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Versenkt in einem Grab aus Stein

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Es ist tiefe Nacht, als sich eine Gestalt aus dem Dunkel des Hauseingangs schleicht. Der Mann ist schwarz gekleidet, nur seine Silhouette ist gegen den sternenlosen Himmel auszumachen. Er läuft geduckt zu einem Nebengebäude, dabei wuchtet er eine Schubkarre vor sich her. Das Rad quietscht unter dem schweren Gewicht eines massigen Körpers, der hastig und nachlässig in der Karre verstaut worden ist. Zwei Beine eines Menschen hängen schlaff über den hinteren Rand des Gefährts. Und vorne, wo der Kopf zu liegen gekommen ist, tropft unablässig Blut als schmale Spur in den lehmigen Boden des Hofes. Die finstere Gestalt setzt einen Spaten an, um ein Grab zu schaufeln — ein Grab, das niemals jemand finden soll.

Das Böse hat in ein kleines, verschlafenes Dorf Einzug gehalten.

Das Abgründige hat sich an einem Ort eingenistet, in dem bis dahin die ländliche Harmonie herrschte, die Stille. Es ist eine Gegend in Schleswig-Holstein, wo der Blick meilenweit schweifen kann, wo Tiere auf satten Weiden grasen, eine Region, in die Menschen ziehen, die Ruhe suchen. Es ist auch ein Ort, wo ein Lindenblatt ins Wappen aufgenommen wurde, als Symbol für einen Baum, dem von alters her die Kraft zugesprochen wird, das Schicksal „gelinde“ zu stimmen, also milde. Es hat nicht gefruchtet.

Denn hier, in diesem 300-Seelen-Ort in Dithmarschen, hat sich ein Verbrechen abgespielt, das in seiner Brutalität und seiner Abgebrühtheit schockiert. Es ist ein Fall, der schließlich als „Stückel-Mord“ durch die Medien geht. Lange Zeit ist die Tat unentdeckt geblieben. Es hat keine Leiche gegeben, noch nicht einmal einen ernsthaften Verdacht. Bis ein Schüler eines Tages plötzlich mitten im Unterricht aufsteht und wortlos das Klassenzimmer verlässt. Er hat es eilig. Zu lange schon hat sein Gewissen den 17-Jährigen wie eine schwere Last bedrückt. Jetzt geht er zur Polizei. Er hat sich entschlossen, das Unfassbare zu melden.

Knapp zwei Jahre zuvor, im April 2017, macht man sich im Ort noch nicht viele Gedanken, als ein einundvierzig Jahre alter Mann spurlos verschwindet. Es handelt sich um einen Fenster- und Treppenverkäufer, der seit einigen Jahren zusammen mit seiner Lebensgefährtin und den beiden gemeinsamen Töchtern auf einem Hof in dem kleinen Ort im Kreis Steinburg lebt. Die vier halten Pferde, Schafe, Hühner und Gänse, es sieht nach dem harmonischen Landleben einer glücklichen Familie aus.

Als die Frau ihren langjährigen Bekannten Yasar S. als neuen Mitarbeiter ein Zimmer auf dem Hof beziehen lässt, ist es jedoch mit der Harmonie vorbei. Die Chefin und der 46-Jährige kennen sich von früher aus dem Hamburger Rotlichtmilieu, wo sie als Prostituierte gearbeitet hat und er als Aufpasser. Offenbar schweißt die gemeinsame Vergangenheit die beiden mehr zusammen, als es dem Familienleben guttut. Der neue Mitbewohner wird nun zum Störfaktor auf dem Hof; es kommt zu Spannungen zwischen ihm und dem Gutsbesitzer. Wenn der eine der Lebensgefährte der Hausherrin ist, der andere aber nun ihr Liebhaber wird, kann das nicht gutgehen.

Und dann verliert sich Ende April 2017 von dem Familienvater jede Spur. Seine Partnerin Jessica M. bleibt gegenüber ihrem Umfeld bemerkenswert gefasst. Sie erzählt einer Nachbarin, dass ihr Mann, der gebürtige Pole Miroslav P., wohl abgehauen sei, vermutlich in sein Heimatland. Sie habe das Haus verlassen vorgefunden, als sie von einem Ausflug nach Hause gekommen sei. Alle Türen hätten offen gestanden. Etwa eine Woche später meldet die 37-Jährige ihren Lebensgefährten offiziell als vermisst.

