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IM Susi

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„Niemandem habe ich persönlich geschadet! Keinem! Das dürfen Sie mir glauben. Leute anzuschwärzen war nie mein Ding. Das hätte ich nicht übers Herz gebracht. Lieber setzte ich mich selbst in die Nesseln! Das ist die Wahrheit. Sichten Sie die Akte. Sollte einer meiner Berichte falsch ausgelegt worden sein, es täte mir leid.“

Susanne Leuchtenbrink sitzt auf ihrer Couch voller Kissen und Kuschel­tiere in ihrer Plattenbauwohnung, Straße der Pariser Kommune in Berlin Friedrichshain. Die Beine übereinandergeschlagen, den kurzen Rock immer wieder am Saum zum Knie hinziehend, bleibt sie bemüht, der Gesprächspartnerin aufrichtig in die Augen zu schauen. Ihr Blick ist zu starr, um glaubwürdig zu wirken. Frau Doktor Ingeburg Herz-Züblin vom Sigmund-Freud-Institut der Universität Frankfurt am Main sitzt locker im Sessel, die Aktentasche auf dem Schoß, die Arme lässig auf den Lehnen. Derartige Befragungen ehemaliger inoffizieller Mitarbeiter der Staats­sicher­heit sind Teil psychoanalytischer Untersuchungen über menschliche Deformationen in der Diktatur. Die angestrengte Unschuldsbeteuerung, niemandem geschadet zu haben, ist die einleitend übliche Leier. Frau Herz-Züblin weiß, sie darf keinesfalls widersprechen, sie würde sonst nichts hinterfragen können.

Susanne wechselt den Beinüberschlag und zieht weiter an ihrem Rock. Warum kleidet sie sich in keinen längeren?, denkt das Weibchen in Frau Herz-Züblin. Will sie mir oder sich selbst weismachen, sie sei im Leben zu kurz gekommen? Doch die Wissenschaftlerin zwingt sich zur Sachlichkeit.

„Darf ich?“ Sie entnimmt der Aktentasche ein kleines Tonbandgerät, legt es auf die Glasplatte des Couchtisches.

„Wie telefonisch abgemacht, keine Klarnamen, keine Anschrift, kein Foto, ich muss darum bitten.“ Susanne wirkt verunsichert.

„Sie können sich auf mich verlassen, Frau Leuchtenbrink. Unsere Forschungsarbeiten sind seriös, diskret, unabhängig und werden von der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes unterstützt. Erst durch meine Befragungen bin ich in die ehemalige DDR gelangt. Mein Fach ist die Psychologie. Mein Interesse rein fachlich. Ich danke Ihnen, dass Sie mich in Ihrer Wohnung empfangen. Hübsch haben Sie es hier.“

Susanne errötet, bleibt aber misstrauisch. Die Wohnung mit Fahrstuhl und Müllschlucker hatte ihr Führungsoffizier vermittelt, nachdem sich ihr Mann hatte scheiden lassen. Sie grübelt, ob sie das nicht erwähnen müsste, unterlässt es aber lieber. Was immer sie getan hat, es geschah aus der inneren Überzeugung beizutragen, die Verhältnisse für alle bessern zu helfen und nicht um kleinlichen Vorteils willen. Daran glaubt sie mit den Jahren immer fester.

Frau Herz-Züblin überlegt, was IM Susi vortäuschen möchte. Aus der Akte kennt sie deren Begünstigung bei der Wohnungsvergabe durchaus. Sie wird, bemüht um Vertrauen, ihre Vorkenntnis IM Susi nicht spüren lassen. Sie möchte das Tonbandgerät einschalten.

„Moment, Frau Doktor, ich mache uns fix Kaffee.“

„Vielen herzlichen Dank.“ Frau Herz-Züblin wägt ab, wie sie sich IM Susi nähern sollte: streng methodisch, wissenschaftlich fundiert, den Psychotest zuvorderst oder von Frau zu Frau, einfühlsam, gewissermaßen als tröstende Freundin? Die Tasse Kaffee kann helfen, den Zugang zu finden. Am besten, die Probandin nicht unterbrechen, vielleicht käme sie so am ehesten aus sich heraus.

