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I. Der Junge aus Thagaste

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„Denn als Knabe begann ich Dich zu bitten, Du meine Hilfe und Zuflucht, und ich löste das Band meiner Zunge, als ich Dich anflehte, und ich, der Kleine, bat Dich mit keiner kleinen Inbrunst, ich möge in der Schule keine Schläge mehr bekommen.“

Noch nach 36 Jahren erinnerte sich Augustinus lebhaft daran, wie er 361 als siebenjähriger ABC-Schütze, als abecedarius, von seinem Lehrer Prügel bezogen hatte, weil er zu faul war, die Buchstaben zu üben. Das geschehe ihm ganz recht, musste er sich von den Eltern und anderen Erwachsenen anhören. In seiner Verzweiflung wandte er sich zum ersten Mal in seinem Leben von sich aus an Gott. Aber: „Welch großes, schweres Elend!“ Gott blieb stumm und half ihm nicht. Der Siebenjährige, geboren am 13. November 354 im nordafricanischen Städtchen Thagaste, machte im Jahr 361 eine Urerfahrung: Gott schweigt. Die Erfahrung verließ ihn länger als ein Vierteljahrhundert nicht – bis zu jenem Tag im Jahr 386, an dem ihn endlich Gott, der vor dem Kind Augustinus stumm geblieben war, durch den Mund eines unbekannten Kindes aufforderte: „Nimm und lies“, und er die Bibel aufschlug.1

Im ersten Buch seiner „Bekenntnisse“, der Confessiones, berichtete Augustinus das Erlebnis.2 Wir haben keinen Grund, die Erinnerung des Schulanfängers in seiner nordafricanischen Heimatstadt Thagaste zu bezweifeln, auch wenn man sich immer wieder gefragt hat, wieweit man das Buch als zuverlässige Autobiographie verwerten kann.3

Der Vater Patricius und die Mutter Monnica mussten nur lachen, sooft sie an ihrem Sohn Striemen entdeckten, die die Rute des Lehrers hinterlassen hatte. Ihr Gelächter schmerzte Augustinus mehr, als wenn sie ihn zusätzlich für seine Faulheit bestraft hätten. Doch sie dachten an ihre eigene Jugend. Auch sie hatten es handgreiflich zu spüren bekommen, sooft sie ihre Hausaufgaben nicht gemacht hatten. Prügel vom Primarlehrer, dem primus magister, der den Kindern die Buchstaben und Zahlen, die litterae, beibrachte und sie lesen und schreiben, addieren und subtrahieren lehrte, gehörten für jeden Schüler im weiten Imperium Romanum zum Schulalltag. Vielleicht wäre Augustinus von seinem verstorbenen Großvater nicht ausgelacht worden, von dem er sich ein anderes Bild als von seinem Vater machte. Großväter pflegen ja für ihre kleinen Enkel mehr Verständnis aufzubringen als Väter für ihre Söhne.4

Jahre später kam Augstinus in einer seiner Predigten auf die Beschwernisse des menschlichen Lebens zu sprechen und führte als Beispiele die Leiden der Kranken an, die Härten des Soldatenberufs, die Gefahren des Seefahrers und die Anstrengungen des Jägers. Nur der eine oder andere seiner Zuhörer fühlte sich jeweils angesprochen. Aber allen sprach der Prediger aus der Seele, als er zum erbarmenswerten Schülerleben überging, das er bewusst als Höhepunkt an den Schluss stellte: „Welchen Qualen fast alltäglicher Prügel werden Knaben im zarten Alter unterworfen! Von welchen Mühen nächtlicher Arbeit und Entbehrung werden sie in den Schulen heimgesucht …!“5 Das Trauma saß so tief, dass sich der etwa Siebzigjährige im „Gottesstaat“ zu der Behauptung verstieg, ein Erwachsener, vor die Wahl gestellt, würde lieber sterben, als noch einmal das Kind zu sein, das mit Strafen zum Lernen gezwungen wird.6 Solche Erfahrungen hatten ihren Weg bis in die Dichtung der Klassiker gefunden: Horaz setzte seinem „schlagkräftigen“ Elementarlehrer Orbilius aus seiner süditalischen Heimatstadt Venusia ein Denkmal; Juvenal, aus Aquinum im südlichen Latium stammend, bekannte, er habe „die Hand vor dem Stock des Lehrers zurückgezogen“, was zur Metapher für „Schulbesuch“ wurde; und Martial, der im spanischen Bilbilis zur Schule ging, empfahl einem Schulmeister, während der Sommerferien, von Juli bis Mitte Oktober, „die widerwärtigen Ruten, die Zepter der Pädagogen, ruhen zu lassen“.7