Ahnt sie, dass es vermutlich keine aufwendigen, intensiven Suchmaßnahmen geben wird?

Wenn ein Kind oder Jugendlicher vermisst wird, wird bei der Polizei sehr zügig eine Suchaktion in die Wege geleitet, oft mit mehreren Hundertschaften. Je nach Situation werden auch Hunde, Hubschrauber und Wärmebildkameras eingesetzt. Alles wird getan, um das Kind, das vermutlich in Gefahr schwebt, möglichst schnell zu finden. Jede Stunde zählt, vielleicht sogar jede Minute.

Anders ist es bei Menschen im Erwachsenenalter. Hier wird von der Polizei nicht sofort eine Ablaufkette in Gang gesetzt mit dem Ziel, den Verschollenen zu finden. Es ist die Entscheidung eines Erwachsenen, ob er oder sie vielleicht eine Auszeit braucht, für eine Stunde — oder für ein neues Leben. In Deutschland ist es das Recht eines jeden Erwachsenen, seinen Aufenthaltsort frei zu wählen. Er braucht diesen Ort auch nicht seinen Angehörigen oder Freunden mitzuteilen. Eine Ausnahme gilt nur dann, wenn die Person nicht im Vollbesitz ihrer geistigen oder körperlichen Kräfte ist. Oder wenn es den Verdacht gibt, derjenige könnte in Lebensgefahr sein, sei es durch einen geplanten Suizid oder weil er beispielsweise Opfer eines Unfalls geworden sein könnte.

Oder einer Straftat.

Einen solchen Hinweis, dass Miroslav P. womöglich Opfer eines Verbrechens geworden ist, bekommt die Polizei lange Zeit nicht. Denn die, die etwas darüber wissen könnten, schweigen. Einzig der vierzehn Jahre alten Tochter des vermissten Mannes gelingt es nicht, vollkommen dicht zu halten. Die Schülerin schreibt zur Zeit des Verschwindens ihres Vaters eine verklausulierte Chat-Nachricht an ihren Freund. Sie gibt ihm dabei zu verstehen, er solle jeweils nur das erste Wort in jedem Satz lesen.

Die Wörter ergeben eine verstörende Nachricht: „Heute bringen wir meinen Vater um.“

Ihr Freund hält das zunächst für einen schlechten Scherz. Wahrscheinlich will er einfach glauben, dass nichts wirklich Schlimmes geschehen sei. Weitere Erzählungen seiner Freundin über einen angeblichen Mord und eine Leiche auf dem Reiterhof behält er ebenfalls zunächst für sich. Er hat Sorge, dass er und seine Familie in Gefahr geraten könnten, wenn er seine Vermutungen der Polizei offenbaren würde.

Doch schließlich, fast zwei Jahre später, erdrückt ihn die Last der dunklen Ahnung, dass ein Mensch gewaltsam zu Tode gekommen ist. Sie wiegt so schwer, dass es den Jugendlichen im Schulunterricht nicht mehr auf seinem Stuhl hält, sondern zur Polizei nach Itzehoe treibt. Der Jugendliche wirkt auf die Ermittler aufgewühlt und ängstlich. Er schildert den Beamten, seine Ex-Freundin habe ihm seinerzeit erzählt, dass ihr Vater von dem neuen Liebhaber ihrer Mutter in eine Falle gelockt und getötet wurde. Der Leichnam sei in der Reithalle des Hofes zu finden. Dort soll der Körper mit Chemikalien überschüttet und verscharrt worden sein.

Im Zusammenhang mit der Aussage des Schülers gewinnt bei weiteren Ermittlungen die Beobachtung eines Mitarbeiters in einem Landhandel besondere Bedeutung. Ihm ist es merkwürdig vorgekommen, dass ein Kunde mehrere Säcke Branntkalk gekauft hat, insgesamt sind das 150 Kilo. Für eine Firma wäre das keine ungewöhnlich hohe Menge, für eine Privatperson schon. Branntkalk wird in der Bauindustrie als Beimischung zu Mörtel und Putzen verwendet. Früher nutzte man ihn zur Desinfektion von Begräbnisstätten. Und: Er hat eine geruchsbindende Wirkung.