Susanne ist aufgestanden, schiebt den Couchtisch ein wenig zur Seite, stöckelt auf dem Teppichboden zur Küche nebenan. Sie ist rundum eine gepflegte Erscheinung, indes die Absätze zu hoch, der Rock zu kurz, der Ausschnitt zu tief, das Haar zu bleich, der Nagellack zu grell. Ihr aufrechter Gang wirkt dressiert wie bei einem Mannequin. Trotzdem, nicht unsympathisch, befindet Frau Herz-Züblin.

Ein Glaskasten mit Schiebefenster trennt die Küche vom Wohnzimmer. Durch Vasen und Gläser gebrochen, sieht sie IM Susi hantieren. Über der Couch hängen van Goghs Brücke in Arles, daneben die Absinthtrinkerin Picassos und Rembrandts Selbstporträt mit Saskia, mittelmäßige Farbdrucke in barocken Rahmen aus Gips gegossen. Gegenüber die Schrankwand aus beschichteten Spanholzplatten bis zur Decke reichend, über Eck gestellt, in Nussbaum poliert, mit eingebautem Plattenspieler, Farbfernseher und zwei Glasteilen, aus denen böhmische Kristallgläser bunt glitzern. Der Kaffee ist schnell gekocht. Das Geschirr steht auf einem Tablett schon parat, dunkelbraune Keramik aus Bulgarien, blumig gemustert, vor Jahren mitgebracht vom Urlaub am Schwarzen Meer. Dazu ein Teller mit frischem Käsekuchen. Susanne gießt den Kaffee in die Tassen, reicht lächelnd Zucker und Sahne. Frau Herz-Züblin bedankt sich wortreich für die freundliche Bewirtung, schaltet das Aufnahmegerät ein.

„Wie gesagt, niemandem habe ich geschadet. Reinen Herzens kann ich das sagen. Wenn überhaupt einer zu Schaden kam, vornehmlich ich selbst. Den Kuchen habe ich extra für Sie gebacken.“ Susanne bedient Frau Doktor, setzt sich, nimmt auf ihren Schoß einen weißen Plüschhasen, den sie nebenher streichelt.

Die Frauen rühren Zucker in den Kaffee. Susanne, auf Fangfragen gefasst, hat gestern sämtliche Unterlagen, die sie aufbewahrt, nochmals gelesen. Die Doktorsche scheint komplett nett zu sein. Susanne hatte befürchtet, wieder ins Kreuzverhör genommen zu werden, so wie von dieser Staatsanwältin, die unablässig auf IM Susi einhämmerte. Hingegen Frau Doktor agiert völlig anders. Fast überkommt Susanne das Gefühl, sich mit einer alten Freundin, die sie lange nicht mehr gesehen hat, über alles von damals richtig ausquatschen zu können. Aber Vorsicht, es könnte die Masche dieses Institutes sein. Vor solchen Verhaltensweisen war sie in den Reise­kader­schulungen immer wieder gewarnt worden. Hatte sie sich irgendwas vorzuwerfen? Schließlich war das Verfahren der Stadt Berlin vor der Strafkammer des Landes Berlin gegen Susanne Leuchtenbrink kurzerhand eingestellt worden. Sie ist und war keine Verbrecherin! Peinlich sind ihr die Verhöre heute noch. Nahezu beschämend, wie eine Kriminelle ausgestoßen und behandelt worden zu sein. Mit sofortiger Wirkung den Arbeitsplatz zu verlieren. Fehlten nur die Handschellen und die U-Haft in der Einzelzelle bei Wasser und Brot. Diese Grusel­geschichten, die ständig über die Haftbedingungen im Gewahrsam der Staatssicherheit kursieren, kann sie nicht wahrhaben, will sie nicht glauben. Isolationsfolter, Stockschläge auf Kopf, Nacken und Gesäß, Scheinhin­richtungen, Wasser­entzug, Psychoterror: das sind doch Gestapomethoden. Sie kannte nur gebildete Menschen, gepflegtes Äußeres, interessierte Gesprächspartner, die pflichtbewusst ihrer Arbeit nachkamen, tadellose Manieren hatten und solcher Missetaten keinesfalls fähig gewesen sein können. So war das und damit basta!