Es wäre also ganz ungewöhnlich gewesen, wenn der Primarlehrer von Thagaste sein „Zepter“ nicht geschwungen, sondern sich stattdessen neumodischer Pädagogik bedient und das Söhnchen des Patricius mit sanften Worten zu größerem Fleiß ermuntert hätte. Vielleicht war er wie Horazens Orbilius ein ausgemusterter Soldat, der in seiner Heimatstadt eine Grundschule eröffnet hatte, um sein Entlassungsgeld aufzubessern. Wenn das Pfeifen der Rute sich mit dem Jammern des Sünders mischte, entschädigte der kurze Machtrausch so manchen Urheber für das geringe Ansehen und den mageren Lohn seines Berufsstandes. Kaiser Diokletian hatte in seinem Höchstpreisedikt vom Jahr 301 als monatliche Obergrenze für Elementarlehrer 50 Denare pro Schüler festgesetzt.8 Der Satz wurde gewiss oft unterschritten und lag dann bei einem Betrag, den ein Taglöhner verdiente. Für das Schulgeld mussten die Eltern aufkommen. Patricius und Monnica werden ihren Sohn auch deswegen ausgelacht haben, weil der prügelnde Lehrer ihnen bewies, dass er sein Geld wert war. Vielleicht wurde Augustinus’ Widerstand von Altersgenossen genährt, die es in seinen Augen besser hatten, weil ihre Eltern das Schulgeld sparen wollten oder nicht aufbringen konnten und ihre Kinder daher nicht zum Unterricht schickten.

Patricius, der unter Thagastes landbesitzender Oberschicht, den honestiores, zu den weniger Begüterten gehörte, hätte missbilligend den Kopf geschüttelt, wären ihm der Vorwurf seines Sohnes über das erste Schuljahr und die angeblichen Absichten seiner Eltern zu Ohren gekommen: „Denn sie hatten nichts anderes im Blick, womit ich ihnen vergelten sollte, dass sie mich zum Lernen zwangen, als die Befriedigung der unersättlichen Begierden nach reichem Besitz und erbärmlichem Ruhm.“9 Der hier so abschätzig von den Erwartungen seiner Eltern sprach, war seit zwei Jahren, seit 395, Bischof von Hippo Regius, der 70 Kilometer von Thagaste entfernten „königlichen“ Hafenstadt. Wenn er in seinen Predigten den schnöden Mammon und den weltlichen Ehrgeiz verteufelte, nickten seine frommen Zuhörer beifällig. Doch tat Patricius, „der ziemlich einfache Bürger von Thagaste“ nicht das, was viele Väter taten? Er träumte davon, sein Sohn werde später den bescheidenen Wohlstand und damit das Ansehen der Familie mehren, in die Führungsgruppe der ratsfähigen Familien, der decuriones oder curiales, aufsteigen und vielleicht sogar einmal zu einem der beiden Bürgermeister, der duumviri, gewählt werden. Denn Thagaste hatte den Rang eines municipium und besaß daher innerstädtische Selbstverwaltung. Auch ein angesehenes heidnisches Priestertum konnte sich Patricius, der noch kein Christ war, für seinen Sohn vorstellen. Sich nach einem Studium der Rhetorik als tüchtiger Advokat in der Heimat niederzulassen war für einen jungen Mann, der kein reiches Erbe zu erwarten hatte, ein Weg, um Karriere zu machen und vielleicht sogar in die höhere kaiserliche Verwaltung überzuwechseln.10 Der Weg begann nun einmal damit, dass er mit sechs oder sieben Jahren das ABC lernte.

