Читать книгу Vermisst - Klaus Püschel - Страница 4
Vermisst Ein Mensch verschwindet, und es bleiben nur Fragen
ОглавлениеDa ist ein Kerker, in dem ein Kind eingesperrt ist und verzweifelt weint und nach seinen Eltern ruft. Wir stellen uns einen Wald vor, in dem sich ein Mädchen verirrt hat und völlig erschöpft im Schatten eines Baumes zusammensackt. Oder es stürzt in ein Gewässer und verschwindet darin. Wir sorgen uns um unseren alten, dementen, kranken Verwandten, der vielleicht orientierungslos durch die Gegend irrt. Der nicht nach Hause findet, stürzt, bewusstlos wird und stirbt. Wir sehen vor unserem geistigen Auge einen Pistolenlauf, auf den der Bruder starrt und in Panik die tödliche Kugel erwartet. Wir malen uns einen fensterlosen Raum aus, in dem eine Frau als Geisel gefangen gehalten wird, ohne Essen und Trinken, angekettet.
Unsere Fantasie entwirft die schlimmsten Szenarien, wenn ein geliebter Mensch plötzlich aus seiner gewohnten Umgebung verschwindet. Wenn wir nicht wissen, was ihm widerfahren ist, ob und wie sehr er leidet. Wenn wir im Ungewissen bleiben, in angespannter, zermürbender Wartestellung, vielleicht über Wochen, Monate, Jahre. Für immer?
Vermisst …
Opfer sind nicht nur die Eingeschlossenen, die Verschollenen oder die Menschen in den Gräbern. Opfer sind auch die anderen, die zurückbleiben und ihre Angehörigen oder Freunde vermissen. Die lange im Unklaren ausharren müssen und vielleicht niemals Gewissheit bekommen. Warten kann zermürben und zerstören. Warten zu müssen kann unerträglich werden, wie ein tiefer, alles verschlingender Abgrund. Wir denken an den letzten Blick, den wir mit diesem Menschen getauscht haben. Die letzten Worte. War der letzte Moment ein Streit? Wie war es genau, bevor plötzlich alles abriss?
Wie in einer Endlosschleife verfolgt uns dieser allerletzte Moment, da wir unseren geliebten Menschen gesehen haben. Haben wir alles richtig gemacht? Waren wir unfreundlich? Haben wir ihn womöglich vertrieben? Sind wir schuld daran, dass er nicht mehr da ist? Haben wir nicht genug aufgepasst?
Es sind diese Fragen, die uns quälen, wenn der Partner, der Angehörige plötzlich verschwunden ist und vermisst wird. Seit Tagen, Monaten oder auch Jahren. Manchmal ist es fast schon eine Ewigkeit her, gefühlt ein ganzes Menschenleben. Aber auch schon wenige Stunden können sich scheinbar unendlich strecken, wenn Angst uns die Kehle zuschnürt.
Vermisst – ein Thema mit vielen Facetten. Manchmal stellt sich alles als völlig banal heraus. Jemand hat vergessen, sich abzumelden, hat den Zug verpasst, hat eine Autopanne, hat vergessen zu telefonieren und taucht nach kurzer Zeit wohlbehalten wieder auf. Manchmal braucht man einfach etwas Geduld. Es gibt viele Erklärungen dafür, dass eine Person irgendwo irgendwie aufgehalten wird und die Zeit vergisst. Dass sie einfach nicht Bescheid sagt.
Manchmal sind die Umstände beunruhigend, mitunter tragisch. Die Person hat einen schweren Unfall gehabt und liegt bewusstlos im Krankenhaus. Sie hatte keine Papiere bei sich, man konnte sie nicht identifizieren.
In anderen Fällen gibt es eine komplizierte Vorgeschichte, einen komplexen Hintergrund. Die Pläne des anderen sind den Angehörigen aber nicht bewusst. Dabei kann es sich um ein absichtliches Wegbleiben handeln, um einen Rückzug aus der gewohnten Umgebung, eine Auszeit, um den Beginn eines „neuen Lebens“ an einem anderen Ort, wobei alle Brücken kommentarlos abgebrochen wurden. Manchmal, findet man später heraus, hat dieser Mensch auch vorher schon ein Doppelleben geführt. Und jetzt lebt er an einem anderen Ort, in einer neuen Umgebung – glücklicher als zuvor? Auch diese Vorstellung zehrt an den Nerven.