„Das überrascht mich aber“, unterbricht Frau Herz-Züblin das Schweigen.

„Bestimmt, ich backe gern“, bekennt Susanne kauend und möchte Frau Doktor ein weiteres Stück Käsekuchen aufnötigen.

„Ich meine in Bezug auf: Sie hätten sich zuvorderst selbst geschadet, wie Sie sagen!“

„Es ist aber so“, bekräftigt Susanne, den Hasen liebevoll streichelnd.

„Wieso glauben Sie, sich zuvorderst selbst geschadet zu haben?“

„Meine Ehe ist auseinandergegangen. Mein Mann dachte, ich ginge fortwährend fremd. Mein Führungsoffizier war Raucher. Das hat er gerochen. Ich durfte ihm ja nichts darüber sagen, mit wem ich mich wo und warum traf.“ Nach einigem Zögern: „Ich gebe zu, ich war nicht abgeneigt, hatte es darauf ankommen lassen.“

„Worauf ankommen lassen?“

„Meinen Führungsoffizier zu verführen.“ Susanne errötet, als wäre sie ertappt worden.

„Oh und wieso?“ Da wird Frau Herz-Züblin richtig neugierig.

„Sie stellen Fragen. Er war mein Typ, sehr höflich, einfühlsam, gebildet, stets korrekt gekleidet, aber nicht unmodern, äußerst gepflegte Hände. Ich schaue bei Männern immer zuerst auf die Nase und auf die Hände, die zeigen mir ihren wahren Charakter. Danach kam er immer zu zweit, vorsichtshalber. Ich war ihm bestimmt nicht gleichgültig. Wäre er sonst zu zweit gekommen? Schade, wenn ich ihn heute träfe, unter den veränderten Umständen, ich würde – na ja, ich denke oft über ihn nach. Bestimmt ist er verheiratet, hat mehrere Kinder. Einer von der treuen Sorte, die so begehrt sind. Kein Funktionsmuster einer Nullserie. Selten genug. Er hat nie über sich gesprochen, und trotzdem: er mochte mich. Das spürt eine Frau.“

„Ihr Deckname war Susi, klang das nicht verräterisch?“

Susanne bricht in hysterisch übersteigertes Gekicher aus. „Aber Frau Doktor, was heißt Deckname?“, prustet sie glucksend heraus. „Das waren doch keine Karnickelzüchter!“

Frau Herz-Züblin nimmt einen Schluck Kaffee, gibt IM Susi die Zeit, sich zu beruhigen. Ziemlich albern und wenig witzig findet sie ihr Gehabe. „Ich meine, Ihr Rufname war doch bestimmt auch Susi?“

„Auf Susi habe ich bestanden. Entschuldigen Sie. Wissen Sie“, erläutert Susanne wehmütig, „Susi durfte mich bloß meine Oma nennen. Alle anderen, auch meine Freundinnen nannten mich Su, einfach Su!“

„So, Su? Und Ihre Mutter?“

„Mein Gott, meine Mutter“, seufzt Susanne.

„Wie nannte Ihre Mutter Sie?“

„Fragen Sie, wonach Sie wollen, aber lassen Sie meine Mutter aus dem Spiel! Das Kapitel ist abgeschlossen.“

„Gut, Ihr Kaffee ist wirklich gut.“

„Ja, kochen konnte sie nicht, aber ihren Kaffee, den rühmten alle!“

„Von welchem Kaffee sprechen wir?“

„Von dem meiner Mutter natürlich.“

Frau Herz-Züblin runzelt die Stirn.

„Ihr Vater?“

„Meinen Vater habe ich außer an den Feiertagen kaum gesehen. Er war ständig auf Achse. Früher war er auch daheim, aber da war ich noch klein.“

„Haben Sie ihn vermisst?“

„Nicht so sehr, wie Sie denken. Nach dem Krieg waren viele Kinder ohne Vater. Ich hatte ja einen. Heute haben viele Väter keine Kinder!“ Sie kichert schon wieder ungehalten. Frau Herz-Züblin bleibt unberührt, obwohl auch sie keine Kinder hat.