Vater und Mutter malten sich für ihren Sohn noch einen zweiten Weg aus: die Einheirat in eine der führenden Familien der Stadt. Zwar gab es in den sechs römischen Provinzen Nordafricas auch angesehene Bischöfe. Aber der Aufstieg in die kirchliche Hierarchie etwa der Provinz Africa proconsularis, zu der das Städtchen Thagaste gehörte, lag noch außerhalb ihrer Zukunftspläne.11 Zwar hatte Monnica als gute Christin dem Neugeborenen das Kreuzzeichen auf die Stirn gemacht und die Stelle mit Salz bestreut. Doch selbst mit der Taufe ihres Lieblings hatte sie es nicht mehr eilig, als er eines Tages heftige Magenkrämpfe bekam, in Todesangst nach der Taufe verlangte, aber noch vor dem Empfang des Sakraments wieder gesund wurde.12 Nicht schaden konnte es allerdings, wenn seine Mutter in ihre Gebete die Bitte einfließen ließ, Gott möge dem Sohn auf seinem Pfad zu Reichtum und Ehre behilflich sein. Dachte Augustinus auch an seine Eltern, als er später in seinem Psalmenkommentar tadelte: „Denn viele erhoffen sich von Gott Geld, viele erhoffen sich von Gott flüchtige und vergängliche Ehren.“?13 Immerhin sei ihm sein christlicher Glaube schon in früher Jugend von seinen Eltern eingepflanzt worden, bekannte er später und war Gott dankbar, dass dieses Pflänzlein nie völlig verdorrte.14

Allzu streng waren Patricius und Monnica mit ihrem Sohn allerdings nicht. Sie drückten ein Auge zu, wenn er mit seinen Altersgenossen Ball spielte, darüber die Zeit vergaß und anschließend keinen Kopf mehr fürs Lernen hatte. Die Folgen bekam er erst am nächsten Morgen in der Schule zu spüren. Hätte ihn jemand beim Spiel beobachtet, so wäre ihm ein Charakterzug aufgefallen: Augustinus wollte unbedingt gewinnen. Unterlag er einmal einem Mitspieler, so wurde er „von Galle und Eifersucht gequält“. Alle schmutzigen Tricks waren ihm recht, um die anderen auszustechen.15 Ertappte er dagegen einen Mitspieler beim Schummeln, so fing er lauthals an zu schimpfen, tobte jedoch vor Wut, wenn er selbst erwischt wurde.16 Ein Mensch mochte später lernen, mit Niederlagen vernünftig umzugehen. Doch schwerlich trieb ihm der Ernst des Lebens je völlig den Ehrgeiz aus, den er schon so früh auf dem Sportplatz gezeigt hatte. Mit dem Ehrgeiz verschwistert war eine andere Anlage: Augustinus brannte darauf, der Anführer seiner Kameraden zu sein. Um ihre Anerkennung zu gewinnen, scheute er sich nicht, sie mit Leckereien zu ködern, die er aus der Speisekammer seiner Mutter gestohlen hatte.17

Wem Gott und die Eltern diesen unbedingten Willen, immer der Erste zu sein, in die Wiege gelegt hatten, der erklomm als Erwachsener entweder die Spitze der kaiserlichen Verwaltung oder er baute ein großes Unternehmen auf; er wurde je nach Umständen ein gefürchteter Räuberhauptmann oder der tatkräftige Bischof einer Diözese. Nur Einsiedler wurde er nicht, mochte diese Lebensform damals auch viele Anhänger finden. Denn in der Einsiedelei hätte ihm das Publikum gefehlt, das seine Führung anerkannt und ihn durch seine Anerkennung befriedigt hätte.