Wofür also wurde dieser Branntkalk genutzt? Der Mann, der den erstaunlichen Kauf getätigt hat, ist Yasar S., der neue Bewohner auf dem Reiterhof — jener Mann, der vom Mitarbeiter zum engen Vertrauten der Hausherrin avanciert ist.

Die Angaben der Zeugen sorgen dafür, dass die Ermittler Yasar S. intensiver ins Visier nehmen. Am 5. März 2019 rückt die Polizei schließlich mit großer Besetzung in dem Dithmarscher Ort an. Etwa hundert Beamte sind auf dem Reiterhof im Einsatz, um dem Verdacht eines Mordes durch den 46-Jährigen auf den Grund zu gehen. Die Hamburger Rechtsmedizin unterstützt die Hausdurchsuchung vor Ort, weil die Ermittler davon ausgehen, dass wohl ein Leichnam gefunden wird. Die Ausgrabung des Körpers soll von einer Anthropologin professionell begleitet werden.

Die Polizei durchkämmt den gesamten Hof und setzt dabei unter anderem Metallsuchgeräte und speziell ausgebildete Hunde ein. Schließlich wenden sich die Ermittler gezielt einem Komplex zu, bei dem ein Leichenspürhund anschlägt und den der 17-jährige Zeuge bereits in seiner Aussage genannt hat: die Reithalle. Die Ermittler räumen das Gebäude frei, der Boden wird abgezogen und sauber gefegt. Nachdem die Staubschicht beseitigt ist, fällt etwa in der Mitte ein rechteckiger Abschnitt auf, wo der Boden festgestampft wurde. Der Bereich misst zirka zwei mal einen Meter und setzt sich farblich deutlich von der Umgebung ab.

Ein verborgenes Grab?

Zentimeter für Zentimeter wird der Boden, in dem sich große Mengen Branntkalk befinden, abgetragen. In rund 50 Zentimeter Tiefe stoßen die Ermittler auf eine körperähnliche Struktur, die entfernt an einen menschlichen Rumpf erinnert, ohne Kopf, Arme und Beine. Dieses Gebilde, das von Tampen umschnürt ist, wird immer weiter freigelegt und dann aus der Grube herausgehoben. Die Anthropologin erkennt sofort knöcherne Strukturen, vor allem Wirbel und Gelenke, die am oberen und unteren Ende des Bündels abgrenzbar sind. Dieser Befund deutet stark darauf hin, dass es sich um einen menschlichen Torso handelt. Das Gebilde wird unverzüglich nach Hamburg ins Institut für Rechtsmedizin geschafft.

Die gerichtliche Sektion bestätigt die vorläufige Einschätzung unmittelbar nach der Bergung: Es handelt sich um einen menschlichen Rumpf mit abgetrenntem Kopf, ohne Arme und Beine. Reste eines männlichen Geschlechtsteils sind noch abzugrenzen, der Penis selber fehlt; er ist abgeschnitten worden. Der Torso weist vergleichsweise zarte Schlagadern und knorpelige Rippenansätze am Brustbein auf. Anhand dieser Befunde wird das Alter des Mannes auf ungefähr dreißig bis vierzig Jahre geschätzt, was in etwa zu dem vermissten Miroslav P. passt.

Die Leichenliegezeit wird auf ein bis zwei Jahre taxiert, genauer ist das nicht einzugrenzen. Auch diese Daten würden zu dem Verdacht passen, dass es sich um den verschollenen Familienvater handelt.

Nun geht die Polizei einem weiteren Hinweis nach. Es heißt, der mutmaßliche Täter habe den Toten zunächst zwar als Ganzes in der Reithalle vergraben, ihn dann aber nach mehreren Monaten wieder freigelegt und Kopf, Gliedmaßen und Geschlechtsteil abgetrennt. Für Polizei und Rechtsmedizin stellt sich nun die Frage: Wo sind die noch fehlenden Körperteile?

