hatte nachhaltig auf ihn gewirkt. »Ich bin innerlicher geworden«, erklärte er und ließ durchblicken, daß er vielleicht zum Katholizismus übertreten werde. Übrigens wollte er aufs Land ziehen, nach Österreich, in die Nähe von Wien. Dort hatte man ihm ein reizendes altes Haus angeboten: es kostete beinah nichts. Professor Samuel war aufgefordert mitzukommen, glaubte aber nicht an die Stabilität der österreichischen Regierung und zog es vor, eine andere Einladung, nach Palästina, anzunehmen. »Ich möchte nicht noch eine dritte faschistische Invasion erleben, nachdem ich die in Deutschland und in Spanien mitgemacht habe«, sagte der alte Künstler: nicht bitter, aber ziemlich mißtrauisch geworden. Bankier Bernheim fand solche Äußerungen einfach albern. »Die österreichische Unabhängigkeit wird von Frankreich und England garantiert«, eröffnete er allen, die es hören wollten. »Und außerdem hat der Bundeskanzler Schuschnigg das Heft fest in der Hand; die Mehrzahl der Bevölkerung ist ihm treu ergeben …«
Marion fand ihn seltsam verändert, und übrigens nicht nur ihn. Auch Nathan-Morelli, zum Beispiel, war nicht mehr völlig der gleiche, als den man ihn einst gekannt hatte – ermattet, auch er, und sein gelbliches Mongolengesicht, das so spöttisch und blasiert gewesen war, zeigte jetzt mildere, auch tiefere Züge. Marion war befremdet; denn Morelli gestand, daß er um Deutschland litt. »Ich habe Heimweh« – gerade von ihm hätte dies niemand erwartet. Nun aber sprach er es aus und blickte wehmütig sinnend aus seinen schiefgestellten, schmalen Augen. Warum sehnte er sich nun nach Landschaften, Menschen, Städten, die er früher vernachlässigt hatte? »Es ist eine Schmach, was mit Deutschland geschieht«, sagte er. »Es verfolgt mich in meinen Träumen … Wenn ich meine Sirowitsch nicht hätte, ich könnte wohl gar nicht mehr leben. Sie bedeutet ein Stück der verlorenen Heimat für mich.«
Theo Hummler, inmitten seiner politischen Aktivität, war herzlich traurig über Marions Abreise. Seiner alten Schwäche für sie war er treu geblieben. Er gab ihr Aufträge für New Yorker Freunde mit und erkundigte sich schließlich, ob er sie küssen dürfe. Sie gestattete es, er bekam feuchte Augen. Adieu, adieu, schreib mir mal, vergiß mich nicht, dieses ist Abschied.
Auch bei Madame Rubinstein machte Marion ihre Abschiedsvisite. »Es ist immer so schön, in eurer Stube zu sein«, sagte sie, wie vor viereinhalb Jahren – und wirklich, hier hatte sich nichts verändert: die gleichen Modelle alter Segelschiffe, die auf der Kommode und auf mehreren Regalen plaziert waren; die gleichen ausgestopften Vögel und Fische an den Wänden. »Ja, es ist ein gemütlicher Raum«, sagte Anna Nikolajewna, während sie ihrem Gast Kirschenkonfitüre und kleines Gebäck auf den Teller legte. »Aber mon pauvre Léon wird immer trauriger …« Auch die kleine Germaine machte ihr weiter Sorgen; sie schien nun beinah dazu entschlossen, sehr bald nach Rußland, in die unbekannte Heimat, zurückzukehren. – Adieu, Anna Nikolajewna – ich will nicht werden wie du, ich bin nicht wie du, unsere Fälle sind wesentlich voneinander verschieden. Du trauerst dem unwiederbringlich Verlorenen nach; ich träume dem entgegen, was wir gewinnen wollen … Adieu!
Marion sah noch einmal den vornehmen und hoffnungslosen Schachspieler im »Café Select«: den ungarischen Grafen, der seine Güter verteilt und sich solcherart bei den Standesgenossen unmöglich gemacht hatte. Sie sah David Deutsch, der seinen soziologischen Studien nachging, erschreckend bleich war und sich schief verneigte. Er lehnte es aufs entschiedenste ab, von sich selbst zu sprechen: »Mein Fall ist melancholisch«, sagte er kurz. »Ich muß irgendwie mit ihm fertig werden.« Indessen sprach er von Martin. »Weißt du noch, Marion? Weißt du noch?« – Ja, sie wußte noch. Sie vergaß die Gesichter nicht, die untergetaucht waren ins Nichts; nur zu genau erinnerte sie sich ihrer. Ach Martin – deine kokett-pedantische Stimme – »Natürlich bin ich eigentlich kein Morphinist – weißt du« – wohin, wohin? Ach Marcel – dein lockend-klagender Vogelschrei auf der Treppe – wohin? Und dann die Sturzflut der Worte; der Blasphemien, Flüche, Zärtlichkeiten – wohin?