Nach vier Jahren hatte Augustinus die langweilige Elementarschule überstanden und trat in die grammatica schola über, wo der Lehrer Texte sprachlich erklärte, sie auswendig lernen ließ und auf Betonung und Aussprache achtete. Schon vorher war aufgefallen, dass der Sohn des Patricius ein ausgezeichnetes Gedächtnis hatte, wohl eher ein Erbe seiner Mutter als seines Vaters.18 Das kam ihm jetzt zugute, und mit einem Mal platzte der Knoten: Augustinus entdeckte seine Liebe zur lateinischen Muttersprache, eine weitere Eigenschaft, die fortan sein Leben mitbestimmen würde. Während er jedoch dem Lateinlehrer Freude bereitete und „als vielversprechender Junge“ gelobt wurde, verbarg er dem Griechischlehrer nicht seine Abneigung gegen dessen Fach. Die Muttersprache hatte er eben gelernt „ohne irgendwelche Furcht und Plage dank der Schmeichelworte der Ammen und der Scherze derer, die ihn anlachten und fröhlich mit ihm spielten“.19

Der griechische Medizinschriftsteller Soranos hatte römischen Müttern einst bei der Auswahl der Ammen geraten, zum Besten ihrer Kinder nur solche Mütter zu nehmen, die gesund, reinlich und klug seien, und vor allem: Griechinnen sollten sie sein, damit sie ihren Ziehkindern mit der Milch Griechisch, die schönste Sprache der Welt, vermittelten.20 Griechische Ammen gab es in Thagaste leider nicht. In der Schule machte Augustinus daher zum ersten Mal Bekanntschaft mit der fremden Sprache, und er hätte sich anstrengen müssen, sie besser kennen zu lernen. Da blieb er, allen tadelnden Worten und Strafen zum Trotz, lieber der alte Faulpelz: „Offensichtlich überzog die Schwierigkeit – die Schwierigkeit, eine fremde Sprache von Grund auf zu lernen – allen griechischen Charme der Sagengeschichten gleichsam mit Galle.“ Und er räsonierte beim Vergleich der beiden Sprachen: „Daran wird zur Genüge deutlich, dass ungezwungenes Interesse größere Triebkraft birgt, diese Dinge zu lernen, als furchteinflößender Zwang.“21 War es daher wirklich Faulheit, wenn Augustinus in den ersten Schuljahren jeglichen Fleiß vermissen ließ? Stand dahinter nicht vielmehr der angeborene Wille, sich äußerem Zwang nicht zu beugen?

Nicht Homer, sondern Vergil wurde des Grammatikschülers Lieblingsdichter, „der große, berühmteste und beste aller Poeten“. Seine Aeneis war im lateinischsprachigen Westen des Römischen Reiches der klassische Unterrichtsstoff. Begeistert memorierte Augustinus die Irrfahrten des Aeneas, des trojanischen Stammvaters der Römer, in den ersten drei Büchern des Epos, und er brach in Tränen aus, als die verliebte karthagische Königin Dido im vierten Buch von dem fremden Helden schnöde verlassen wurde und Selbstmord beging. Gelegentlich fragte sich der Vergilfreund, ob all das wahr sei, was der Dichter in klangvollen Hexametern schilderte. Aber die Frage beeinträchtigte seine Leselust nicht. Der Mitschüler Simplicius übertraf mit seiner Vergilbegeisterung noch seinen Jugendfreund Augustinus: Er konnte auf Verlangen jeden Vers aus der Aeneis zitieren und Szenen nicht nur vorwärts, sondern auch rückwärts deklamieren.22