Oder der Hintergrund einer Flucht ist kriminell, eine Person ist geflohen, etwa um sich der Strafverfolgung zu entziehen, eventuell auch um sich aus einer belastenden Umgebung mit Ärger, Stress, Schulden und Vorwürfen zurückzuziehen. Es kann sich um einen Versicherungsbetrug handeln, um eine Lebensversicherungssumme zu kassieren, wenn ein Mensch verschwindet und dann für tot erklärt wird.
Es kann aber ebenso eine dramatische Entführung gegeben haben, mit anschließender Erpressung und Lösegeldforderung. Oder es handelt sich um einen Mord, vielleicht auch um einen Mord ohne Leiche, damit es keine Spuren mehr gibt.
Ein weiteres Mal gilt die immer wieder zitierte Erfahrung der Rechtsmedizin: „Es gibt nichts, was es nicht gibt …“
Weil das Phänomen so vielschichtig ist, wird es manchmal überbewertet. Oder umgekehrt werden bedrohliche Umstände und Signale überhaupt nicht wahrgenommen. Manchmal wird die Situation zu Unrecht extrem unterschätzt und zu wenig ernst genommen.
Für die Polizei ist es keine leichte Aufgabe, hier eine angemessen professionelle und im Hinblick auf die betroffenen Angehörigen emotional verständnisvolle Herangehensweise zu praktizieren. Manchmal wird jemand mit großem Aufwand fieberhaft gesucht, er hat sich aber nur gedankenlos nicht ordnungsgemäß verabschiedet und taucht völlig unbehelligt wieder auf. Auf der anderen Seite wartet die Polizei zuweilen sehr lange mit Suchmaßnahmen, wiegelt ab, tut zunächst nichts oder nur wenig, obwohl es um Leben und Tod geht oder ein Tötungsdelikt bereits vollendet ist.
Die Erfahrung mit zahlreichen zum Teil bizarren rechtsmedizinischen Fällen führt zu dem eindringlichen Rat, jede Vermisstensache standardisiert und hoch professionell anzugehen. Dies ist in den neuen Konzepten der Kriminalpolizei auch ausdrücklich so vorgesehen. Selbst wenn man weiß, dass mehr als neunzig Prozent der Vermisstensachen letztlich harmlos ablaufen, eine einfache Erklärung finden und ein glückliches Ende nehmen.
Zur Vorgehensweise bei Vermisstensachen hat die Kriminalpolizei speziell in neuerer Zeit Leitlinien und Standards entwickelt, die bei konsequenter Anwendung eine neue Dimension der Sachbearbeitung erwarten lassen. Der im Folgenden referierte Maßnahmenkatalog lehnt sich speziell auch an Aspekte an, die von der Hamburger Kriminalpolizei ausgearbeitet wurden. Die aufgeführten Maßnahmen sind nicht abschließend zu betrachten; ihre Reihenfolge ist dem gegebenen Sachverhalt anzupassen. Für unseren Zusammenhang werden hier nur besonders herausragende Aspekte dargestellt:
•Verifizierung der Personenbeschreibung (Narben, Tätowierung, Schmuck und so weiter; Biometrie)
•Vernehmung des Anzeigenden sowie von wichtigen Zeugen, zum Beispiel im Hinblick auf besondere Umstände wie finanzielle Situation, Krankheit, eventuell notwendige Medikamente, Drogenabhängigkeit, familiäre Ereignisse, um ein mögliches Motiv für das Verschwinden zu erkennen; bestehen spezielle Hinweise auf Eigen- oder Fremdgefährdung?
•Ermittlung des letzten Standorts der vermissten Person, insbesondere auch im Hinblick auf technische Daten (Handyortung, Telekommunikationsüberwachung, Verbindungsdaten, Funkzellendaten und Ähnliches)
•Aufsuchen der Wohnung der vermissten Person, hierbei Sicherstellung von Proben zur DNA-Untersuchung, Geruchsproben für den Einsatz von Spürhunden; Überprüfen bevorzugter Aufenthaltsorte, Garagen, Lauben, direktes Wohnumfeld
•Gegebenenfalls Öffentlichkeitsfahndung (Printmedien, Radio, Internet), insbesondere wenn Gefahr für Leib und Leben der vermissten Person zu begründen ist
•Überprüfung der finanziellen Situation; Kontoübersicht, Berücksichtigung von EC-Karten, Kreditkarten
•Je nach Ausgangssituation Einsatz eines Hubschraubers, von Tauchern, einer Hundertschaft zum Absuchen größerer, eventuell unübersichtlicher Areale
•Anfragen bei Krankenhäusern, Ärzten eventuell Hotels, Flugplätzen, Taxiunternehmen
•Durchsicht persönlicher Sachen: Aufzeichnungen, Computer, Telefon, PC; Auswertung des Routers
•Sicherung von Fingerabdrücken
•Recherchen in sozialen Netzwerken wie Facebook, Twitter, Instagram; gegebenenfalls Überprüfung von Dienstleistern wie Ebay, PayPal
•Möglicherweise Einschaltung weiterer Polizeidienststellen, der Staatsanwaltschaft und von Gerichten.