Auf dem Hof ist alles gründlich abgesucht. Also könnten die Leichenteile ebenfalls eingegraben worden sein — oder in einem Gewässer versenkt. Infrage kommt beispielsweise ein Entwässerungsgraben, der hinter dem Reiterhof entlang verläuft. In Dithmarschen bezeichnet man solche Gräben als Wettern. Polizeitaucher werden eingesetzt. Sie entdecken in dem trüben Wasser der Wettern zunächst fünf Maurer-Kübel aus Plastik mit abgehärtetem Mörtel. Jeweils vier Mann sind vonnöten, um die mehr als hundert Kilogramm schweren Blöcke zu bergen.

So massiv der Mörtel auch ist: Die Röntgenstrahlen einer speziellen mobilen Anlage des Hamburger Zolls durchdringen auch die härteste Masse und verraten Verborgenes: Es sind tatsächlich darin einbetonierte Leichenteile zu erkennen.

Die Einsatzkräfte beschließen nach Rücksprache mit der Rechtsmedizin, die Betonblöcke mit schwerem Gerät aufzubrechen. Arme und Beine kommen in mehreren Teilstücken zum Vorschein, aber noch fehlt ein Oberschenkel. Vom Kopf gibt es ebenfalls keine Spur. Ihn zu finden, ist besonders wichtig. Oft lässt sich bei einer rechtsmedizinischen Untersuchung gerade hier die Todesursache feststellen.

Erneut steigen die Polizeitaucher in den Entwässerungsgraben und finden dort die sechste und letzte mit Mörtel ausgefüllte Wanne. Der Inhalt wird durchleuchtet, die Bilder werden dem Leiter der Hamburger Rechtsmedizin gemailt. Er erkennt eindeutig die Strukturen eines menschlichen Oberschenkels sowie eines Kopfes. Und im Schädel stecken zwei metalldichte Fremdkörper, sehr wahrscheinlich sind es Projektile. Diese Erkenntnisse reichen für Haftbefehle gegen den verdächtigen 46-Jährigen sowie gegen die frühere Lebensgefährtin des Opfers.

Auch diesen letzten Betonblock pickert die Polizei nun auf und sichert die restlichen Leichenteile. Alle Partien des Körpers, die jetzt gefunden sind, werden in die Hamburger Rechtsmedizin gebracht und hier einer Sektion unterzogen. Die forensischen Experten stellen fest, dass kein Körperteil mehr fehlt. Alle Abtrennungsstellen lassen sich passgenau zusammenfügen, wie bei einem Puzzle.

Die Untersuchung ergibt, dass einzelne Gliedmaßen mit unterschiedlichen Werkzeugen abgetrennt wurden. Der Täter hat Messer, Beil und Säge für sein mörderisches Handwerk verwendet. Das Geschlechtsteil ist separat glatt abgetrennt worden. Das führt zu der Frage, ob sich daraus ein Hinweis auf die Motivlage ablesen lässt. Doch eine sexuelle Motivation wird später vom mutmaßlichen Täter bestritten. Er behauptet, der Penis sei zufällig isoliert und nebenbei abgeschnitten worden.

Schon während der Obduktion ergeben sich eindeutige Hinweise, dass es sich bei dem Leichnam tatsächlich um den als vermisst gemeldeten 41-Jährigen vom Reiterhof handelt. Den Ausschlag geben sehr spezielle Tätowierungen, die an dem Körper gefunden werden, unter anderem ein Clownsgesicht. Außerdem stimmt der Zahnstatus mit den Daten überein, die von Miroslav P.s Gebiss vorliegen. Ferner kann durch die Sektionstechnik und durch Bildgebungsmaßnahmen mittels Computertomografie an den einzelnen Leichenteilen klar nachgewiesen werden, in welcher Weise die Leiche zerstückelt wurde.