Ein paar Tage, ehe Marion reiste, kam noch eine Aufforderung, die sie nicht ablehnen wollte. Eine Massenversammlung für die spanischen Loyalisten wurde veranstaltet in einem der größten Pariser Säle. Marion sollte unter den Sprechern sein – nicht als Rezitatorin diesmal, sondern als einfache Rednerin; es war ihr eigenes Wort, was man hören wollte, ihren Protest, ihren Aufruf. Hierüber freute sie sich und war auch etwas erstaunt. ›Bin ich eine – Persönlichkeit, daß man mich heranzieht zu so großen Anlässen?‹ dachte sie, fast erschrocken. ›Habe ich mir einen Namen gemacht im Lauf dieser bitteren Jahre? Ich bin herumgereist und habe Verse aufgesagt … Bin ich dadurch berühmt geworden?‹
Später fiel ihr ein, daß man sie auf dem Podium haben wollte, um Marcel Poiret zu feiern – den Soldaten, den Dichter, Helden, Märtyrer. Sie war seine Gattin gewesen. Sie trug seinen Namen. – Alle im Saal erhoben sich von ihren Sitzen, als die Witwe des Märtyrers ans Rednerpult trat. Tausende standen stumm – Pariser Arbeiter und Intellektuelle und Frauen – sie reckten schweigend die Faust; sie senkten die Stirnen zu seinem Gedächtnis. Marion hatte Tränen in der Stimme, als sie zu sprechen begann. Wie glücklich wäre ihr Marcel, wenn er dies sehen dürfte! (Vielleicht darf er es sehen; vielleicht darf er glücklich sein …) Sein Leben lang hatte er darunter gelitten, daß er von der Masse nicht verstanden wurde. Nun, da er tot war, huldigte sie ihm. Die einfachen Leute konnten ihn erst begreifen, da er sein Blut vergossen hatte, für die gemeinsame Sache. Er hatte gekämpft, gelitten und sich geopfert; deshalb reckten sie nun die Fäuste, ihm zu Ehren und im Gedenken an ihn. – Marion redete einfach zu ihnen, wie sie empfanden. Sie rief: »Er ist in einem großen Kampf gestorben, der Kampf geht weiter, vielleicht stehen wir erst am Anfang.« Sie erzählte – als wären es gute alte Bekannte, an die sie sich wendete: »Ich fahre jetzt nach Amerika, dort haben wir Freunde, ich werde sie von euch grüßen. Überall finden wir tätige Kameraden. Gerade weil die Freiheit überall gefährdet ist, gibt es überall Tapfere, die sie verteidigen wollen. Schließlich aber gewinnen wir unseren Kampf!« Dies erklärte sie zuversichtlich; hatte dabei auch den altbewährten Flammenblick, und sah schön aus, wie sie nun ihrerseits die Faust hob – als Abschiedsgruß an das französische Volk.
Die Tausende im Saal hatten noch mehrfach Gelegenheit, von den Sitzen zu springen, Lieder zu singen und die Fäuste zu recken; verschiedenen Rednern gelang es noch, sie aufzurütteln und zu begeistern. Der junge Deutsche, der gerade erst aus Madrid hier eingetroffen war und auf zwei Krücken humpelte – denn ein Granatsplitter hatte ihm den Hüftknochen zerschmettert – erntete Beifallsstürme, als er gelobte: »In Spanien habe ich für die spanische Freiheit gekämpft. Ich würde auch für eure Freiheit in Frankreich kämpfen, wenn es jemals sein müßte – das verspreche ich euch!« Daraufhin wurde die »Internationale« gesungen. – Mit ihr empfing man auch den jungen Holländer, der damals, bei der Schwalbe – nach Martins Beerdigung – heroische Anekdoten erzählt hatte. Er gefiel den Leuten; denn er schien einer von ihnen. Sein langes, starkknochiges, kräftig gebräuntes Gesicht glich dem eines Bauernburschen – wenngleich bei genauerem Hinsehen festzustellen war, daß es in den vertieften Zügen die Zeichen und Male des Geistes trug. Um ergreifende Anekdoten »aus dem Alltag des Bürgerkriegs« war er auch jetzt nicht verlegen. Er rührte seine Zuhörer, und übrigens verstand er es, sie zu erheitern; denn er streute Komisches ein.