Endet die Suche nach einem vermissten Menschen damit, dass er nur noch tot aufgefunden werden kann, so ist die definitive Identifizierung durch Polizei oder Rechtsmedizin jedes Mal als ein absolut erschütternder Moment zu bezeichnen. In einem einzigen Augenblick überlagert sich die Erleichterung darüber, dass die Ungewissheit ein Ende hat, mit dem Schmerz, dass man jede Hoffnung aufgeben muss.
Man kann, was in diesem Augenblick geschieht, nur hilflos umschreiben. Immer wieder fallen Worte und Sätze wie „lähmendes Entsetzen“, „das Schlimmste, was Eltern passieren kann“, „der Schmerz hört nie auf“. Solche Äußerungen lassen den Abgrund an Gefühlen erahnen.
Jeder Betroffene verarbeitet die Situation anders: die Mutter, der Vater, der Ehepartner, die Geschwister, die Familie, die Freunde, das soziale Umfeld. Gleiches gilt für die ermittelnden Polizeibeamten, die Rechtsmediziner, die Journalisten, die über solche Fälle berichten, und für alle auf andere Weise Involvierten.
Für die Polizei bedeutet das Verschwinden eines Menschen Dauerstress. Vieles muss jetzt ganz schnell und gleichzeitig organisiert werden, Spurensuche, Ermittlungen, Suchtrupps, Spürhunde. Am Anfang scheint es ein Wettlauf mit der Zeit zu sein. Später fragt man sich, ob die Zeit Abstand schafft?
Nicht selten werden die betroffenen Angehörigen selbst psychisch krank. Das ist immer wieder zu beobachten. Nahe Angehörige, die in psychiatrischen Kliniken behandelt werden müssen. Die Tochter, die mehr als 3000 Gedichte über ihre verschwundene Mutter schreibt. Angehörige, die sich auf lange Reisen begeben, eventuell auch in andere Länder, wenn sie meinen, es gebe eine neue Spur …
Besonders schlimm: Gar nicht so selten gibt es auch Trittbrettfahrer, die merkwürdige Tipps geben, falsche Versprechungen machen, sich Fantasiegeschichten ausdenken. Auf krankhafte Weise suchen sie die Nähe zum Leid der Angehörigen und unternehmen einiges, um es zu vergrößern.
Eine andere zweifelhafte Personengruppe sind Menschen, die Geld verdienen wollen, indem sie das Leid der anderen ausnutzen: Detektive, Hellseher, Wahrsager, zwielichtige Gestalten, falsche Freunde.
Es kursieren Zahlen, die aufrütteln. Laut Bundeskriminalamt wurden im Jahr 2019 bundesweit 15 395 Kinder als vermisst registriert. 98 Prozent der Fälle konnten geklärt werden. Allein in einer Stadt wie Hamburg werden jährlich etwa 5500 Vermisstenvorgänge bearbeitet, darunter 70 Prozent Jugendliche, 10 Prozent Kinder und 20 Prozent Erwachsene. Meist brechen Jugendliche aus, um vor familiären Problemen zu fliehen. Sie wollen damit ein Zeichen setzen, ein Warnsignal. Manchmal steckt eine Gewalterfahrung außerhalb der Familie dahinter. Auch gibt es einen relativ hohen Anteil mehrfach vermisster Minderjähriger, sogenannte „Streuner“.
Die absolute Zahl spurlos verschwundener Kinder seit 1951 erscheint hoch: 1869 Kinder wurden vermisst gemeldet und sind nie wieder gefunden worden.