Als Todesursache stellen die Rechtsmediziner zwei Kopfschüsse fest; einer davon traf das Opfer in den Hinterkopf, der andere rechts am Scheitel. Die deformierten Projektile stecken noch im Schädelinneren. Auch die Reihenfolge der Schüsse — zuerst der in den Hinterkopf — können die Experten eindeutig festlegen. Dabei hilft die sogenannte Puppe’sche Regel: Der Schädel wird durch die Deformationswirkung des ersten Projektils sternförmig aufgesprengt. Der zweite Schuss ruft weitere Schädelbruchlinien hervor, die an den zuvor entstandenen Bruchlinien enden.

Solche Erkenntnisse sind wichtig für die Rekonstruktion der Tat. Hier ist davon auszugehen, dass das Opfer aufrecht saß oder stand, als die erste Kugel aus nahezu horizontaler Position von hinten auf den Mann abgefeuert wurde. Das würde für ein heimtückisch begangenes Verbrechen sprechen: Mord. Beim zweiten Schuss, der den 41-Jährigen in die hintere Scheitelregion traf, war er bereits halb zu Boden gesunken. Das Sektionsergebnis belegt, dass jeder der beiden Schüsse für sich genommen tödlich war.

Ein Kapitalverbrechen also, für das die Täter zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Wie hätte sich der Fall aber wohl entwickelt, wenn die Tochter des Opfers sich nicht ihrem Freund offenbart hätte? Wenn dieser nicht später zur Polizei gegangen wäre? Nur routinemäßig durchgeführte, relativ oberflächliche Ermittlungen der Polizei hätten keinen Fingerzeig für einen Mord gegeben. Die Legende, dass der Mann einfach vermisst und spurlos verschwunden sei, wahrscheinlich zurück in sein Heimatland, hätte wohl funktioniert. Die Wahrheit wäre geschickt vertuscht worden.

So aber, mit den Indizien aus dem Bekenntnis der Tochter, der Aussage ihres Freundes sowie aus den weiteren Ermittlungen kann im August 2019 vor dem Landgericht Itzehoe der Mordprozess gegen das verdächtige Paar beginnen. Die Staatsanwaltschaft wirft Yasar S. und seiner Freundin Jessica M. vor, den früheren Lebensgefährten der Frau heimtückisch getötet zu haben. Laut Anklage lockte die 37-Jährige ihren damaligen Partner in ein Kinderzimmer des Reiterhofs. Dort soll Yasar S. das Opfer aus einem Hinterhalt heraus niedergeschossen haben. Um das Verbrechen zu verschleiern, haben die Täter den Toten zerstückelt und die Leichenteile einbetoniert, heißt es in den Vorwürfen weiter.

Der Angeklagte Yasar S. ist ein Mann, der sich sein ganzes Erwachsenenleben über mit Gelegenheitsjobs durchgeschlagen hat. Er ist vorbestraft, unter anderem wegen Drogendelikten und gefährlicher Körperverletzung. Neben dem eher fülligen Mann auf der Anklagebank wirkt seine mutmaßliche Komplizin zierlich. Das Haar trägt die Frau schulterlang, ihr Gesicht ist blass. Ebenso wie der männliche Angeklagte schweigt sie zum Prozessauftakt zu den Vorwürfen. Wie mag die 37-Jährige sich fühlen gegenüber ihren beiden Töchtern, die auch die Kinder des Opfers sind? Beide, die mittlerweile 16-Jährige und ihre acht Jahre alte Schwester, sind Nebenklägerinnen in dem Verfahren.

Am zweiten Verhandlungstag sagt jener Schüler als Zeuge aus, dessen Gang zur Polizei zum Initialzünder für die Ermittlungen geworden war. Der Zeuge, so heißt es, habe so lange geschwiegen, um sich und seine Familie nicht zu gefährden — und um seine damalige Freundin nicht zu belasten. Denn auch sie scheint in das Verbrechen verwickelt zu sein. Der junge Mann wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit gehört. Doch so viel wird hinterher von seiner Aussage berichtet: Seine frühere Freundin habe ihm von dem Verbrechen erzählt. Sie habe geschildert, dass sie zusammen mit der Mutter den Vater in den Raum gelockt habe, wo er dann von Yasar S. erschossen wurde.