Hingegen schien es die Absicht des hochberühmten französischen Romanciers, einzuschüchtern und Entsetzen zu verbreiten. Von allen Autoren der jüngeren Generation war er es, der am meisten bewundert wurde – nicht nur für seine Werke, sondern auch für politische Taten. Um die Sache des Fortschritts hatte er sich aktiv verdient gemacht. Die Masse kannte seinen Namen; viele hatten sogar seine Bücher gelesen. Man jubelte ihm zu; er antwortete mit einem nervösen Nicken – das er übrigens während seines ganzen Vortrages beibehielt: es war fast ein Tick. Sein schöner, schmaler Kopf zuckte und machte seltsam hackende kleine Bewegungen. Unter einer drohend geduckten, breiten und blanken Stirn brannten, befehlshaberisch und begeistert, die tiefen Augen. Unter einer nervös schnüffelnden Nase verzerrte und öffnete sich der Mund. »Camarades!« schrie der große Romancier in die erschütterte Menge. »Was ist Spanien? Nur die Generalprobe! Es wird schlimmer kommen. Heute kreisen die Bombenflugzeuge der Faschisten nur über Barcelona, Valencia, Madrid – über den schönen Städten des tapferen spanischen Volkes. Auch über unseren Städten werden sie kreisen. Ich sehe den Himmel verdunkelt …« Er beschwor apokalyptische Bilder. »Camarades – wir werden alle keines natürlichen Todes sterben!« prophezeite er gräßlich. »Unsere Generation wird aufgeopfert!« – Er war ein vorzüglicher Redner. Kein Laut war im Saale zu hören, während seine Stimme donnerte, seine Augen blitzten. Man war entzückt und entsetzt. Er weckte Enthusiasmus und Grauen. Er sprach nicht von Siegeshoffnungen; nur von dem Inferno, das sich vorbereite. An seinem fürchterlichen Ernst aber war zu ermessen, wie entscheidend wichtig der Kampf war. Der Sieg mußte unendlich kostbar sein, wenn es sich lohnte, ihn so teuer zu bezahlen.
Nach so fulminanter rhetorischer Leistung schien es für die nächsten Sprecher fast hoffnungslos, noch irgend Eindruck zu machen. Trotzdem gelang es dem jungen Mann, der nun vom Versammlungsleiter vorgestellt wurde. Es war Kikjou – schon sein Name befremdete; beinah niemand hatte vorher von ihm gehört.
Er stand da, schmal und jung, und von seinem Antlitz kam ein Leuchten wie von weißer Flamme. War der Engel noch in seiner Nähe – der Unsichtbare, Geschwinde – und gab ihm von seinem Glorienschein etwas ab? – Kikjou stellte mit belegter Stimme fest: »Ich bin ein Christ; ich bin fromm« – was wiederum die Zuhörerschaft befremden mußte. Doch nickte man beifällig, als er dann erklärte: »Gerade deshalb verabscheue ich den General Franco und seine Faschisten. Sie morden nicht nur, sie wagen es, ihre Schandtaten im Namen des Herrn zu begehen, und schänden so den Allerhöchsten Namen. Sie meinen ihre schmutzigen Interessen und reden von Jesus Christus. O Schmach! O Ruchlosigkeit! – Die Folge hiervon muß sein, daß der einfache Spanier seinen Erlöser, der am Kreuze für ihn starb, hassen lernt, weil er seinen gebenedeiten Namen zusammendenkt mit den Namen von Unterdrückern, Mördern, Briganten. – Ich bin in Spanien gewesen«, teilte Kikjou mit. »Das erste Mal nur ganz kurz, unter seltsamen Umständen« – hierbei lächelte er, schamhaft und benommen – »dann ausführlicher; monatelang. Ich habe die Verhältnisse dort studiert; habe wohl auch versucht, mich nützlich zu machen. Die Berichte über meine Eindrücke und Tätigkeiten sind in vielen katholischen Zeitungen zu lesen; vielleicht haben einige von euch sie zu Gesicht bekommen. – Ich bedaure die Priester, die sich dazu hergegeben haben, Werkzeuge des heidnischen Faschismus zu sein. Der Schade, den sie der Sache des Christentums zugefügt haben, ist unermeßlich. Gott möge ihnen verzeihen; es geht über meine Kräfte, ohne Bitterkeit und Haß, ohne Verachtung an sie zu denken.« – Er erzählte, schilderte, was er gesehen hatte; seine Darstellung war knapp, anschaulich, sachlich. Er sagte: »Ich gehe nach Spanien zurück. Ich bete jede Nacht zu Gott, daß die gute Sache, die menschliche Sache siegen möge.« Ehe er abtrat, hob auch er die geballte Faust. – Er war etwas breiter in den Schultern geworden. Nun war er kein Knabe mehr.