„Und Sie, hatten Sie einen Vater?“ IM Susi drückt den Hasen fest an ihre Brust, lauert auf die Antwort.

„Selbstverständlich, aber das tut nichts zur Sache! Was war mit Ihrem Vater?“

„Mein Vater war am Tag des Mauerbaus in Westberlin. In Geschäften, hat meine Mutter gesagt. Immer war er in Geschäften unterwegs. Wir haben nichts mehr von ihm gehört.“

„Sie kennen seine Akte?“

„Ja, er war im Auftrag drüben, ist dort geblieben, hat mir die Staats­anwältin verklickert. Aber wir wussten das damals nicht.“

„Haben Sie es geahnt?“

„Nein. Meine Mutter wusste wahrscheinlich auch nichts. Vielleicht hat sie es vermutet, hat sich aber bis zu ihrem Tod nicht scheiden lassen.“

„Wann hatten sie erstmalig Kontakt zur Staatssicherheit?“

„Während der Leipziger Frühjahrs-Messe. Ich war Mitarbeiterin bei Technocommerz, hatte Außenhandelswirtschaft in Karlshorst studiert. Im Astoria gab es einen Empfang mit westdeutschen Röhrenherstellern. Es ging um Gasleitungen während der Ölkrise. Am anderen Morgen nach dem Frühstück baten drei Herren um ein vertrauliches Gespräch. Ganz normale Fragen: Worüber wurde mit wem gesprochen, was wurde gesagt, was wurde gefragt, wie hat sich ihre Chefin verhalten? Das machte mich stutzig. Meine Chefin war eine Persönlichkeit, ganz dick in der Partei, beherzt, bestimmt nicht kleinlich, trotzdem gründlich und gewissenhaft, blieb keine Antwort schuldig. Ich selbst war bloß im DSF, wie die ganze Brigade damals beim Kampf um den Titel. Sonst gabs keine Prämie, wenn Sie wissen, was ich meine. In die Partei bin ich nie!“

Kikeriki. Frau Herz-Züblin hört den Hahn krähen, lächelt verbindlich und fragt: „Wieso? Hatte das einen Grund?“

„Die Beiträge waren sehr hoch. Da ging rein, wer musste oder ganz nach oben wollte und die Hundertfünfzigprozentigen sowieso. Gebeten hatte mich eh keiner. Mein Vater war ja im Westen. Deshalb musste ich mich verpflichten, jedweden Kontakt mit ihm zu meiden. Formaler Quatsch, wie ich heute weiß. Kontakte mit Personen aus dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet mussten sogleich gemeldet werden. Aber ich hatte in all den Jahren vor der Wende keine meldepflichtigen Beziehungen.“

„Wie ging es weiter?“

„Bereitwillig sagte ich denen, was ich gehört und gesehen hatte. Es war die reine Wahrheit. Geschadet habe ich niemandem. Zum Schluss fragten die Herren, ob ich im Interesse des Außenhandels grundsätzlich zur Zusammenarbeit mit ihnen bereit wäre. Ich sagte: Warum nicht? Hörte wochenlang nichts. Dachte, das sei es gewesen. Doch dann ein kurzer Anruf, ein Treffen im Café Moskau. Da war ich ziemlich gespannt, wer sich da mit mir träfe, nachmittags zum Tanztee! Dann kam Kurt. Getanzt hat er nicht. Das Gespräch war völlig belanglos. Mode, Musik, Literatur, nichts Politisches. Er hat mich sehr gut unterhalten. Aber das war reine Taktik. Kurt sollte mich testen. Wenn er mich direkt gefragt hätte, ich wäre sofort einverstanden gewesen. Schon um mich mit ihm wieder treffen zu können. Alles war abenteuerlich. Nicht so wie in den Agentenfilmen. Viel romantischer. Die Beziehung zu meinem Mann erkaltete zusehends. Die war mir zu langweilig geworden. Es fehlte an Spannung in unserer Beziehung, nichts knisterte mehr. Wir stritten uns ja nicht einmal. Kinder hatten wir auch keine. Ja, so war das. Wenn Sie wüssten, wie es mich überlief, wenn ich Kurt kommen oder sitzen sah. Fast schäme ich mich, es Ihnen zu gestehen. Dabei war er immer sehr sachlich, nie anzüglich, machte auch keine Komplimente, keine Männerwitzchen über Frauen und so.“