Auch weitere Zeugen belasten die beiden Angeklagten zum Teil erheblich. Vor allem für Yasar S. wird es im Laufe der Beweisaufnahme eng. Da ist beispielsweise ein Mann, der mit dem 46-Jährigen gemeinsam in Untersuchungshaft saß und der jetzt als Zeuge schildert, der Angeklagte habe ihm gegenüber den Mord an seinem Nebenbuhler gestanden. Demnach hat Yasar S. zwei Mal aus nächster Nähe auf Miroslav P. geschossen und ihn so getötet. Er habe den Lebensgefährten der 37-Jährigen umgebracht, weil der gewalttätig gegenüber der Frau gewesen sei. Jessica M. habe sich vorher nicht von dem Vater ihrer Töchter trennen wollen. Weder die Mitangeklagte noch die Tochter hätten etwas mit dem Verbrechen zu tun, soll Yasar S. beteuert haben.

Die Leiche habe er vergraben, dann schließlich wieder ausgebuddelt, zerteilt und „stückweise“ einbetoniert. Zu diesem Schritt habe Yasar S. sich entschlossen, weil der Verwesungsgeruch aus der ersten, vorläufigen Grube zu penetrant gewesen sei.

Vielleicht ist es diese belastende Aussage, die den Angeklagten Yasar S. zum Ende des Prozesses im Januar 2020 dazu bringt, nach langem Schweigen doch noch selber das Wort zu ergreifen. Es ist der 19. Verhandlungstag, als er die tödlichen Schüsse auf seinen Nebenbuhler vor Gericht einräumt. Es sei aber kein Mord gewesen, insistiert der Angeklagte. Er will es eher als Notwehrhandlung verstanden wissen. Demnach habe er gemeinsam mit Miroslav P. Drogen konsumiert — es wäre eine seltene und erstaunliche Eintracht der beiden Kontrahenten gewesen. Plötzlich habe die Tochter des Hausherrn sie bei ihrem illegalen Tun überrascht, erzählt der Angeklagte weiter. Nun sei ihr Vater durchgedreht. Miroslav P. soll erst die Tochter, dann auch Yasar S. körperlich angegriffen und zudem eine Pistole gezogen haben. Daraufhin, so der Angeklagte, habe er den 41-Jährigen erschossen.

Mit einer Schubkarre habe er den Toten noch in derselben Nacht in die Reithalle geschafft und den Leichnam zunächst nur notdürftig vergraben. Später habe er den Körper wieder ausgebuddelt, weil „ein unangenehmer Geruch“ aufgestiegen sei. Dass er beim anschließenden Zerteilen des Toten auch dessen Geschlechtsteil abtrennte, sei „versehentlich“ passiert. Seine Freundin, beteuert der frühere Bordellaufpasser, sei insgesamt an der Tat nicht beteiligt. Sie soll noch nicht einmal auf dem Gelände gewesen sein, als der Vater ihrer Kinder starb.

Überzeugend wirkt diese Version jedenfalls nicht auf die Staatsanwaltschaft. Sie beantragt lebenslange Freiheitsstrafen wegen Mordes — für beide Angeklagten. Für Yasar S. solle das Gericht darüber hinaus die besondere Schwere der Schuld feststellen, fordert der Ankläger. Das würde eine vorzeitige Entlassung nach fünfzehn Jahren, die bei einem Urteil „lebenslänglich“ unter günstigen Umständen möglich wäre, praktisch ausschließen. Die Verteidigung von Yasar S. plädiert dagegen auf Totschlag für ihren Mandanten, auch weil der mittlerweile 47-Jährige zur Tatzeit unter Drogeneinfluss gestanden habe und deshalb vermindert schuldfähig gewesen sei. Die Anwältin der Frau fordert für ihre Mandantin Freispruch. Eine Mitschuld an der Tötung ihres Lebensgefährten sei der Angeklagten nicht nachzuweisen, argumentiert die Verteidigerin.