Marion hatte ihn seit Marcels Tod nicht gesehen. Sie begegneten sich im Treppenhaus. »Du hast gut gesprochen«, sagte Marion. Er lächelte. »Man bekommt Übung … Früher haben die Menschen mir Angst gemacht. Jetzt ist es mir ganz natürlich geworden, ihnen zu sagen, was ich denke und fühle.« – »Du hast dich verändert.« Marion schaute ihn nachdenklich an. Er, statt zu antworten, bekam plötzlich einen Blick, der in Fernen ging. Auch der bleiche Glanz auf Stirn und Lippen war wieder da, während er leise sagte: »Marcel ist leicht gestorben. Er hat keine Schmerzen gehabt – oder doch nicht lange. Ins Herz getroffen. Tot.« Marion, furchtbar erschrocken, wollte fragen: Woher weißt du das? – Und: Wie kommst du auf diese Worte? – Aber andere Menschen drängten sich dazwischen; das Treppenhaus füllte sich, es gab eine Pause im Saal. Kikjou wurde von Marion getrennt. Er winkte noch einmal; der Blick seiner kindlichen, vielfarbigen, weit geöffneten Augen – ein freundlicher und ernster, dabei fast lustiger Blick – traf sie noch. Dann war er verschwunden, wie verschluckt von den Menschenmassen. Er wurde einer von ihnen; Marion fand ihn nicht mehr.
Adieu, kleiner Kikjou – auch du bist durch Abenteuer gegangen, die dich bedeutend verändert haben. ›Was ist aus le petit frère de Marcel geworden?‹ dachte Marion, innig betroffen. ›Der reizende, etwas suspekte Abenteurer – Martins schwieriger Liebling – zu was hat er sich entwickelt, und was wird aus ihm? – Sein Gesicht ist jetzt viel weniger weich, als ich es früher gekannt habe; härter, kühner, männlicher geworden. Es freut mich so, daß ich ihm noch begegnet bin! Ein gutes Wiedersehen zum Schluß. Ein guter Abschied von Europa; ein hoffnungsvoller Abschied.‹
Während der letzten Tage, die sie in Paris verbrachte, war sie besser gestimmt als die ganzen Wochen vorher; vielleicht hing es mit Kikjou zusammen, und er war es wohl, dem sie dankbar sein mußte.
Sie ging durch die geliebten, vertrauten Straßen und dachte: ›Au revoir. Ich sehe euch wieder. Wir sind noch nicht fertig miteinander; noch lange nicht. Uns steht noch allerlei bevor – euch und mir: nicht nur Bitteres, sondern auch Triumphe. Jetzt haben wir keine gute Zeit, viele Gefahren drohen; doch kommt es auch anders, auch besser.
Au revoir, Boulevard St.-Germain, Rue Jacob, Rue des Saints-Pères, Boulevard St.-Michel, Rue Monsieur le Prince; au revoir, Quai Voltaire, Place de la Concorde, Boulevard des Italiens, Place Blanche, Boulevard de Clichy, lächerliche alte Moulin Rouge. Auf Wiedersehen, du taubengraues, perlengraues Licht der geliebten Stadt! Heimat der Pariser, Heimat der Franzosen, Heimat der Heimatlosen, Herz Europas – leb wohl! Sieh mich nur recht spöttisch und zurückhaltend an – ich lasse mich von dir nicht kränken. Bin ich die Unerwünschte für dich, l’indésirée, und am Ende doch nur eine sale boche? Was ficht’s mich an? Ich liebe dich, auch wenn du keinen Wert darauf legst. Je t’aime malgré toi. Deine kühlen, spöttischen Blicke ärgern mich nicht; um es nur zu gestehen: eher sind sie geeignet, mich zu amüsieren. Was sagen mir deine Blicke? – Alors, en somme, Madame, vous êtes sans patrie … Da muß ich freilich etwas widersprechen. Heimat – das Wort ist so voll mit Sinn, so inhaltsreich, ist so schwer und tief. Ich bin so vielfach gebunden – nicht nur an Deutschland, das ich nie verlieren kann; auch an diese Stadt, die ich liebe, und an den Erdteil, den problematischen Kontinent, an das alte, besorgniserregende, treu geliebte Europa … Keine Heimat? Zuviel Heimat … Zuviel Erinnerungen … Würde ich so schweren Herzens abfahren, wenn es nicht die Heimat wäre, die ich verlasse? – Ich habe Angst um Europa. Ich sorge mich um Paris wie um eine Kranke. Ich zittere für Deutschland wie für einen nah Verwandten, der irrsinnig wird. Trotzdem reise ich ab. Ist dies Flucht? – Nein; denn ich komme wieder. Und vielleicht kann ich meinem alten Erdteil jetzt besser dienen – dort draußen und drüben.
Ich trage meine Sorge um Europa in die Welt hinaus.
Adieu, Champs-Élysées, Rond Point, adieu, Étoile! Ihr Häuser, ihr Bäume, sanftes Wasser der Seine, ihr Brücken, ihr Brunnen; ihr Menschen – lachende oder schimpfende oder betrübte Menschen; ihr blassen Kinder, spielend im Jardin de Luxembourg – lebt wohl!
Adieu, Paris – und leb wohl!‹