Andere Alters- und Gesundheitskonstellationen erfordern eine ähnlich dringliche Aufarbeitung. So gibt es zum Beispiel immer wieder Alte und Kranke, Desorientierte, Demente, die den Weg nach Hause nicht mehr finden und dadurch möglicherweise in Gefahr geraten.
Wir möchten an dieser Stelle in aller Kürze einige Fälle skizzieren, die das breite Spektrum der Vermisstensachen aus Sicht der kriminalistischen und rechtsmedizinischen Praxis deutlich machen.
Ein junger Mann aus Schottland will zusammen mit seinem Bruder dessen Abschied vom Junggesellendasein feiern. Man unternimmt eine Kneipentour in Hamburg, auf der der Mann plötzlich spurlos verschwindet. Mit großem Einsatz wird nach ihm gesucht, mehrfach kommt auch der Bruder erneut nach Hamburg. Die gesamte Familie und die Freunde versuchen, den Verschwundenen zu finden. Erst nach Wochen wird er entdeckt — als Wasserleiche. Es stellt sich heraus: Auf dem Rückweg von der Kneipe ins Hotel war der junge Mann in die Elbe gestürzt und ertrunken.
Besonders dramatisch ist der Fall der verschwundenen Hilal, bis heute. Die Zehnjährige wird am 27. Januar 1999 in Hamburg zuletzt gesehen, als sie sich wegen eines guten Schulzeugnisses Süßigkeiten kaufen darf. Die Polizei leitet bereits wenige Stunden nach dem mysteriösen Verschwinden eine Suche ein. Immer wieder gehen Hinweise ein, unter anderem nachdem die ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY … ungelöst“ über den Fall berichtet hat. Zuletzt suchen Beamte der Ermittlungsgruppe „Cold Cases“ nach Spuren in der Vermisstensache, die bis heute ungeklärt ist.
Im Fall einer Familientragödie aus Wedel bei Hamburg hat die Polizei mehrere Tage nach der Mutter zweier kleiner Kinder gesucht. Der zwei Jahre alte Junge und seine fünfjährige Schwester sind zuvor von den Großeltern tot in ihrem Zuhause aufgefunden worden. Jemand hat sie ertränkt. Kurze Zeit später wird bekannt, dass der Vater sich von einem siebenstöckigen Haus gestürzt hat. Es stellt sich heraus, dass er der Mörder seiner Kinder ist. Drei Tote in einer Familie — ein furchtbares Drama. Aber was ist mit der Mutter der ermordeten Geschwister? Man hofft, dass zumindest die gebürtige Bolivianerin überlebt hat, dass sie einfach verreist ist. Aber würde sie dann über Tage ihr Mobiltelefon ausschalten? Der Verdacht, der mit jedem Tag ohne Lebenszeichen immer wahrscheinlicher wird: Auch die 37-Jährige ist tot. Drei Tage später wird der Leichnam der Vermissten nur wenige Meter vom Haus der Familie entfernt gefunden. Leichenspürhunde haben die Ermittler zu einem schmalen, zugewucherten Streifen neben dem Grundstück der Familie geführt, wo der übel zugerichtete Körper verscharrt war.
Persönlich besonders belastend waren die Versäumnisse von Rechtsmedizin und Polizei im Fall eines jungen Mannes, der nach einem St. Pauli-Besuch nicht mehr nach Hause kam. Die Mutter hat mehr als sieben Jahre nach ihrem Sohn gesucht, überall in Deutschland. Sie hat jede einzelne in den Medien gemeldete Vermisstensache und das Auffinden eines unbekannten Leichnams irgendwo in Deutschland gezielt überprüft, in banger Sorge, ob es sich um ihren Sohn handeln könnte.
Das schwer Bedrückende aus Sicht von Rechtsmedizin und Polizei, ein kaum verzeihlicher Fehler: Bereits sechs Wochen nach dem Verschwinden des jungen Mannes war ein fortgeschritten fäulnisveränderter Leichnam im Institut zu untersuchen. Beim Messen der Körperlänge wurde ein Übertragungsfehler gemacht, sodass die Polizei von einer falschen Körpergröße ausging und einen Zusammenhang mit dem Vermissten zunächst ausschloss. Erst Jahre später wird durch spezielle DNA-Untersuchungen und einen Abgleich in der Kartei des Bundeskriminalamts die wahre Identität des unbekannten Leichnams festgestellt. Man hätte der Mutter Jahre vergeblichen Suchens und Wartens ersparen können.