„Worum ging es bei den Treffs?“

„Bei der zweiten Begegnung in einer Wohnung in der Leipziger Straße ging es um Außenhandelsgeschäfte, die wir gerade abwickelten. Das schien Kurt äußerst wichtig. Sie wissen ja, allenthalben fehlten Devisen. Die gegnerischen Geheimdienste versuchten, unsere Wissenschaftler abzu­schöpfen oder gleich abzuwerben. Da waren knallharte Profis am Werk. Wir wurden geschult, uns nicht bestechen zu lassen. Dann habe ich meinen ersten Bericht geschrieben, eine Beurteilung meiner Chefin. Daraufhin hätte sie befördert werden müssen, meinte ich. Sie wurde aber versetzt. Vielleicht war es eine Art Beförderung.“

„Sie wissen, dass sie verhaftet worden ist?“

„Aber nicht wegen meines Berichtes! Das weise ich zurück, das konnte die Staatsanwältin nicht beweisen!“

„Und den Leitungsposten, den haben Sie eingenommen?“

„Kommissarisch, ich wollte nicht, aber einer musste ja die Arbeit machen.“

„Waren Sie auf Auslandsreisen?“

„Anfangs kaum, später häufig. Aber nur im sozialistischen Ausland. Vor allem in Budapest. Ich bin gerne nach Budapest gefahren. Am liebsten mit dem Vindobona, Berlin – Wien. Das hatte internationales Flair. Mehr als in den Maschinen der Interflug. Mit der Bahn sollten wir eigentlich nicht reisen, aus Sicherheitsgründen. Aber ich hatte Flugangst und durfte deshalb. Budapest schien mir so leicht und so lebendig. Berlin und Leipzig dagegen: grau, trist und verschlafen. Das können Sie sich nicht vorstellen: Budapest lebte. Vielleicht am ehesten mit Dresden zu vergleichen. München ist wahrscheinlich so ähnlich, aber ich war noch nicht in München. Frankfurt ist mir zu kalt, zu nüchtern. Aber in Italien. Wenn ich das früher geahnt hätte, vor der Mauer. Mein Vater ist immer gereist. Ich weiß gar nicht, wohin überall. Darüber hatte er mit uns nicht gesprochen.“

„Worüber haben Sie mit Ihrem Führungsoffizier gesprochen?“

„Als Reiseleiterin musste ich berichten, schriftlich, sechs Durchschläge, Aufgabenstellung, Ziel der Verhandlung, Ablauf der Verhandlung, Ergebnisse, Schlussfolgerungen, besondere Vorkommnisse mit allem Pipapo. Ich habe aufgeschrieben, was gewesen war, die Wahrheit, nicht mehr und nicht weniger, das müssen Sie mir glauben. Beinahe hätte ich meine Stellung verloren. Werbegeschenke mussten vollzählig aufgelistet und abgegeben werden. Die wurden dann Weihnachten an alle Mitarbeiter verlost. Eine kleine Handtasche, ganz weiches Leder, Ziegenleder, weinrot, silberner Schnappverschluss. Die mochte ich einfach nicht wieder hergeben, verstehen Sie? Da hat mich jemand verpfiffen. Ich hätte etwas gutzumachen, meinte Kurt.“

„Was haben sie gut gemacht?“

IM Susi streichelt sich mit dem Hasen die Wange, nimmt umständlich die Tasse, ihre Hand zittert, trinkt noch einen Schluck Kaffee.

„Ich bin dann zusammengebrochen.“ Sie sammelt die Kuchenkrümel von der Glasplatte.

„Aber warum das?“, fragt Frau Herz-Züblin einfühlsam, sucht Augenkontakt mit IM Susi, die ihr Gesicht förmlich hinter dem Hasen verbirgt.