Vorschriften, wie lange man die einzelnen Schulstufen zu besuchen hatte, gab es keine. Wenn einem der Grammatiklehrer nichts mehr beibringen konnte, trat man in die nächsthöhere Stufe über. Ehrgeizige Grammatiklehrer vermittelten gern schon die Anfangsgründe der Rhetorik, der sich die dritte und letzte Unterrichtsstufe widmete. Augustinus’ Grammatiklehrer hatte diesen Ehrgeiz.23 Er wollte damit zugleich zeigen, dass er zurecht das Gehalt verdiente, das ihm die Stadt Thagaste zusätzlich zum Schulgeld der Eltern zahlte. Als eine Art Abschlussprüfung sollte sein begabtester Schüler Augustinus einen Abschnitt aus Vergils Aeneis in eine Prosarede umsetzen und diese vor den Klassenkameraden und anderen interessierten Zuhörern vortragen. Wichtig waren dabei die rhythmischen Satzschlüsse, die sogenannten Klauseln. Unklassische Wörter waren ebenso zu meiden wie Eigenheiten des Dialekts. Wenn der Redner, wie auf der Straße üblich, das anlautende h in homo verschluckte und vom Menschen als omo sprach, gab es schallendes Gelächter.

Der Lehrer wählte für Augustinus’ Rede Junos Selbstgespräch im ersten Buch der Aeneis:24 Die Gattin des Juppiter war empört, dass das Schicksal stärker als sie war. Es verweigerte ihr, Aeneas von Italien fernzuhalten und Stammvater eines mächtigen Volkes zu werden, dem einst Junos geliebtes Karthago zum Opfer fallen werde. Aufgeregt machte sich Augustinus an die Vorbereitung und wurde jedes Mal eifersüchtig, wenn einer seiner Konkurrenten in der Klasse all die Fehler vermied, die ihm unterlaufen waren. Seine Mühe lohnte sich. Er gehörte zu denen, deren Vortrag bei den Mitschülern den größten Beifall fand. Mit dem Aufbau der Rede überzeugte er ebenso wie mit der Durchführung des Themas, dem eindrucksvollen Bild der zornigen Göttin.

An diesen Erfolg galt es anzuknüpfen, um das natürliche Redetalent des Fünfzehnjährigen weiterzuentwickeln. Doch in dem kleinen Thagaste gab es niemanden, der die hohe Kunst der Beredsamkeit lehrte, „die unbedingt erforderlich war, um Angelegenheiten überzeugend vorzutragen und Argumente zu entwickeln“.25 Daher entschloss sich der Vater, seinen Sohn nach der etwa 30 Kilometer entfernten größeren Stadt Madauros zu schicken, „damit er sich in Grammatik und Rhetorik weiter ausbilde“ und die Fähigkeit erwerbe, „eine möglichst perfekte Rede zu komponieren und durch Sprachfertigkeit zu überzeugen“.26

Der Aufenthalt in Madauros war nicht mehr als ein Zwischenspiel von einigen Monaten im Jahr 369/370, weshalb Augustinus darauf auch nur in einer Nebenbemerkung seiner „Bekenntnisse“ zu sprechen kam.27 Doch es wäre verwunderlich, wenn der Heranwachsende nicht die neue Freiheit genossen hätte. Zum ersten Mal war er der täglichen Aufsicht der Eltern entronnen. Jetzt konnte er auch unbeschwert seiner Leidenschaft für Schauspiele nachgehen, die ihn seit kurzem gepackt hatte. Denn während in Thagaste nur wandernde Schauspieler gelegentliche Aufführungen veranstalteten, grenzte an das Forum im reicheren Madauros ein Theater, das etwa 1200 Zuschauer fasste.28

Liebes- und Ehebruchsgeschichten, die der Komödiendichter Terenz – neben Vergil ein weiterer Schulklassiker – auf die Bühne brachte, erregten den jungen Zuschauer besonders. Es war eben ein Unterschied, ob man von ihnen nur las oder ob sie einem in drastischer Darstellung vorgeführt wurden.29 Schon seit einiger Zeit machte Augustinus die Pubertät zu schaffen, „die Nebel, die aus der sumpfigen Begierde des Fleisches hervorquollen“.30 Seinen Altersgenossen erging es nicht anders. Wenn sie zusammenstanden, beschäftigte sie nur ein Thema: ihre erotischen Abenteuer. Wozu gab es Sklavinnen im elterlichen Haushalt oder in der Nachbarschaft Mädchen aus der Unterschicht oder, sobald man etwas Geld beiseite gelegt hatte, Prostituierte in den stadtbekannten Häusern? Viel Aufschneiderei war dabei, und der größte Aufschneider in der unruhigen Schar war ihr wortgewaltiger Anführer Augustinus. Er musste allen zeigen, dass er auch auf diesem Feld der Beste war. Doch noch sah die Wirklichkeit anders aus: „Und wo nichts war, um mit den Verdorbenen gleichzuziehen, erfand ich Taten, die ich nicht begangen hatte.“31