Alles in allem ist in einem Land wie Deutschland die Erfolgsquote bei der Identifizierung unbekannter Toter in der Rechtsmedizin allerdings vergleichsweise hoch; sie liegt bei über 95 Prozent. Es verbleiben letztlich nur einzelne nicht identifizierbare Leichen, die dann als „unbekannt“ erdbestattet werden.
Erwähnt sei der Reemtsma-Entführer Wolfgang Koszics, der am äußersten westlichen Ende von Europa, in Portugal, starb. Er hat sehr wahrscheinlich selber seinem Leben ein Ende gesetzt, indem er in suizidaler Absicht von einer hohen Klippe sprang. Sein Ziel war es eigentlich, vollständig zu verschwinden, er erwartete, dass der Leichnam auf den Atlantik hinausgetrieben werde. Durch besondere Strömungsverhältnisse landete der Körper allerdings in einer nahe gelegenen Meeresbucht. Immerhin dauerte es fast ein Jahr, bis die Identität des Leichnams festgestellt war.
Ähnliche Fälle gibt es immer wieder. Im Zusammenhang mit einem Suizid suchen die betreffenden Personen mitunter sehr einsame Plätze auf. Möglicherweise springen sie auch von einem Kreuzfahrtschiff in den unendlichen Ozean. Ihr Ziel ist ein Szenarium, bei dem der Leichnam vollständig von dieser Welt verschwindet.
Auch bei spektakulären Kriminalfällen ist nicht selten eine Vermisstensache inkludiert. Beispielsweise waren die vier Opfer des St. Pauli-Mörders Fritz Honka sämtlich ältere Prostituierte, die so isoliert und einsam lebten, dass sie von niemandem vermisst wurden. Ganz anders verhielt es sich bei den beiden Frauen, die der Hamburger Säuremörder getötet und in Fässern vergraben hatte. Jahrelang hatten die Fälle bei der Polizei als nicht weiter relevante Vermisstensache gegolten, weil man die Frauen im Ausland vermutete. Auch die vom sogenannten Maskenmann aus Schullandheimen entführten Kinder wurden zunächst wochenlang vermisst, weil der Mann die Körper der von ihm getöteten Jungen versteckt beziehungsweise vergraben hatte.
Speziell im Zusammenhang mit politisch motivierten Tötungen fehlt manchmal das „Beweismittel Leiche“. Erinnert sei an den Journalisten Jamal Khashoggi aus Saudi-Arabien, dessen Leichnam niemals gefunden wurde. Dennoch wurden mehrere Männer als Mörder verurteilt. Im afrikanischen Benin war im Zusammenhang mit Wahlen ein Oppositionspolitiker wochenlang verschwunden, bevor man seinen Leichnam fand, vergraben hinter der Hütte eines Voodoo-Zauberers.
Entführungen sowie das Verschwindenlassen von Personen nach ihrer Ermordung kennt man insbesondere aus dem Bereich der organisierten Kriminalität. Kriminellen Organisationen wie der Mafia werden spezielle Kenntnisse und Verfahren zugerechnet, mit denen man Tote verschwinden lassen kann. Solche Fälle von „Mord ohne Leiche“ führen häufig dazu, dass die Täter nicht zu überführen sind.
In Zusammenhang mit kriegerischen Handlungen kommt es in einem großen Ausmaß zu Tötungen, Verschollenheit und Vermisstensachen. Erinnert sei zum Beispiel an die vielen Tausend Toten aus Srebrenica in Bosnien-Herzegowina, deren Körper und Überreste man immer noch sucht, um sie den Angehörigen zurückzugeben. Erinnert sei auch an die vielen Toten und Massengräber vergangener Kriege sowie aktueller kriegerischer Auseinandersetzungen, etwa in Syrien. In Ruanda wurden während des Genozids an den Tutsi eine Million Menschen innerhalb von hundert Tagen getötet. Hamburger Rechtsmediziner haben sich an der Ausgestaltung einer Gedenkstätte in Murambi am Rande des Regenwaldes beteiligt. Dabei ging es ausdrücklich nicht um die Identifikation einzelner Toter, sondern um das Wachhalten der Erinnerung an den Genozid.
Diese traurige und zugleich tröstende Wahrheit betrifft Menschen auf der ganzen Welt: Auch wenn ein geliebter Mensch vermisst bleibt — in unseren Erinnerungen ist er immer bei uns.