„Als mein Mann sich dann scheiden ließ, bin ich zusammengebrochen. Was hatte ich in meinem Leben erreicht? Keine Kinder, keine Beziehungen zu meinen Eltern, seine Eltern betrachteten mich immer skeptisch, als hätte ich ihnen den Sohn weggenommen und verdorben, dabei war es eher umgekehrt. Aber was soll ich erzählen? Ich landete in Weißensee in der Klapse. Vierzehn Tage in einer geschlossenen Abteilung bei Chefarzt Doktor Spinner. Langsam habe ich mich wieder hoch gerappelt. Das erste Mal Ausgang in Begleitung einer Alkoholikerin. Sie passte auf mich, ich passte auf sie auf. Wir gingen zum Brunnen der Völkerfreundschaft vorm Warenhaus am Alex. Da traf sich regelmäßig ihre Clique. Alles so abgefahrene Typen mit Rasier­klingen am Hals und Sicherheitsnadeln im Ohr. Für die war ich eine Oma, die nicht einmal Jeans anhatte. Trotzdem waren sie auf ihre Art nett. Sagten nicht viel, sprachen abgehackte Sätze, meistens nur einzelne Wörter, rauchten dauernd, hörten solche Musik und fragten, irgendwie herzlich, nach nichts. Das machte mir Mut. In vier Wochen war ich wieder draußen. Mein Mann beanspruchte die Wohnung und die Möbel, das wäre alles von seinen Eltern, das hätte er schon vor unserer Hochzeit besessen. Ich bekam Geld. Konnte mir die Schrankwand und den Fernseher leisten. Behielt meine Arbeit. Verdiente ja nicht schlecht.“

„Die Staatssicherheit?“

„Ließ auf sich warten. Es war alles so leer um mich, ich hätte jeden Auftrag erfüllt, vielleicht sogar Bomben gelegt oder mich im Hotel hingegeben, wenn Kurt es verlangt hätte. Ich war für Sozialismus und wollte, dass es allen Menschen gut geht, vor allem, dass es keinen Krieg gibt. Aber so allein ohne jemand, das wollte ich nicht. Ich bin dankbar, dass Sie gekommen sind. Es ist furchtbar. Im Haus grüßt keiner. Alles neue Mieter, auch von drüben welche. Von den Nachbarn weiß ich nichts. In einem Dorf wäre es vielleicht noch schlimmer. Ich komme vom Lande. Mit den Fingern würden sie auf mich zeigen. Igitt, die IM da, die gewissenlose Person, was die verbrochen hat! Was habe ich denn verbrochen? Niemandem habe ich geschadet. Schreiben Sie das in Ihren Bericht. Ich bin keine Verräterin, vielleicht eine Verführte, ganz sicher aber eine Verliererin.“ Sie beginnt zu weinen.

„Aber ich bereue nichts!“, sagt sie trotzig, trocknet die Tränen am Plüsch des Hasen. Nimmt von der Untertasse hastig eine kleine grüne Pille und wirft sie sich ein.

„Entschuldigung, mit mir ist kein großer Fisch zu fangen. Ich bin ein kleines Würmchen. Manchmal könnte ich verzweifeln. Auf der anderen Seite, was ich so höre, sehe und lese, wie es heute in der Welt zugeht! Weswegen sollte ich mich schämen?“

Frau Herz-Züblin ist aufgestanden, steckt das Tonbandgerät in die Aktentasche. Darauf möchte sie nicht antworten. Zum zigsten Male die alltägliche Geschichte. Die Täter verharmlosen sich als die eigentlichen Opfer, gebärden sich im Nachhinein entsprechend, zerfließen zusehends in Selbstmitleid. Frau Herz-Züblin wird das Gespräch, wie die vorherigen, im Team auswerten. Für die Wissenschaftlerin rundet sich das Bild: Verräter? Verführte? Es bleibt immer die gleiche Litanei. Dabei ist IM Susi ihr persönlich angenehm, wirkt nett, nahezu harmlos.

Aber zu Hunderttausenden sind sie es eben nicht!

Der Koffer meiner Frau

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