Das Gericht verurteilt schließlich beide, Yasar S. und seine Freundin Jessica M., wegen Mordes. Das bedeutet lebenslange Haft. Insbesondere für die zweifache Mutter mag die Entscheidung überraschend gewesen sein. Knapp zwei Monate zuvor war noch der Haftbefehl gegen sie aufgehoben und die Frau aus dem Untersuchungsgefängnis entlassen worden. Jetzt muss sie wieder hinter Gitter. Vor allem aber hat sich durch die Beweisaufnahme die Situation für die ältere Tochter des Opfers erheblich geändert: Nachdem sie über weite Teile der Hauptverhandlung als Nebenklägerin im Prozess gesessen hat, gilt die 16-Jährige mittlerweile als dringend verdächtig, an dem mörderischen Komplott beteiligt gewesen zu sein. Sie muss sich in einem gesonderten Verfahren vor dem Jugendgericht verantworten.

Im Urteil gegen Yasar S. und seine Geliebte sieht das Gericht es als erwiesen an, dass die Angeklagten den Mord an dem Lebensgefährten von Jessica M. gemeinsam geplant haben. Ein entscheidendes Detail der Beweisführung sei der Jugendliche gewesen, der sich der Polizei offenbart und den Fall damit erst ins Rollen gebracht hatte, erklärt die Vorsitzende. Sie lobt die Zivilcourage des Schülers.

Nach Überzeugung der Kammer wurde dem Opfer Miroslav P. die neue Liebesbeziehung seiner Lebensgefährtin zum Verhängnis. Aus der Beweisaufnahme mit allen Zeugenaussagen, mit der Auswertung von Handy-Daten sowie weiterer Indizien fügt sich für das Gericht folgendes Bild zusammen: Die Hausherrin auf dem Resthof ist schon länger mit ihrem Lebensgefährten Miroslav P. unzufrieden gewesen, weil dieser Drogen konsumiert hat und immer mal wieder für Tage ins Hamburger Milieu abgetaucht ist. Außerdem ist der 41-Jährige offenbar zweimal gegenüber seiner Freundin handgreiflich geworden, wobei sie leichte Verletzungen erlitten hat. Darüber hinaus hat es bei dem Paar wiederholt Streit gegeben, wie sich beide ihr zukünftiges Leben vorstellen. Die Mutter geht vollkommen im Landleben auf und will unbedingt in ihrem dörflichen Zuhause bleiben. Miroslav P. dagegen, der den Erwerb des Hofes im Wesentlichen finanziert hatte, hat gedroht, das Anwesen wieder verkaufen zu wollen.

Wegen dieser massiven Differenzen ist die 37-Jährige empfänglich für den Vorschlag ihres Liebhabers Yasar S., ihren lästig gewordenen Lebensgefährten gemeinsam in eine Falle zu locken und zu töten. Ihre ältere Tochter lässt sich offenbar in den Plan einspannen, weil die Jugendliche die Mutter vor etwaigen weiteren Übergriffen durch den Vater schützen wolle, heißt es. Und Yasar S. wiederum ist erpicht darauf, seine Stellung auf dem Hof auszubauen — zum neuen Hausherrn und als offizieller Lebenspartner der Chefin. Deshalb will er Miroslav P. aus dem Weg räumen, endgültig.

Der Familienvater ist vollkommen ahnungslos, als er am Nachmittag des 21. April 2017 in das Kinderzimmer seiner Tochter gerufen wird. Er vermutet nicht, dass jemand in der engen Nische neben dem Schrank versteckt auf ihn wartet, eine Waffe im Anschlag. Der erste Schuss, von hinten in den Kopf, trifft das Opfer gänzlich unvorbereitet. Die zweite Kugel wird unmittelbar danach abgefeuert. Beide Schüsse verursachen tödliche Verletzungen. Noch in der Nacht wird der Leichnam in die Reithalle geschafft und dort vergraben. Damit der Körper möglichst schnell verwest, wird er mit Chemikalien behandelt. Es ist jener Branntkalk, von dem Yasar S. so große Mengen besorgt hatte.