Das war bereits wieder in Thagaste, nachdem der Vater den Sohn nach Hause gerufen hatte. Die Lehrer in Madauros schienen Patricius nicht die Gewähr zu bieten, karrierefördernden Unterricht zu erteilen. Den würde der Sohn am besten im 250 Kilometer entfernten Karthago erhalten. Die Hauptstadt der Provinz Africa proconsularis war für ihr Bildungsbürgertum und ihre ausgezeichneten Schulen bekannt. Der gelehrte Redner, Philosoph und Schriftsteller Apuleius von Madauros, der in Karthago zur Schule gegangen war und später dort öffentliche Vorträge hielt, hatte um das Jahr 165 die Stadt und ihre Einwohner gerühmt: „Welch größeres und trefflicheres Lob gibt es, als Karthago zu preisen, wo ihr, die gesamte Bürgerschaft, die Gebildetsten seid, bei denen die Knaben die gesamten Wissenschaften lernen, die jungen Leute sie demonstrieren und die Alten sie lehren? Karthago, du verehrungswürdige Lehrerin unserer Provinz, Karthago, Africas himmlische Göttin der Künste, Karthago, du Muse der Togagewandeten!“Auch wenn man bei diesem barocken Finale der Rede, die im Stil der Zeit gehalten war, nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen durfte – Apuleius hatte nicht ganz Unrecht. Noch Augustinus’ älterer Zeitgenosse Ausonius, seit 365 Erzieher des Kaisersohns Gratian in Trier, stellte eine Rangfolge der Städte des Römischen Reiches auf und überlegte, ob er nach der alten Hauptstadt Rom den zweiten Platz an Konstantinopel vergeben sollte oder an Karthago, dessen Reichtum er hervorhob. Als langjähriger Lehrer der Rhetorik wusste er, dass reiche Städte für angemessene Schulen und gutbezahlte Lehrer sorgten, und vielleicht deswegen nannte er Karthago in einer Rede an Gratian „die Hervorragende“.32 Entsprechend hoch war das Schulgeld. Dazu kamen die höheren Lebenshaltungskosten in der Großstadt, zumal wenn man deren kulturelle Angebote nutzen wollte. Patricius sah sich nicht in der Lage, sofort das nötige Geld aufzubringen. Es galt, einige Zeit lang zu sparen. Augustinus rechnete die Anstrengung dem Vater hoch an, den auch seine Bekannten für das lobten, was er für das Studium seines Sohnes tat. Gab es doch in Thagaste genügend reichere Bürger, denen die Ausbildung ihrer Söhne nicht so viel wert war.33


Augustinus lernt die Freien Künste.

Augustinus hatte zwei Vettern, Lartidianus und Rusticus. Sie hatten gesunden Menschenverstand, wie er ihnen später bescheinigte, hätten also das Zeug für höhere Bildung gehabt. Aber ihre Eltern wollten sich nicht für sie krumm legen, sodass sie nicht einmal den Grammatikunterricht besuchten.34 Auch für Augustinus’ Bruder Navigius reichte dazu das Geld nicht. Doch der Begabteste der Familie sollte unbedingt studieren. Dass Patricius’ drittes Kind, eine Tochter, nur die Elementarschule besuchte, war üblich. War das der Grund, warum der Bruder nie ihren Namen erwähnte?35