Nachdem die Leiche nun unter der Erde ist, scheint für Yasar S. ein Leben als Gutsbesitzer deutlich näher gerückt zu sein. An seine Mutter schickt er Videos, in denen er mit „unser Hof“ und „unsere Tiere“ prahlt. Im Ort allerdings wollen Jessica M. und ihr Mitbewohner ihre Liaison weiterhin geheim halten. Er nennt sie Bekannten gegenüber „Chefin“, sie spricht von ihrem „Untermieter“. Vor allem die Frau scheint noch lange nach dem „Verschwinden“ des Vaters ihrer Töchter abgeneigt, das Verhältnis publik zu machen. Zwar sei die 37-Jährige ihres Lebensgefährten „überdrüssig“ gewesen, so das Gericht. Sie habe ihn loswerden wollen. Allerdings habe sie in ihrem neuen Liebhaber Yasar S. lediglich „eher eine körperliche Affäre“ gesehen. Ihr neuer Partner habe indes die Rolle des Lebensgefährten übernehmen wollen. „Er wollte quasi in die Existenz des Opfers schlüpfen“, sagt die Richterin.

Vermisst, verschwunden — und irgendwann auch vergessen? Die Rechnung von Yasar S., die Existenz eines lästig gewordenen Menschen auszulöschen, ist nicht aufgegangen. Es braucht mehr als ein paar Chemikalien, ein relativ cleveres Versteck für die Leiche und eine zu allem bereite Komplizin, um mit einem Mord durchzukommen. Das ist eine der Wahrheiten, die dieses Verbrechen zeigt.

Eine andere ist: Dunkle Geheimnisse gibt es auch in einer scheinbaren Idylle. Das Böse — es kann überall lauern.

Leichenteile im Beton

Bei der Suche nach einer vermissten Person beziehungsweise nach Leichenteilen kommt es gelegentlich vor, dass Wände, zugemauerte Bereiche, ein Fundament oder Zementblöcke untersucht werden müssen. Sofern es sich um räumlich begrenzte Strukturen handelt, steht hierfür eine besondere Technik zur Verfügung.

Bei dem ScanVan 8585 handelt es sich um ein mobiles Röntgenprüfsystem auf einem selbst angetriebenen Fahrzeug mit spezieller Innenausstattung. Darin integriert befindet sich das Röntgenprüfsystem HI-SCAN 8585. Ein leistungsstarker Förderer mit Motorantrieb auf der Eingangsseite und ein hochbelastbares Rollenband auf der Ausgangsseite gewährleisten, dass sich die zu prüfenden Objekte schnell und einfach be- und entladen lassen. Mit dem System können Gegenstände mit einer Maximalgröße von 850 x 850 Millimeter und einem Gesamtgewicht von 250 Kilogramm durchleuchtet werden. Das Röntgengerät arbeitet mit 160 Kilowatt. Der Röntgenstrahl ist in der Lage, bis zu 31 Millimeter Stahl zu durchdringen. Derartige Geräte werden beispielsweise für Security Screenings im Arbeitsbereich von Polizei und Zoll verwendet.

Das Gerät misst die Dichte der Objekte, wobei keine Stofferkennung stattfindet. Je nach Dichte werden die Objekte in unterschiedlichen Farben dargestellt, die Rückschlüsse auf das Material zulassen (organische Objekte = orange; anorganische Objekte, zum Beispiel Metalle = blau; Kunststoffe, Knochen, Elfenbein, Glas, Keramik, Lacke, Salze — wie zum Beispiel Pyrotechnik — oder Heroin = grün). Je größer die Dichte eines Objekts, desto intensiver und dunkler die Farbe.

In dem Fall Yasar S. konnten in allen Zementblöcken mittels des Systems röntgendichte Strukturen identifiziert werden. Im zuletzt geborgenen Block ließ sich die Struktur eines menschlichen Schädels erkennen.

Auch dem Hamburger Hauptzollamt steht ein ScanVan 8585 zur Verfügung. Das Fahrzeug wurde in diesem Fall erstmals an einem Fundort außerhalb des Zollgebiets eingesetzt. Das Verfahren hat sich als außerordentlich wertvoll erwiesen, es kommt bei ähnlichen Fragestellungen immer wieder zum Einsatz. Man kann mit dieser Technik eine Reihe von Objekten gut durchleuchten, etwa Fässer, Kisten, Koffer und Ähnliches.

Vermisst

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