Das Sparprogramm der Familie bescherte Augustinus einige Ferienmonate. „Jeden Unterrichts ledig“ begleitete er den Vater gelegentlich in das öffentliche Bad, wo Patricius entzückt die Mannbarkeit des Sechzehnjährigen feststellte und sich schon als stolzen Großvater sah. Heimgekehrt verkündete er die Aussicht seiner Frau, die ebenfalls schon von Enkeln geträumt hatte. Aber Mutter Monnica machte sich auch Sorgen, ob eine frühe Ehe nicht zum Hindernis für das Studium ihres Sohnes werden würde, an dem ihr nicht weniger als ihrem Mann gelegen war.36 Andererseits würden sich des Sohnes „altersgemäße Fluten am ehelichen Ufer brechen“, und sie müsste ihn nicht länger warnen, sich ja nicht mit verheirateten Frauen einzulassen. Inzwischen schien sich nämlich der junge Mann nicht mehr länger nur mit verbaler Erotik zu begnügen, wie er sacht andeutete, als er von den „flüchtigen Genüssen immer neuer Erlebnisse“ sprach.37 „Die Meinen kümmerten sich darum nicht“, lautete sein späterer Vorwurf. Sonst hätte der Sohn dem Vater vielleicht vorgehalten, dass der es, obwohl seit kurzem Katechumene, mit der ehelichen Treue auch nicht so genau nahm, wie ein Taufanwärter es eigentlich sollte.38

In Städten und Dörfern erwachte morgens das Leben mit dem ersten Hahnenschrei. Er zwang selbst Grundschüler aus dem Bett. Augustinus hatte es zur Genüge erfahren. Jetzt genoss er die Freiheit, dass ihn niemand und nichts dazu zwang, seinen Morgenschlaf zu unterbrechen. Dafür machte er die Nacht zum Tag. Mit anderen jugendlichen Müßiggängern tobte er sich bis spätabends auf dem Sportplatz aus. Auch danach gingen sie noch lang nicht nach Haus. Lieber zogen sie durch Thagastes („Babylons“) nächtliche Gassen und beratschlagten, wie sie schlafende Bürger ärgern konnten. Einer dieser Streifzüge führte sie an einem Garten vorbei, in dem ein Birnbaum mit herrlichen reifen Früchten stand. Die Horde folgte begeistert dem Vorschlag ihres Anführers Augustinus und schüttelte den Baum leer. Er hatte so voll gehangen, dass sie nur einen kleinen Teil ihrer Beute essen konnten. Die übrigen Birnen sammelten sie und warfen sie den Schweinen vor. Dem Anstifter schlug nachträglich doch ein wenig das Gewissen. Aber mit sechzehn Jahren verdrängt man solche Regungen rasch. Ein Vierteljahrhundert später kam dem Dieb jedoch sein gutes Gedächtnis in die Quere. Als er im zweiten Buch seiner „Bekenntnisse“ auf die Zeit nach Madauros einging, trat ihm die Jugendsünde wieder so deutlich vor Augen, dass ihn bei der Niederschrift tiefe Scham vor sich selbst und vor seinem Gott erfüllte. Da er sich bei dem Besitzer des Birnbaums nicht mehr entschuldigen konnte, wollte er wenigsten Gott, der ihn schweigend beobachtet hatte, geistige Wiedergutmachung leisten, und er fügte eine tiefgründige Erörterung über das Böse in dessen Geschöpfen an: Was war der eigentliche Grund des Diebstahls, einer Sünde um der Sünde willen? Denn von Mundraub konnte man wahrhaftig nicht sprechen. Auch hätte der Jugendliche die Birnen nie gestohlen, wären seine Kameraden nicht dabei gewesen. Freundschaft erschien plötzlich als die „unauslotbare Verführung des Geistes“. Alle Menschen hatten offensichtlich diese Urveranlagung zum Bösen. Von hier war es nur noch ein kleiner Schritt zur Erbsünde, die Augustinus aber jetzt noch nicht benannte.39

Augustinus

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